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Dossier Casanova 2

Am Rand des Weges in die Bleikammern stand nicht das Kleinklein, dessen der Leser sich vielleicht aus der Geschichte meines Lebens entsinnt. Schuld war nicht die okkulte Schrift, die zufällig der Spitzel Manuzzi bemerkte. Schuld war ebensowenig mein Spott auf die Theaterstücke Abbe Chiaris. Meine Schmähreden erregten zwar den Unwillen des Staatsinquisitors Condulmer - ihm gehörte ja die Schmiere, wo man Chiaris Stücke spielte - doch schuld war jemand anderer: Mein allerhöchster ungnädiger Herr Stefan von Szemere, gegen dessen erklärten Wunsch ich De Bernis wiedertraf, Frankreichs Gesandten bei der Serenissima. 

Am Anfang meines Weges in die Bleikammern stand das Souper, zu dem ich den Gesandten mit unserer gemeinsamen Freundin MM in mein Haus lud. MM schmeichelte sich, dieses Treffen raffiniert eingefädelt zu haben. De Bernis glaubte fest, er habe seine Mätresse hierzu angestiftet. Tatsächlich jedoch setzen die beiden Ahnungslosen meinen Plan in die Tat um.
„Ich hielt Sie damals für den Botsschaftssekretär“, eröffnete De Bernis mir, als wir bei Austern und Graves von Algarotti über unser erstes Treffen in Paris plauderten. Eigentlich zweifelte ich, ob er mich damals im Haus von Signor Mocenigo überhaupt bemerkt hatte, denn er war so ins Gespräch mit dem preußischen Gesandten Earl-Marschall Keith vertieft, daß er seine Umgebung kaum eines Blickes würdigte. MM spürte mein Amüsement über De Bernis' ungeschickte Notlüge. Da sie nicht ahnte, welch unverzichtbare Rolle er in meinem Plänen einnahm, rechnete sie nun wohl mit einem scharfem Seitenhieb, vor dem sie ihren offiziellen Liebhaber mit einem langen Kuß auf meinen Mund bewahrte.
„Sehen Sie, verehrter Freund“, sagte ich, als MM meine Lippen freigab, „damals wie heute ging es um Preußen und die Veränderung, die sein Aufstreben für das Gleichgewicht Europas bedeutet. Übrigens verrate ich nicht zuviel, wenn ich erwähne, daß wir natürlich auch mit dem britischen Residenten Murray in Verbindung stehen. Er ist zwar nur Gesandter dritten Grades, zeigt sich aber durchaus wohlinformiert über die englisch-peußischen Verhandlungen.“
Aber der Lüstling De Bernis war an diesem Abend gar nicht scharf auf die Umkehrung aller Koalitionen, sondern konzentrierte sich ganz auf sein amouröses Projekt, zu dessen Verwirklichung er sowohl meine, wie auch MMs Zustimmung brauchte.
Da mir nichts anderes übrig blieb, als gute Miene zu seinem Spiel zu machen, kam es, wie es kommen mußte. Ein paar Tage später trafen wir uns überaus sittsam zu viert bei einem Souper, zu dem diesmal MM eingeladen hatte. De Bernis machte kein Hehl aus seiner Verliebtheit in CC, mit der er mich ja schon aus dem Geheimkabinett hinter dem Schrank beobachtet hatte. Er machte ihr die artigsten Komplimente und das liebe Mädchen sonnte sich im Glanz des welterfahrenen, mächtigen Mannes. MM spielte CC geschickt in den Vordergrund. Und ich mußte tun, als bemerke ich nichts.
„Wann führen wir“, fragte ich, als er schon im Aufbruch begriffen war, „unser diplomatisches Thema fort?“
„Das nämlich welches wäre?“ fragte der unverschämte Kerl. „Verzeihen Sie Casanova, es macht mich rasend, die beiden Frauen im selben Raum zu sehen. Das bringt mich um den Verstand. Helfen Sie meinem armen Gedächtnis.“
Hinter uns kicherten MM und CC, um die Weltfremdheit meiner Absichten zu unterstreichen. Jede und jeder hier wollte ein Schäflein ins Trockene bringen. Nur ich stand ganz allein mit meinem Ekel vor diesem unnützen Krieg, den ich kommen sah. Und gegenüber De Bernis konnte ich nicht einmal mit der Autorität des Rates auftrumpfen, weil meine Pläne unserer offiziellen Politik zuwider liefen.
„Wir sprachen von dem naturwidrigen Bündnis, das Frankreich mit Habsburg schließen will“, erklärte ich geduldig.
„Naturwidrig ist es in der Tat“, sagte er, plötzlich ganz sachlich. „Davon abgesehen ist es aber nützlich. Und vor allem alternativlos, wenn England Preußen zu seinem Festlandsdegen macht. Frankreich kann nicht riskieren, ohne kontinentale Verbündete den Kolonialkrieg gegen England fortzusetzen.“
„Frankreich sollte sich jedes Kolonialkriegs enthalten und seinen Staatshaushalt sanieren“, riet ich.
„Meine Rede“, sagte De Bernis. „Womit ich allerdings in Versailles ziemlich allein dastehe. Dort gilt es als schick, die Zukunft jenseits des Ozeans zu suchen, was jemandem aus Ihrer schönen Stadt natürlich ein Greuel sein muß ...“
„Sie mißverstehen mich“, sagte ich. „Ich spreche nicht als Venezianer, der um die Rolle der Serenissima im Weltgefüge fürchtet. Ich weiß genau, daß wir die Kolonialpolitik nicht mehr rückgängig machen können. Aber könnten England und Frankreich das nicht in Übersee untereinander ausfechten, ohne Europa hineinzuziehen?“
„Wie soll das gehen, wenn Frankreich jederzeit um seine Ostgrenze fürchtet?“
„Es ginge, wenn wir Preußen isolierten - nicht um ihm Schlesien wieder abzunehmen, sondern damit es Schlesien ungestört verdaut. Österreich, Sachsen und Rußland könnten sich gemeinsam mit Polen, Venedig, Neapel, mit dem Papst und den Maltesern nach Osten wenden.“
„Also eine Art erweiterter Heiliger Liga“, sinnierte De Bernis, „als Rückversicherung für Frankreich und England, damit wir ungestört unsere Sachen in Übersee ausfechten können - während Preußen isoliert und neutralisiert stillhalten muß?“
Die Mädchen kicherten in einem fort und tauschten Zärtlichkeiten, die unser Blut in Wallung brachten. Einen Augenblick sah es aus, als wolle der Gesandte bleiben, um sich abzukühlen, doch dann vertröstete er mich auf das nächste Vierertreffen. MM stieg zum Gesandten in die Gondel. CC blieb über Nacht bei mir.

Am nächsten Morgen erhielt ich ein Schreiben Stefan von Szemeres, in dem der princeps mir befahl, mich unverzüglich den mir übertragenen Personalangelegenheiten zu widmen und mich gänzlich aus der Arbeit der Strategiepraefectur herauszuhalten. Ich schrieb ihm ebenso barsch, er möge mir neues Geld anweisen, damit ich weiter im Ridotto spielen könne, um meine Tarnung aufrecht zu erhalten.

Das nächste anberaumte Vierertreffen kam - und verstrich erwartungsgemäß ohne De Bernis, so daß ich diese Nacht allein mit meinen beiden lieben Freundinnen verbrachte. Als wir im Morgengrauen erschöpft aber keineswegs überdrüssig voneinander schieden, war mir völlig schleierhaft, wie sie es noch rechtzeitig in ihr Kloster zurück schaffen sollten. Um die Sorgen aus meinem Kopf zu verscheuchen, nahm ich mir das Billett von De Bernis nochmals vor. Es ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. De Bernis entschuldigte sich für sein Fernbleiben mit einem dringenden Treffen beim Herzog von Montealegre, dem spanischen Gesandten, wobei es unter anderem um die von mir angeregte Heilige Liga gegen die Pforte gehen sollte. Damit glaubte er mich verpflichtet. Und für den Freitag regte er ein neues Vierertreffen an.
Nun saß ich vollends in der amourösen Klemme und MMs mitleidiger Blick bewies mir, daß De Bernis auf ebendiese Konstellation hingewirkt hatte. Wollte ich mich einigermaßen taktvoll zeigen, dann mußte ich De Bernis, der zunächst mir das Vergnügen einer köstlichen Nacht verschafft hatte, zu demselben Vergnügen verhelfen. Keineswegs durfte ich mich als Spielverderber erweisen und zu dem Treffen am Freitag erscheinen. Ich hätte mich nur lächerlich gemacht - vor den beiden Frauen, wie vor dem gerissen geilen Diplomaten. Selbstverständlich hätte man meine Anwesenheit langweilig überplaudert, aber mein Ruf als Mann von Welt wäre dahin gewesen - und so erschien ich nicht, sondern widmete mich, ungeachtet der beschämenden Eifersucht, die in mir wühlte, mit ganzer Kraft dem englischen Gesandten Murray.
Wir waren uns in den Wochen zuvor nahe gekommen, nicht nur als politische Planschmiede, sondern auch, weil Murray das Laster von De Bernis' umkehrte. De Bernis liebte es, zuzuschauen. Murray war ganz wild darauf, sich zuschauen zu lassen. Einmal war ich nach einem desaströsen Spiel im Ridotto mit zu ihm gefahren, um Zeuge einer der erregendsten Szenen zu werden, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam. Murrays  Mätresse war seit jeher die Ancilla gewesen, die jedoch unlängst, nach einer kurzen gesundheitlichen Krise, so heftig am Krebs erkrankt war, daß sie binnen weniger Wochen kaum mehr in der Lage war, ihrem Beruf nachzugehen. In einer letzten, verzweifelten Aufwallung von Liebe oder Gier hatte sie Murray gebeten, noch einmal mit ihr zu schlafen, obwohl ihr Gesicht schon halb von den  Spuren der Krankheit gezeichnet war. Er tat es. Und ich sah zu. Als wir Ancilla verließen, stieß er mich mit dem Ellbogen an und meinte - wörtlich:
„Unter uns Freimaurern darf ich es Ihnen ja verraten. Zumal wir gemeinsam an der Zerschlagung des französischen Bündnissystems arbeiten. Ich hatte die wunderbare MM - die Geliebte des französischen Botschafters. Und für fünfhundert Zechinen kann ich sie Ihnen, oder jedermann sonst, verschaffen.“

Wenig später reiste De Bernis überstürzt ab, allerdings nicht nach Wien, wie es in der Geschichte meines Lebens heißt, sondern nach Parma. Er hatte ungestört MM und CC im selben Bett genossen und war mir folglich wohlgesonnen. Für die Dauer seiner Abwesenheit überließ er mir sogar die Villa, die für mein Liebesspiel mit MM besser nicht liegen konnte, da es nur eine Viertelstunde Gondelfahrt brauchte, um zum Kloster zu gelangen. So war nun Zeit, Murray die Flausen in Bezug auf MM auszutreiben. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wer ihm da als MM zugeführt worden war, doch meine Süße war das nicht gewesen. MM hätte mir davon erzählt, dessen war ich gewiß. Also weihte ich sie halbwegs ein und ruderte nachts darauf mit Murray zum Kloster - unter dem Vorwand, MM eine dringende Botschaft ihrer Verwandten zu überbringen. Murray prägte sich die Gesichtszüge MMs gut ein. Ihre Kutte und Figur, so meinte er starrsinnig, paßten gut zu jener Frau, die er mehrfach zum Preis von fünfhundert Zechinen gehabt habe. Das Gesicht allerdings ... wir wetteten, ob MM tatsächlich zum vereinbarten Treffen erscheinen würde.
Am vereinbarten Abend erschien auch wirklich eine Nonne - in der richtigen Tracht, doch mit dem falschen Gesicht, wie Murray erbost feststellte. Wir sagten ihr auf den Kopf zu, sie sei eine Lügnerin, was sie jedoch empört abstritt, denn ihr Zuhälter, Graf Capsucefalu habe sie lediglich gebeten, für hundert Zechinen in Nonnentracht zu erscheinen, weil dies dem Freier nun einmal gefalle.
Murray stand kurz davor, sie zu ohrfeigen. „Hundert Zechinen?“ tobte er. „Der Kerl nimmt mir fünfhundert ab!“
„Was?“ rief die Hure - und nun ergingen sie sich einmütig in wüsten Beschimpfungen des Zuhälters, der sie beide geprellt hatte.
„Warum zahlen wir es ihm nicht heim“, fragte ich in einer Pause und bot der Schelmin ein Glas Wein an. Murray wollte protestieren, aber mein Blick ließ ihn verstummen. „Wenn die verehrte Signorina hier abgeholt wird - wer kommt dann?“
„Der Graf“, sagte sie freimütig - und damit wußten wir genug. Wir geboten ihr zu schweigen, gaben ihr zu essen und zu trinken und unterhielten uns leise über die Frage, ob England sich wirklich Friedrich von Preußen als Hure halten müsse, bis es ein Uhr war und Capsucefalu an die Wasserpforte pochte, um die vermeintliche Nonne ins Kloster zurück zu bringen.
Ich ließ ihn ein. Er schritt an mir vorbei, ohne mich zu erkennen. Erst als ich die Riegel übertrieben heftig einrasten ließ, brummte er, ohne auch nur einen Augenblick die Fassung zu verlieren: „Ach, Sie sind das - ich darf doch auf Ihre Verschwiegenheit zählen?“ Dann erst sah er die Pistolen in Murrays Händen. „Aha“, sagte Graf Capsucefalu.
„Mein lieber Graf“, sagte Murray, „ich komme nicht umhin, den Staatsinquisitoren zu berichten, daß Sie ausländische Gesandte betrügen. Aber vielleicht lasse ich mir damit ja ein paar Tage Zeit - vorausgesetzt, Sie erstatten meine Auslagen. Die Ringe ab!“
Capsucefalu tat, wie ihm befohlen. Allein das schöne Karree aus weißen Diamanten, das er an der rechten Hand trug, mochte seine vierhundert Zechinen wert sein. Aber Murray hatte ihm ja tausend bezahlt. Mit den übrigen Ringen, seinen Knöpfen, seiner Uhr, der albernen Schnupftabakdose und der verblichenen Spitze, die wir von seinem Rock abtrennten und lieber gleich der Hure schenkten, kamen etwa siebenhundert Zechinen zusammen. Capsucefalu ließ es sich schweigend gefallen.
Umso verblüffter war ich, auf dem Heimweg Verfolger zu bemerken. Ich versuchte die üblichen Tricks der Einheimischen - doch meine Verfolger kannten sich im Gewirr der Calle und Campi mindestens so gut aus, wie ich selber. Ich rannte was ich konnte, aber sie stellten mich auf dem Campo Ss. Giovanni e Paolo, zu Füßen des Reiterdenkmals für Colleoni, auf freiem Platz, wo ich durch Schreien bald Aufmerksamkeit erregt hätte. Als sie ihre Laternen hoben, erkannte ich die Masken - und nun wurde mir endgültig angst und bange. Schon seit der Affäre Guernon, nach der Stefan von Szemere weder Patu noch mich zum legaten von Paris bestellt hatte, verband uns innige Feindschaft. Nun hatte der princeps offenbar beschlossen, meinem eigenmächtigen Treiben ein Ende zu setzen - die vier Verfolger trugen schlichte Masken, hartweiß, auf denen jeweils der Abdruck einer gespreizten schwarzen Hand prangte. Ihr Anführer griff in den linken Mantelarm. Er zieht den Dolch, schoß es mir durch den Kopf. Renn oder schrei um dein Leben! Dann besann ich mich, daß niemand den Schwarzen Händen entkommt, und daß es heißt, sie seien sanft, wenn man keinen Widerstand leiste. Die Hand kam wieder zum Vorschein - und förderte keinen Dolch zutage, sondern ein Billett, das mir der Anführer frech vor die Füße warf, bevor die vier davon huschten. Morgens um zehn, befahl mir dieses Briefchen, würde ich abgeholt und ins Haus ohne Tür gebracht.

Vor der Audienz verwandte ich besondere Sorgfalt auf meine Garderobe, um in möglichst schlichter Eleganz beim princeps zu aufzutreten. Stefan von Szemere hatte mehrfach unterstellt, ich zweige, sobald Fortuna mir lächle, aus meinem Spielgewinn Unsummen ab für Knöpfe, Tabakdosen, Taschenuhren und feinste Stoffe, ganz zu schweigen von der  Spitze, für die ich zugegebenermaßen eine Schwäche habe. Daß ich sauber trennte zwischen Spielen auf eigene Rechnung und solchen für den Rat wollte dem princeps nicht in seinen ungarischen Klotzkopf.
Die Schwarzen Hände drängten zur Eile, obwohl noch reichlich Zeit war. Bevor sie mich in die verhängte Gondel stießen und mir die Maske ohne Sehschlitz umbanden, traf noch ein Bote Murrays ein. Murray hatte den Zuhälter Capsucefalu und die falsche MM unverzüglich der Staatsinquisition angezeigt. Ich konnte nur hoffen, daß mein Name dabei nicht gefallen war! Die Maske machte mich blind, ohne das Atmen zu erschweren. Ein Segen, denn dieser Julitag war auch ohne Maske atemberaubend schwül. Außerdem hatten die Schwarzen Hände mir keine Zeit gelassen, meine Duftpomade aufzulegen, so daß mir nun der Gestank des Kanals ungehemmt in die Nase brandete.
Achtmal war ich bisher ins Haus ohne Tür bestellt worden und besaß daher eine ungefähre Vorstellung, wo die Wasserpforte liegt, die den Eingang zum geheimsten Labyrinth des Abendlandes bildet. Manchmal, wenn eine Gondel mich tagsüber durch die fraglichen Kanäle trug, musterte ich verwitterte Pforten auf der Suche nach einem Hinweis - bislang erfolglos. Die Prozedur war jedesmal gleich: Die Gondel bog scharf ab, hinter uns schlug die Wasserpforte zu und es ging durch ein kurzes Gewölbe. Das wußte ich auch ohne es zu sehen, denn beim zweiten oder dritten Mal, als man mich herbrachte, hatte es Katzen und Hunde geregnet. Draußen im öffentlichen Kanal prasselte der Regen auf das Kabinendach der Goldel. Hinter der Wasserpforte jedoch herrschte für ein, zwei Ruderschläge Stille auf unserem Dach, ehe wir in eine Art Bassin einliefen, wo das Prasseln wieder anhob und ich bis auf die Haut naß wurde, ehe man mich die paar Schritte ins Gebäude geführt hatte.
Im Bassin ist der Anleger. Man tritt ins Haus auf eine hölzerne Plattform. Man hört Flaschenzüge quietschen, wird gehoben, gesenkt, auf der schwankenden Plattform gedreht und dann geht es durch einen Irrgarten, der sich über unzählige Häuser und Stockwerke erstreckt, über glitschige Holzstege, auf denen der Schritt klingt wie in den Zisternen von Konstantinopel, und über muffige Speicher bis zu einem schweren Eisentor. Dahinter nehmen sie dir, wenn sie gut gelaunt sind, die Maske ab.
Zu meiner Verblüffung wurde ich nicht direkt zum princeps geführt, wohin man mich sonst durch eine von Poträtbüsten gesäumte Galerie gebracht hatte. Heute schritten wir über weiche orientalische Teppiche ins Vorzimmer von Herbert Crowley, der als praefectus magistrorum mein direkter Vorgesetzter war. Bislang hatte er vorgezogen, mir seine Befehle einmal wöchentlich bei einer Tasse heißer Chocolade unter den neuen Arkaden am Marcusplatz zu erläutern.
Crowley grüßte freundlich und komplimentierte mich zu einem mit Buranospitze gedeckten Tischlein, wo er das goldene Chocoladenservice mit vollendeter Eleganz handhabte.
„Wieviel ist es diesmal?“ fragte er.
„Fünfzehnhundert Zechinen. Aber ich gebe zu bedenken, daß man mir die venezianischen Kandidaten abgenommen hat und ...“
„Das fehlte noch“, unterbrach er, „daß ausgerechnet Sie hier die venezianischen Kandidaten betreuen, wo doch niemand außer Ihnen selber überblickt, mit wem Sie verwandt, befreundet oder innig verfeindet sind.“ Ich senkte den Kopf. „Nein, nein“, fuhr Crowley fort, „es ist schon in Ordnung, wenn Sie sich um die Ausländer kümmern. Und Ihre Idee mit der Tarnung im Ridotto ist gar nicht so übel. Das sieht sogar der princeps ein. Nur halt sehr teuer. Dafür haben der princeps und mein Kollege Stavros weniger Verständnis. Aber sei's drum! Fünfzehnhundert sagten Sie? Ich werde sehen, was ich tun kann. Neues im Fall Benignus Mintner? Der bayerische Reichsritter? Nein? Schade! Dann sind Sie entlassen, Casanova. Sehen Sie sich in aller Ruhe um - punkt elf erwartet man Sie im Vorzimmer unseres verehrten princeps.“ 
„Wird es sehr schlimm?“ fragte ich.
„Ach was!“ Crowley lächelte. Allerdings hatte er es jetzt eilig, mich los zu werden.
Mir blieb noch eine dreiviertel Stunde, offenbar in Freiheit - jedenfalls war niemand da, mich zu bewachen. Deshalb fragte ich Crowleys Sekretär nach Leopold Sapin, der in den Archiven tätig war, wenn ich seine sparsamen Andeutungen recht verstanden hatte. Und tatsächlich schickte der Sekretär mich zu einer endlosen Wendetreppe, die mich in das Labyrinth der Bibliotheken hinab führte, wo ich zunächst allein zu sein glaubte. Dann tauchte jedoch Prokop von Bila auf, sprach mir ungefragt Mut zu, führte mich herum und zeigte mir eine von Marcus Agrippa kommentierte Ausgabe der Anabasis Xenophons, bevor er mich, sobald es Zeit wurde, hinauf schickte ins richtige Stockwerk. Ich gelangte in einen Portego, wie er prächtiger und geschmackvoller nicht sein konnte. Man sah, wenn auch merkwürdigerweise aus dem falschen Stockwerk, auf den Canal Grande hinaus und konnte, wenn man auf den Balkon trat, die Ca'd'Oro erkennen. Um viertel vor elf war ich so nervös, daß ich mich von den leeren Booten losriß, die den Fischmarkt des Rialto beliefert hatten und an die Tür mit dem Pfeilwappen klopfte. Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken -  so steht es am eisernen Tor des Rialto.
„Ihr Begehr?“ schnauzte das ungehobeltste Exemplar von einem Sekretär, das man sich vorstellen kann.
„Giacomo Casanova, Chevalier de Seingalt. Unser Herr will mich sprechen.“
„Das weiß ich wohl, Jacques Casanova“, schnauzte er zurück. „Aber für wann wart Ihr bestellt?“
„Für elf.“
„Und wieviel ist es jetzt?“
„Viertel vor.“
„Ganz recht. Habt also die Güte, draußen zu warten. Schaut Euch den Canal Grande an. Und wenn ihr hört, wie in Eurem Rücken diese Tür sich öffnet, dreht Euch nicht um, denn es geht Euch nichts an, mit wem der princeps gerade konferiert. Ist das verstanden?“
„Gewiß.“
„Alsdann - der Kanal ist wunderschön um viertel vor elf.“
Da ich den Einfluß des Sekretärs nicht kannte, verbeugte ich mich so knapp, daß er mir gerade eben keine krasse Unhöflichkeit vorwerfen konnte und schritt unter den bezaubernden Stukkaturen mit Motiven aus der Geschichte der Gründer zum Balkon zurück. Ich kam nicht einmal dazu, die Ellbogen auf der Brüstung zu stützen - da ging hinter mir die Tür auf. Eisern starrte ich durch die milchige Luft aufs Wasser.
„Unser Herr läßt jetzt bitten“, krähte der Sekretär durch den langen Portego.
Das Amtszimmer des princeps liegt eine Doppeltür hinter dem Sekretariat. Stefan von Szemere schrieb nach meinem Eintritt weiter, ohne auch nur aufzublicken. Wunderbarerweise empfängt das Zimmer Luft und Licht von oben, aus einem überkuppelten Dachgarten zwei Stockwerke höher. Von unten, vom Kanal aus wäre ich völlig außerstande, die Anlage zu erklären oder auch nur halbwegs zu begreifen. Allerdings droht dem Haus ohne Tür womöglich dennoch die Gefahr der Entdeckung - wenn nämlich eines Tages  jemand, der weiß, wonach er sucht, in einem Heißluftballon über Venedig fliegt.
Eine Weltkarte und rund zweitausend Buchrücken bedecken die Wände. Nur ein einziges Bild hängt im Raum und zwar Tizians Sitzung des Rates unter Dirk van Bleiswijk aus dem Jahr 1518. Bei dieser Sitzung war der Saal eingeweiht worden, in dem noch heute die Dreiunddreißig konferieren. Die Amtsroben jener fernen Epoche zeigen das Blau des Kleides und das Gold der Schärpe aus Tizians Bildnis der Laura De'Dianti von 1523, während Gestik, Mimik und Körperhaltung schon die karikierende Meisterschaft seiner Farnesegruppe um Papst Paul III. vorwegnehmen. Unter dem Bild saß der princeps und schrieb. Ich habe sie dort später an Kirschholz- und Nußbaumschreibtischen arbeiten sehen. Stefan von Szemere jedoch schrieb auf einer anthrazitfarbenen Platte aus schwedischem Granit.
„Warum setzen Sie sich nicht, Monsieur?“ fragte er plötzlich.
Er mußte mich schon eine ganze Weile beim Betrachten des Bildes gemustert haben, denn als ich ihn nun anschaute, stak sein Federkiel bereits im Tintenfaß. Szemere hatte das scharfe Gesicht eines ohne die Laster des Gaumens gealterten Husarenoffiziers. „Warum tragen Sie Unfrieden in den Rat, Monsieur? Warum spalten sie unsere Reihen?“
Ich konnte ihm schlecht verraten, daß sein eigener Stellvertreter und Nachfolger Prokop von Bila meinem Konzept gar nicht so abgeneigt war. Es war doch Aberwitz, diese einmalige Gelegenheit ungenützt verstreichen zu lassen: England und Frankreich beschäftigt in den Kolonien - warum sollte der Rest Europas, der nunmehr freien Rücken hatte, sich nicht gegen den Großtürken wenden - zumal der preußische Unruhestifter mehr als genug damit zu tun hatte, Schlesien zu verdauen?
„England und Frankreich führen Krieg um Indien, erhabener Herr“, antwortete ich. „Wie lange, glaubt Ihr, wird sich COR das klaglos gefallen lassen?“
„Die Zeiten, als wir vor den Chinesen kuschten, sind vorbei.“ 
„Aber wir sehen doch an den spanischen Besitzungen in Amerika und am Zustand der spanischen Wirtschaft, wohin der Besitz von Kolonien führt - wo ist denn die Weltmacht Madrid? Lassen wir das doch also bitte Engländer und Franzosen miteinander abmachen - weit, weit weg in Indien und Amerika. Währenddessen sparen wir uns einen neuen Schlesischen Krieg. Wir saturieren Österreich auf Kosten der Pforte. Wir saturieren überhaupt alle Welt, hauptsächlich natürlich noch Rußland, auf Kosten der Pforte - und zwar mit der Krim. Polen könnte wieder Zugang zum Schwarzen Meer erhalten. Venedig ...“
„Unfug!“ schimpfte er. „Wien hat mehr als genug damit zu tun, die Eroberungen des Prinzen Eugen zu verdauen ...“
Der Wortwechsel wurde schärfer. Ich zählte ihm die Kosten, vor allem die Folgekosten der fortwährenden türkischen Besatzung des Balkans auf. Dort ging alles zugrunde. Die Türken konnten kein Imperium verwalten. Sie konnten erobern und für die Hauptstadt ausbeuten - aber ihre Herrschaft etablierte in den Provinzen keinerlei eigene Kultur. Nur Korruption, Willkür und Schlaglöcher auf den Straßen - meinethalben mit Ausnahme des einen oder anderen Minharetts mit besonders raffiniert gedrechselter Wendeltreppe. Aber rechtfertigte das die fortwährende Unterjochung von Griechen und Skipetaren, von Serben und Kroaten, von Bulgaren, Rumänen, Walachen und Südrussen unter dem Halbmond ...?
„... oder auch Ungarn?“ schloß ich mit Elan.
„Wieso diese späte Erwähnung meiner Heimat?“ fragte er leise.
„Kann es sein“, entgegnete ich, „daß Sie nicht zuletzt, sondern zuerst an Ihre Heimat denken? Möchten Sie vielleicht sogar, daß Österreich geschwächt wird in einem neuen Krieg gegen Preußen, damit Ungarn desto selbständiger lebt?“
„Gehen Sie jetzt besser, Casanova“, sagte er. „Und sorgen Sie dafür, daß ich nie mehr von Ihren diesbezüglichen Intrigen höre!“

Abends legte ich auf dem Ridotto eine Pharao-Bank auf und unterhielt mich mit Murray über die mangelnde Fähigkeit ungarischer Magnaten, weltwirtschaftliche Zusammenhänge zu überblicken.
„Ich glaube, auch Ihre Regierung macht einen Fehler“, erklärte ich ihm, während ich verlor und verlor - mehr verlor, als mein Gespräch mit Crowley mir bestenfalls verschaffen konnte.
„Hätte mich auch gewundert“, lachte Murray, „wenn ausgerechnet Großbritannien keine Kritik abbekäme!“
„Sie wollen Handel führen, den Laderaum Ihrer Schiffe mit dem Reichtum der Welt füllen?“
„Hm!“ sagte er.
„Erobern Sie fünfzig Häfen, die je mit einem Bataillon zu halten sind. Bauen Sie eine unbesiegbare Flotte, aber fangen Sie in Übersee keinen Landkrieg an - oder Sie werden es bereuen!“
Je mehr ich verlor, desto mehr drängte Murray, für mich bürgen zu wollen, fragte dabei jedoch leichthin, als wäre dies eine Frage minderer Schwere, ob denn all meine Freunde meine Meinung teilten.
„Meine Freunde?“ fragte ich zurück, mit frisch gewecktem Argwohn. 
„Schade, daß nicht einmal wir Freimaurer offen miteinander reden“, seufzte er.
Ich verließ den Ridotto, mit rund tausend Zechinen Schulden, in der verzweifelten Hoffnung MM, könnte mir vielleicht aushelfen - aber den bayerischen Reichsritter, den hatte ich zwischendurch angeworben, ohne daß Murray etwas bemerkt hatte.
Mit Murray morgens nach durchspielter Nacht auf der Erberia zu lustwandeln war ein Erlebnis ganz eigener Art. In der Geschichte meines Lebens habe ich mich über den Güterverkehr lustig gemacht und behauptet, man promeniere auf der Erberia, um zu sehen und gesehen zu werden. Oh nein - man promeniert dort, um das unberechenbare Vor und Rück der Boote zu genießen, die Schreie der Ruderer, der Schauerleute und Standinhaber. Und nicht zuletzt promeniert man dort aus einem Grund, der ganz und gar nicht gesellschaftsfähig ist. Heute, nachdem ich eine Revolution angezettelt und die Kontrolle darüber verloren habe, darf ich sagen: Man promeniert dort, um den Tau zu sehen, auf frischem Obst und Gemüse.
Murray bot mir Geld an. Ich lehnte ab. Er bot mir an, meine privaten Schulden zu tilgen - vorausgesetzt, ich stellte ihm einen Gesprächspartner vor, der Whitehall mit Autorität vorschlüge, was ich fortwährend nur anrate. Sechs Flaschen Wein hatte er an diesem Abend geleert - und lachte dementsprechend bacchantisch. Trotzdem lehnte ich ab.
„Dann muß ich wohl bei meinem nächsten Aufenthalt in London einmal nach Southwark spazieren, in den alten Templerbezirk?“ lallte er.
„Kennt die Staatsinquisition meine Namen im Zusammenhang mit dem Zuhälter Capsucefalu?“ fragte ich.
Er lächelte. Ich setzte ihn in eine Gondel. Nahm mir selber eine. Und ging daheim mit gutem Gewissen zu Bett, ohne auf meine Vermieter zu hören, die händeringend klagten, zu Mittag hätten Sbirren meine Zimmer durchsucht. Was konnten mir schon Sbirren anhaben? Gehörte ich nicht zu den Gründern?

Frühmorgens am sechsundzwanzigsten Juli 1755 stürmte Messergrande Varutti mit vierzig Sbirren das Haus, um mich im Auftrag der Staatsinquisition zu verhaften. Vierzig! Die Zahl schmeichelt mir noch heute, Jahrzehnte später. Was auch immer der wahre Hintergrund meiner Verhaftung gewesen sein mag - wenn das Tribunal so viele Büttel einsetzte, um mich zu wecken, dann mußte ich als sehr gefährlich gelten.
Matteo Varutti beschlagnahmte alle Papiere und Bücher. Nun gut - damit konnte er ebensowenig Unheil stiften, wie seine Vorgesetzten, jedenfalls nicht zu Lasten des Rates. Und selbst wenn meine Schriften auf einem Umweg ins Haus ohne Tür gelangten, konnte auch dort niemand etwas von Belang entschlüsseln.
Capitan Grande Varutti hieß mich seine Gondel besteigen. Trotz meines artigen Benehmens hielt er es für angebracht, vier seiner Sbirren zu uns in das Boot zu bitten, bevor wir ablegten zum Polizeipräsidium fuhren.
Man bot mir sogar Kaffee an, den ich jedoch ablehnte - der erdrückenden Hitze wegen und weil überraschende Schicksalsschläge seit jeher die Tendenz haben, mich zu betäuben. Ich bin, wenn man mir keine Zeit läßt, nicht gut in solchen Dingen. So oft mir auch Gewandtheit, um nicht zu sagen Frechheit, aus minder schweren persönlichen oder diplomatischen Notlagen herausgeholfen hat - wenn der unverkennbar harte Knöchel des Schicksals an die Tür pocht, bin ich ein sprachloser, ein tumber, nahezu unbeweglicher Klotz. Und tatsächlich schlief ich in jenen vier Stunden, bis man mich aus dem Amt des Messergrande fort brachte. Ich erwachte von einem fürchterlichen Harndrang, gerade vor dem Schlag der Campana di Terza. Kaum hatte ich mein Geschäft erledigt, holte man mich ab. Mit einer Gondel fuhren wir zu den Gefängnissen und stiegen Treppen hinauf, bevor wir über die Seufzerbrücke den Dogenpalast betraten. Domenico Cavalli, der Sekretär des Tribunals, brauchte nur einen Blick, um zu bestimmen: „Das ist der Mann. In die Bleikammern mit ihm!“

Kein Mensch, der nicht dieselbe Lage geteilt hat, kann ermessen, was in einem unschuldigen Gefangenen vorgeht. Am schlimmsten ist das schrittweise Absterben der Hoffnung.  Man hofft, die Inhaftierung erweist sich als Irrtum. Der Wächter der Bleikammern erscheint und übermittelt mir die Entschuldigungen des Tribunals ...
Man hofft - zumindest als Gründer in Venedig - hofft man: Damit kommt das korrupte Gesindel der Serenissima nicht durch. Der Rat wird ihnen gehörig auf die Finger klopfen und bald bin ich frei ...
Man hofft: na schön, Szemere will mir einen Denkzettel verpassen. Ich war ja wirklich nicht besonders gehorsam. Nach einer Woche lassen sie mich frei und ich werde nach Edinburgh strafversetzt ...
In der Geschichte meines Lebens habe ich mich hierzu ausführlich geäußert. Ich will die Peinlichkeiten mit den Heiligen und mit den Daten nicht wiederholen. Deshalb hier nur noch soviel: Mit schwindender Hoffnung wächst die Empörung. Das führt zum Selbstmitleid. Bis hierher ist der Verlauf der Gefängniskrankheit zwangsläufig. Danach erst scheiden sich die Gefangenen in solche, die aufgeben und jene, die sich ermannen.
Heute weiß ich, daß mich die drei Inquisitoren Andrea Diedo, Antonio da Mula und mein besonderer Freund Antonio Condulmer am zwölften September wegen Atheismus zu fünf Jahren Haft verurteilten. Inwiefern Szemere tatsächlich hinter jener fadenscheinigen Anklage stand, vermag ich jedoch nicht zu sagen.
Damals in den Bleikammern wußte ich noch weniger. Dort wußte ich nur, daß die Inquisitoren turnusgemäß am ersten Oktober ihre Ämter an Alvise Barbarigo, Lorenzo Grimani und Francesco Sagredo übergeben mußten. Dieses Datum wartete ich ab. Als es verstrich, ohne daß man mich begnadigte, entschloß ich mich zur Flucht.
Zunächst jedoch brauchte ich Zeit, um die Widrigkeiten der Haft niederzukämpfen. Das begann damit, daß ich in meiner ersten Zelle nicht aufrecht stehen oder gehen konnte. Hinzu kamen Hitze und stickige Luft unter den hochsommerlichen Bleidächern. Ratten. Mehr noch peinigten mich die Flöhe. Und Basadonna, dieses Schwein, mein Wärter, riet mir, als ich Verdauungsstörungen bekam, zu Einläufen mit Gerstenwasser. Am allerschlimmsten war, daß man nach den ersten Wochen, in denen man mir überhaupt nichts zu lesen bewilligte, die Ergüsse einer schwärmerisch religiösen Nonne brachte. Nichts zuvor oder seitdem hat mich meine süße MM je mehr vermissen lassen.
Dann schließlich - oh Jubel, oh Engelschöre - brachte Lorenzo Basadonna mir mitsamt ein paar aufmunternden Worten den Boethius. Über die Tröstung der Philosophie. Wie ich mich freute! Endlich Nahrung für den Geist! Ich wurde fast verrückt vor Freude - bis ich ins Grübeln geriet. Was war denn dem Boethius geschehen? Ohne Verhör war er eingesperrt worden, wegen eines Hochverrates, den er nicht begangen hatte. Und seither stritten die Gelehrten, ob er sich im Kerker selbst entleibt hatte, indem er sich den Kopf an der Felswand einrannte - oder hatte er doch auf den Henker des Ostgotenkönigs Theoderich gewartet? War das Buch vielleicht eine Drohung Stefan von Szemeres? Eine geistige Folter, weil ich der körperlichen zu gut widerstand? Wollte man mir die Augen öffnen: So oder so verreckst du?

Wenn ich im hintersten Winkel meines Hirns eine letzte falsche Hoffnung genährt haben mochte - so starb sie, als am ersten November 1755 der Wärter Basadonna meine Zelle betrat und wie angewurzelt stehen blieb, mindestens ebenso erschrocken wie ich selber. Das gewaltige Erdbeben, das hunderte Meilen westlich die Stadt Lissabon in Schutt und Asche legte, machte sich auch in den Bleikammern Venedigs bemerkbar, und zwar dergestalt, daß alles wackelte und der wuchtige Deckenbalken, der gewiß 50 mal 50 Zentimeter maß, sich zweimal ruckartig verschob. Ich betete zu Gott, er möge mein Gefängnis einstürzen lassen - fest überzeugt, ich käme heil davon, auch wenn der Dogenpalast unter mir und sein Dach über mir zusammenbrächen. In diesem Augenblick verflog der letzte Zweifel - ich mußte raus. Und vielleicht im selben Augenblick wuchs im tückischen Basadonna die Bereitschaft, zu tun, was er später tat. Jedenfalls verabschiedete er sich von mir mit einem warmen, festen Händedruck, den ich ihm gar nicht zugetraut hätte.
Seit einer Woche hatte ich Erlaubnis, täglich eine Stunde auf den Speichern des Dogenpalastes zu spazieren, zwischen Spinnweben, Folterinstrumenten und Gerümpelhaufen. Basadonna oder das Tribunal wollten dafür sorgen, daß mein Rückgrat sich nicht vollends verkrümmte in der niedrigen Zelle. Zuerst fand ich das Marmorstück, steckte es heimlich ein und nahm es mit, ohne noch recht zu wissen, was ich damit sollte. Dann sah ich den Metallriegel herumliegen. Marmor und Riegel wurden in meinem Kopf sofort zu Schleifstein und Meißel und wiederum einige Wochen später hatte ich blutig gescheuerte Hände - aber auch ein hübsches, fertiges, achtkantig zugespitztes Werkzeug. Ich beschloß, ein Loch in den Boden meiner Zelle zu stemmen. Darunter lagen die Räume der Staatsinquisition. Dort wollte ich mich bis zum Morgen hinter einem Möbel verstecken, um dann den Dogenpalast unauffällig zu verlassen, lange bevor Basadonna oben in den Bleikammern die Zellen inspizierte und meine Flucht bemerkte.
Zunächst jedoch galt es, zu verhindern, daß das Loch im Fußboden vorzeitig bemerkt wurde. Seitdem ich mich über Ungeziefer beschwert hatte, hielt Basadonna streng auf Reinlichkeit und ließ die Zelle täglich fegen. Das Loch würde unfehlbar entdeckt. Im Umkehrschluß hieß das: Das Fegen mußte aufhören. Das weitere hat sich genauso zugetragen, wie ich es anderen Orts berichtete - ich sorgte für ein wenig Blut im Taschentuch, ließ mir vom Arzt bestätigen, daß der beim Fegen aufgewirbelte Staub meine Lunge gefährlich reize und hatte ungefegte Dielenbretter. Niemand interessierte sich jetzt noch für den Fußboden. Ich wartete, bis meine Hände abgeheilt waren, und nahm die Arbeit auf.

Neujahr erfuhr ich, daß mein väterlicher Gönner Bragadin beim Tribunal eine unschätzbare Gunst erbettelt hatte - ich durfte wieder die Gazette de Leyde lesen. So erfuhr ich dann aus der Zeitung, noch während ich in Haft saß, vom Abschluß jener beiden Verträge, die ich hatte verhindern wollen. Am sechzehnten Januar schlossen Preußen und England die  Westminster-Konvention. Am ersten Mai zogen Frankreich und Österreich nach. De Bernis und Fürst Starhemberg unterzeichneten ein Neutralitäts- und Verteidigungsbündnis ihrer Souveräne. Frankreich und Habsburg verbündet - das war die Perversion aller Bündnisse! Frankreich und England hatten den Rücken frei für ihren eigenen Streit in Übersee. Der Siebenjährige Krieg begann mit dem präventiven Einmarsch Friedrichs von Preußen nach Sachsen. Das Unheil nahm seinen absehbaren Lauf.
Mit verdoppelter Kraft widmete ich mich dem Fußboden, aufgehalten nur von lästigen Mithäftlingen, die hin und wieder meine Zelle teilten. Tagsüber versteckte ich den Meißel unter dem Polster meines Sessels. Nachts bohrte ich beim Schein der Öllampe, die ich gebastelt hatte. Weil ich die Späne sorgsam versteckte, wähnte ich mich von Basadonna unentdeckt. Ich grub mich durch drei Lagen Bretter, bis ich auf einen Boden aus Terrazzo marmorin stieß, an dem mein Meißel spurlos abglitt. Doch statt nun aufzugeben, erinnerte ich mich, wie schon Hannibal soliden Fels mithilfe von Essig gesprengt hatte und ging ebenso zu Werke. In der Tat machte mein Speiseessig das elastische Gemisch aus Mörtel und Marmorsplittern so porös, daß ich es ohne Schwierigkeit abkratzte. Darunter war nur noch die dünne Bretterschicht, die den Fußbodenbelag getragen hatte.
Sie bildete zugleich die Decke des Raumes unter mir. Ich hatte richtig geschätzt: Unter mir befand sich die Sala degli Inquisitori. Nun galt es doppelt aufzupassen, denn jeder Holzspan, der aus meinem Loch auf den Boden des Sitzungszimmers fiel, konnte mich verraten. Zudem stieß ich auf ein unerwartetes Hindernis, das mich kurze Zeit in geradezu alberne Wut versetzte: Ahnungslos hatte ich meinen Durchstieg über einem Deckenbalken angelegt, so daß das vom Balken halbierte Loch nicht groß genug für meinen Oberkörper war. Die halbe Arbeit umsonst! Die andere Hälfte Loch mußte ich verdoppeln.
Kaum war das erledigt  - da schlug erneut das Schicksal zu. Der Wärter Basadonna tauchte auf und verkündete freudestrahlend, ich werde verlegt - in eine neue Zelle. Mehr Luft. Mehr Licht. Und hoch genug zum Stehen ...
Meinen Zusammenbruch hielt Basadonna für das Symptom überwältigender Freude. Willenlos ließ ich mich von den Bütteln hinüber schleifen. Die Bücher wurden mir nachgetragen in mein frisch geweißtes Quartier. Dann die Möbel. Wie im Traum untersuchte ich das Sesselpolster - der Meißel war noch da. Dann herrschte zwei Stunden Stille, bevor Basadonna, ganz gekränktes Wohlwollen, erschien und zu wissen begehrte, ob ich ihn an den Galgen bringen wolle. Ich zuckte nur die Achseln.
„Ich bin Familienvater“, klagte er. „Was glauben Sie, was das Tribunal mit mir anstellt, wenn ich dieses Loch im Fußboden pflichtschuldigst melde?“
„Dann melden Sie es eben nicht.“
„Aber es ist doch meine Pflicht.“
„Dann melden Sie es eben doch. Ich werde den Staatsinquisitoren erklären, daß ich alle Hilfsmittel für meinen Ausbruchsversuch dank Ihrer Nachlässigkeit erhielt.“
„Das ist gut“, sagte Basadonna mit verschmitztem Lächeln. „Das müssen sie gleich in Gegenwart meiner Büttel wiederholen. Wir brauchen schließlich eine plausible Erklärung dafür, daß ich Ihren Ausbruch nicht anzeige. Ich werde meine Leute  zusammenbrüllen, daß niemand wagen soll, auch nur ein Sterbenswörtchen über das Loch zu verlieren. Sie drohen mir gehörig. So werden wir das Kind schon
schaukeln.“
„Ich glaube nicht, daß ich Sie ganz und gar verstehe“, sagte ich.
„Was gibt's da zu verstehen? Viele hungrige Mäuler. Ein knappes Gehalt. Da sucht man zwangsläufig nach einem zweiten Lohnherrn.“
Mehr sagte er nicht. Und ich fragte auch nicht. Wir spielten seinen Bütteln die abgesprochene Komödie vor. Ich hörte das Gehämmer der Zimmerleute, die mein schönes Loch vernagelten. Mehrere Tage lang wurde ich mit verdorbenem Essen traktiert. Und während dieses Fastens ging ich fieberhaft mit mir zurate, welcher Schutzengel draußen Lorenzo Basadonna spicken könnte, damit er gut über mich wachte.
Es dauerte nicht lange, da erschien Basadonna wieder mit Posaunenengelgrinsen in der neuen Zelle und machte Meldung, daß unter den Bleikammern neben mir noch ein weiterer gelehrter Bücherfreund schmachte, ein Mönch namens Balbi, den das Tribunal seiner vielen unehelichen Kinder wegen eingesperrt habe.
„Grüßen Sie ihn“, trug ich Basadonna auf.
„Ich werde noch weit mehr tun, wenn Sie gestatten“, bot er an. „Ich schicke dem Balbi eine Liste all Ihrer Bücher und komme mit einer ebensolchen zu Ihnen zurück. Dann können Sie nach Herzenslust tauschen und brauchen nicht neue Bücher zu kaufen von dem knappen Geld, das mir das Tribunal für Ihren Unterhalt zur Verfügung stellt.“
„So daß am Ende Sie“, lachte ich Basadonna ins Gesicht, „noch mehr in die eigene Tasche wirtschaften!“
„Muß nicht jedermann sehen, wo er bleibt?“ fragte er.
Und weil ich gerade an die vielen Möglichkeiten dachte, in Büchern Nachrichten oder Gegenstände zu schmuggeln, nickte ich Basadonna schweigend zu.
Da Basadonna sich nun einmal als Postbote aufdrängte zwischen uns Gefangenen, die wir Zellenwand an Zellenwand hausten, ohne uns je zu Gesicht zu bekommen, lernten wir uns also brieflich kennen. Ich hatte mir einen Fingernagel wachsen lassen, ihn vorne spitz gebissen und in der Mitte gespalten, so daß er als Feder taugte. Ich schrieb mit Maulbeersaft - wie Balbi es machte, weiß ich nicht mehr. Doch ließen wir uns, versteckt auf Buchseiten, ausführliche Botschaften zukommen, die Basadonna brav hin und her trug.
Am Michaelstag, dem neunundzwanzigsten September 1756, besiegelten wir unsere neue Freundschaft mit einem Festessen - zwei gewaltigen Schüsseln Gnocchi, die in Butter schwammen und mit Parmesan bestreut waren. Basadonna grinste schon impertinent, als er die dampfenden Schüsseln hereintrug - wunschgemäß die größten, die er hatte auftreiben können. Ich hatte meinen kostbaren Meißel mit Papier umwickelt und in den Lederrücken der Vulgata geschoben, die Basadonna heute Pater Balbi bringen sollte. Auf beiden Seiten stak der Meißel aus dem Bibeleinband hervor. Doch die für Balbi bestimmte Schüssel verbarg diesen Umstand leidlich, als Basadonna meine Zelle verließ. Obenauf stand die Schüssel, die er vorsichtig balancierte, um keine heiße Butter zu verschütten. Darunter die Bibel, damit er sich nicht die Finger verbrannte. Darin der Meißel. Basadonna bewegte sich mit wiegenden Trippelschritten vorwärts  - und nun war es an mir, impertinent zu grinsen.
Was blieb mir übrig? Natürlich riskierte ich viel. Noch riskanter, als Balbi zu vertrauen, war vielleicht die Hoffnung, unser Wärter  würde den Meißel übersehen. Umso riskanter, als ich nur diese Chance bekommen würde. Entdeckte Basadonna den Meißel, dann war ich ihn los. So jedenfalls dachte ich damals. Heute weiß ich, daß mein mächtiger Feind und Herr, princeps Stefan von Szemere inzwischen verstorben war. Prokop von Bila saß auf seinem Stuhl und schmierte Basadonna. Aber damals - ? Täglich ließ Basadonna den Zellenboden abklopfen, so daß die Wiederholung meines Fluchtversuchs undenkbar war. Ich konnte nur hoffen, durch die Zellendecke auf den Dachboden zu steigen, um von dort einen Fluchtweg zu suchen. Leider war meine Zelle jedoch frisch renoviert und getüncht, so daß Basadonna jeden Kratzer unweigerlich bemerken mußte. Den Meißel auszuleihen war also ein Gebot der Vernunft.
Endlos schlichen die Minuten dahin, bis Pater Balbi jenseits der Doppelwand dreimal hustete. Das war unser vereinbartes Zeichen. Nun hörte ich, wie das Klirren von Basadonnas Schlüsselbund leiser wurde und nahm an, daß Balbi sich über seine Gnocchi hermachte. Vielleicht gab er ja auch seinem Zellengenossen etwas ab, einem alten, dicken Ehrenmann, dem Grafen Asquin. Und schließlich begann das Kratzen des Meißels.
Den ganzen Oktober hindurch ließ Balbi sich immer neue religiöse Kupferstiche kommen, um damit das wachsende Loch auf seiner Seite der Doppelwand zu tapezieren. Er kaufte die Stiche vom Geld, welches das Tribunal für seinen Unterhalt genehmigt hatte. Basadonna war das gar nicht lieb, denn verplempertes Geld konnte er nicht in seine Tasche stecken - aber er spielte lächelnd mit, weil Prokop von Bila ihm jede eingebüßte Lira zehnfach ersetzte. Die heilige Klara, die heilige Maria Magdalena, die Gottesmutter, die heilige Eusebia und wie sie alle hießen, verbargen nun, in Kupfer oder Stahl gestochen, gnädig das Loch, das Balbi langsam durch die Wand brach. Nacht für Nacht hallte das Klopfen durch die Bleikammern. Wärter gab es nicht. Die unteren Räume, wo tagsüber das Tribunal beriet, standen nachts leer. Die Mitgefangenen hielten dicht - oder vielleicht hörten sie auch tatsächlich nichts in ihren Zellen. Es blieb der Graf Asquin in Balbis Zelle - doch er war, ich sagte es bereits, ein Ehrenmann und unfähig zu gemeinem Verrat.
Bei mir war die Sachlage leider ganz anders. Mir hatten sie den Soradaci auf die Zelle gesetzt. Der Mann log schon, wenn man ihn bloß nach der Uhrzeit fragte. Natürlich schärfte ich ihm ein, das Maul zu halten über die nächtliche Klopferei. Dabei verschwieg ich meine Beteiligung am Fluchtplan und berief mich ganz allgemein auf die Pflicht, unsere Schicksalsgenossen, die offenbar den Ausbruch wagten, zu decken. Aber das Schwein plauderte trotzdem.
Und  nun bekam ich eine Ahnung, wie stramm dem Basadonna schon das Halsband seines neuen Herrn saß. Soradaci warf sich ihm buchstäblich zu Füßen, winselnd um Hafterleichterung. Basadonna jedoch, wahrlich kein Ausbund an Tugend, blickte mir über den zappelnden Körper hinweg fest in die Augen und sprach:
„Mein lieber Signor Soradaci, natürlich klopft und hämmert es nachts. Unten im Kanal liegt ein Boot von Maurern. Sie bessern die Wasserwand des Dogenpalastes aus. Das Kratzen und Neuverfugen werden Sie bei Tag überhören. Doch nachts, wenn es still ist, hören Sie, wie auf den leichten Wellen des Kanals das Boot gegen die Wand schaukelt.“
Der Schlingel! Ich wüßte nur zu gern, was Prokop Bila ihm bezahlte!
Unterdessen machte Balbi Fortschritte. Uns fiel nun auf, daß Basadonna täglich seine Gehilfen mitnahm in beide Zellen. Er trieb Vorsorge, wollte Zeugen dafür haben, daß er von unserer Flucht nichts hatte ahnen können. Dann brachte er die Taube, ein Tier mit grünlich schimmerndem Gefieder. „Für ein leckers Mahl“, sagte er gönnerhaft, „Sie müssen ihr nur noch den Hals umdrehen, sie ausnehmen und kochen.“ Er war schon im Gehen begriffen, als ich nachfragte, wie ich das Täubchen denn um Himmels willen zubereiten solle, wenn es mir doch hier oben strikt verboten sei, zu kochen. Der Aufseher ließ die zitternde Taube in meiner Hand zurück und trat auf den Gang. Er hatte geahnt, wie ich reagieren würde. Draußen stand der Käfig. „Wenn Sie es partout nicht kochen wollen, dann halten Sie das Täubchen eben zur Belustigung!“ sagte er und machte sich davon.
Es gab in der Geschichte meiner Flucht aus den Bleikammern wenige Augenblicke, die mich so mitnahmen wie dieser. Als ich die Taube sacht in den Käfig setzte, fiel mir über der rechten Kralle die winzige Bulle aus Wachspapier auf. Ich hielt eine Brieftaube des Hauptquartiers in meiner Hand. Und Soradaci durfte nichts merken.
Seit Nächten schlief ich schlecht, vor lauter Spannung, nur ja jeden Fortschritt Balbis mitzubekommen. Tagsüber hatte ich den verlorenen Schlaf bisher nachgeholt. Doch damit war es nun vorbei. Nun mußte ich die Brieftaube Tag und Nacht hüten, damit ihr Soradaci nicht den Hals umdrehte. Kurz vor unserem Ausbruch wäre es dem Schurken dann doch noch fast gelungen, unsere Hoffnung zunichte zu machen. Ich mußte wohl einen Augenblick eingenickt sein. Aufschrecken und ihn am Käfig sehen, war eins. Benommen taumelte ich auf ihn los. Soradaci holte mit dem Käfig aus, um ihn mir auf den Schädel zu schlagen. Ich wehrte ab. Dabei landete die wild flatternde Taube samt Käfig in der entferntesten Zimmerecke. Balbi, der den Tumult inzwischen bemerkt hatte, stellte die Arbeit ein. Ich schlug Soradaci zusammen und fesselte ihn.
Dann hustete ich dreimal, in der Hoffnung, Balbi werde das Signal verstehen. Tatsächlich hörte ich ihn bald wieder bei der Arbeit.
Ich richtete die zerbrochenen Gitterstäbe. Wie sehr das Tierchen mir auch leidtat und selbst auf die Gefahr hin, ihm weitere Aufregung zuzumuten, holte ich die Taube aus dem Käfig und untersuchte ihre Flügel. So weit ich sah, war nichts gebrochen. Den Rest der Nacht brachte ich damit zu, zärtlich auf das aufgeregte Gurren einzureden, damit es nicht in ein paar Tagen aus lauter Verwirrung in die falsche Richtung flog.
Soradaci wurde am nächsten Morgen mißtrauisch beäugt. Wenn Basadonna allein gekommen wäre, hätte ich den Lumpen in Fesseln gelassen, doch ich wußte ja, daß der Aufseher seine Büttel mitbrachte. Die Prellungen und Schürfwunden Soradacis fielen Basadonna sofort auf. Er inspizierte sorgfältig die ganze Zelle und blieb vor dem geflickten Käfig stehen.
„Nun ja, mein lieber Soradaci“, sagte er, „fügen Sie sich besser nicht noch mehr Wunden zu. Mancher Häftling erträgt zuletzt den Gefängniskoller nicht und hängt sich auf. Tragisch. Man findet ihn mit einem Laken um den Hals am Deckenbalken, wie soll ich sagen, ausgerechnet wenn das Tribunal mir befiehlt, ihn zum Verhör zu bringen.“
Als Basadonna ging, ließ er mir Platons Kriton da, den Balbi ausgelesen hatte. Ich las darin, daß Balbi mit der Arbeit fertig sei - bis auf den Deckendurchbruch zu meiner Zelle. Doch das war nur eine Frage von Minuten.
Wir planten unsere Flucht für die Nacht auf den ersten November, weil an diesem Tag alle venezianischen Beamten, eingeschlossen die Staatsinquisitoren und ihr Sekretär, vielleicht sogar der Messergrande, auf ihren Landhäusern in der Terra Ferma Ferien machten. Uns blieb also reichlich Zeit. Niemand würde im Dogenpalast seiner Arbeit nachgehen. Nur, ob der Doge selber in seiner Wohnung blieb oder auf den Gängen des Palastes mit jungen Mägden Haschen spielte - das blieb abzuwarten.
Ich habe schon erwähnt, daß Balbis Zellengenosse, Graf Asquin, ein dicker, alter Mann war, der sich die Flucht nicht zutraute. Den Soradaci wollte ich um keinen Preis dabei haben. Übrig blieben Pater Balbi und ich. Tags zuvor schickte ich die Taube los. All unsere Hoffnungen hingen an diesem Vogel. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie wir aus dem Palast fliehen sollten, selbst wenn uns von draußen jemand zuhilfe kam. Wenn der Vogel nicht den Dachstuhl erreichte, keine Meile von den Bleikammern entfernt, dann würden wir bald auf dem Speicher sitzen und nicht weiter wissen. Basadonna verlor kein Wort über den leeren Käfig, als er die Zelle inspizierte.
Draußen war mittlerweile der Siebenjährige Krieg richtig in Schwung gekommen. Am siebzehnten Oktober hatte die bei Pirna eingeschlossene kursächsische Armee kampflos vor den preußischen Okkupatoren kapituliert. Vierzehntausend Mann. Kurfürst August III., zugleich König von Polen, und sein erster Minister Graf Brühl zogen sich nach Polen zurück. Die Kurfürstin und der Thronfolger harrten in Dresden aus - vielleicht der Anfang jenes Prozesses, an dessen Ende der Kronprinz für uns den Frieden des Siebenjährigen Krieges vermittelte. Als ich herauskam und von dieser kaum zwei Wochen alten Entwicklung erfuhr, erstickte ich beinah an meiner Wut. Ich hatte vollkommen recht behalten. Das hieß, ich hatte ganz und gar zu unrecht in den Bleikammern gesessen. Wir hätten diesen blödsinnigen Krieg verhindern müssen, indem wir die Allianzen sabotierten. De Bernis war natürlich damals abgereist. Aber wer weiß, was ich erreicht hätte, wenn Szemere mir mit dem englischen Gesandten Murray etwas Zeit gelassen hätte?
Balbi durchbrach die Decke zu meiner Zelle tatsächlich in wenigen Minuten, so daß ich mich noch heute frage, was um alles in der Welt, der Faulpelz all die Wochen zuvor getrieben hat. Ich hatte das Bettzeug in feine Streifen zerrissen. Es konnte gute Dienste leisten. Mit ein paar Streifen hatte ich Soradaci an Händen und Füßen gefesselt und auf meinem guten alten Lehnstuhl fixiert, so daß er uns keinen Ärger machte.
Balbi fiel mir in Arme. Wir weinten beide aus überquellendem Herzen. Dann begannen wir, uns die verräterisch langen Bärte zu scheren, immer wieder unterbrochen von Soradaci, der vor Angst Durchfall bekommen hatte und deshalb häufig losgebunden werden mußte. Ich war durch die vergangenen Wochen gegen den scharfen Knoblauchgeruch des Lumpen abgehärtet, aber dem armen Balbi wurde mehrfach übel, so daß bald ein wirklich arges Gebräu von Düften meine Zelle durchwaberte.
Ich ließ Balbi als Wache bei Soradaci und stieg durch die Löcher. Graf Asquin erwies sich als ziemlicher Jammerlappen, der unentwegt lamentierte, er wolle nicht in unseren Fluchtversuch verwickelt werden. Vielleicht war ich mit meinem Zellengenossen Soradaci alles in allem doch nicht so schlecht bedient! Auf dem Dachboden suchte ich einen Platz im Gebälk, von wo ich halbwegs bequem den Aufsatz des Daches auf der Mauer erreichte, den spitzesten Winkel. Das Holz war morsch. Mit ein paar energische Stichen des Meißels verwandelte ich es zu Staub. Nun blieb nur noch die Bleiplatte, die ich ohne Schwierigkeit komplett freigelegt hatte. Da sie jedoch außen um eine marmorne Dachrinne gebogen war, stellte die Platte selber schließlich das hartnäckigste Hindernis dar. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es mir jedoch, die Platte so weit aufzubiegen, daß wir hindurch klettern konnten, sobald der Stand des Monds das zuließ. Wären wir sofort ausgestiegen, hätten wir hoch vom Dach zwei gewaltige Schatten auf das Volk geworfen, das unten über den Markusplatz promenierte.

Während meiner Haft war der große Montesquieu gestorben - und hatte die Lehre von den drei Gewalten hinterlassen. Der Siebenjährige Krieg war ausgebrochen. In Indien und Amerika entschied sich das Ringen um die Weltherrschaft. Robert Clive rüstete zur Schlacht von Plassey. Pitt war britischer Premierminister. Und Marie Antoinette, die letzte Königin des Ancien Regime, hatte das Licht der Welt erblickt. Außerdem hatte Venedig den Kurfürsten von Köln als Gast beherbergt. Die Republik hatte ihn auf der Giudecca mit einem glanzvollen Bankett geehrt -  im Casino Nani, das wir nun jeden Moment von den Bleidächern aus sehen mußten.
Der Abschied von den Haftgenossen fiel nicht schwer. Wir waren jetzt begierig, rauszukommen - da fehlte das Verständnis für ihre feige Bedenklichkeit. Ich war vermutlich noch nervöser als Balbi. Unentwegt bedrängte er mich, wie es nun weitergehen solle - und ich mußte ihn vertrösten. Ich hatte selber keine Ahnung. Wenn die Brieftaube nun ihren Schlag verfehlt hatte? Oder Stefan von Szemere lebte doch noch, und unser inszenierter Ausbruch war ein Komplott, bei dem ich zu Tode kommen sollte?
Sobald der Mond es zuließ, stieg ich voran ins Ungewisse. Vom Bacino di San Marco her wallten die Nebel und kondensierten auf den Bleiplatten. So war das Dach nicht nur viel steiler als ich mir je vorgestellt hatte, sondern auch furchtbar schlüpfrig. Kaum war ich draußen, glitt ich ab und wäre zu Tode gestürzt, wenn
ich mich nicht an der Dachrinne gefangen hätte. Während ich um mein Leben zappelte, gepeinigt von einem Krampf, der mich hinderte, die Beine auf die Dachrinne zu ziehen, kroch Balbi jammernd zurück, anstatt mir zu helfen. Ich verbiß den Schmerz. Atmete nur ganz flach. Endlich löste sich der Krampf und mit letzter Kraft zog ich mich aufs Dach. Mein Herz raste. Schnaufend starrte ich in die Tiefe. Unter zarten Nebelschleiern promenierten ein paar späte Flaneure über die Piazzetta. Ein kurzer, schriller Pfiff ließ mich zusammenzucken.
Im Nebel verlieren Geräusche oft ihre Richtung. Zuerst suchten wir unten auf der Piazzetta, ob wir entdeckt waren. Dann erst sah ich die fröhlich winkende Gestalt auf einem pultartigen Dachabsatz zwischen Maurerwerkzeug.
„Kommt rüber“, rief der junge Mann - und als ich zögerte: „Muß ich erst noch einen Pfeil ins Blei ritzen, Casanova?“
Balbi flüsterte aufgeregt: „Woher kennt der Sie? Lassen Sie uns umkehren! Warum haben Sie verschwiegen, daß auf den Dächern Wachen  patrouillieren ...?“
Anstatt auf seine Proteste und Fragen zu hören, wickelte ich ihm den größten Teil unseres Lakenstricks um die Hüfte, verknotete ihn gut bei mir und zwang ihn so zum Aufstieg.
„Ihr Freund Prokop, den Sie zum letztenmal gesehen haben, als er successor war - er läßt Sie grüßen“, sagte die Schwarze Hand. „Natürlich werden Sie entkommen. Wir müssen allerdings ein wenig darauf achten, daß niemand Verdacht schöpft, Ihnen hätte von außerhalb jemand geholfen ... nein, nein, aber nicht doch!“ fuhr er fort, als er die Furcht in Balbis Gesicht bemerkte. „Lieber Pater kehren Sie getrost zu Ihren Liebschaften und Bälgern zurück. Suchen Sie neue. Machen sie neue. Sie haben unserem Freund Casanova geholfen und deshalb stehen wir in Ihrer Schuld. Sie brauchen nicht besorgt zu sein. Sie stürzen nicht vom Dach. Wir vergelten niemals Treue durch Verrat. Plappern allerdings - vergelten wir durch Schweigen! Ewiges Schweigen.“
„Los!“ drängte ich. „Wo geht es weiter?“ Mich fröstelte auf den glitschigen Bleiplatten und mit der Kälte wuchs die Neigung meiner Muskeln, sich zu verkrampfen.
„Sie haben dankenswerterweise sogar eine Leiter hier oben vergessen“, lästerte die Schwarze Hand, während wir durch die Luke einstiegen in einen Raum, der von einer abgeblendeten Laterne schemenhaft erleuchtet war. Mit einem  Seil wäre der Abstieg unbequem gewesen. So aber schritten wir rasch weiter durch eine Reihe von Zimmern, dann über eine Steintreppe hinab und gelangten schließlich in die Cancelleria Ducale.
Hier schauten wir uns um. Die Schwarze Hand meinte, ohnehin müßten wir zur Flucht die Morgendämmerung abwarten. Zeit war also genug. Ich öffnete einen Schreibtisch und fand ein Schreiben, das dem Provveditore Generale in Korfu für Baumaßnahmen an der alten Festung dreitausend Zechinen in Aussicht stellte. Im selben Schreibtisch fand ich zwar nicht das ganze Geld, aber doch immerhin 850 Zechinen, die ich selbstverständlich einsteckte. Die Schwarze Hand sagte zwar, ich bräuchte mir um Geld keine Sorgen zu machen. Prokop von Bila werde mich mehr als zufriedenstellend mit neuen Mitteln ausstatten - aber die Republik schuldete mir ein Jahr meines Lebens. Da waren die paar Zechinen nur eine bescheidene Anzahlung.
Wir nahmen ein leichtes Nachtmahl zu uns. Danach schläferte mich die Stille ein. Schlafmangel und die Anspannung der letzten Tage forderten ihren Tribut. Balbis Geplapper störte nicht, denn er schwieg verängstigt. Mit dem tatkräftigen jungen Mann konnte ich in Anwesenheit des Paters nicht offen reden. Als die Schwarze Hand mich sanft wachrüttelte, drang bereits die Dämmerung durch ein Fenster, das auf das Labyrinth kleiner Höfe an der Markuskirche hinausgeht. Zügig verließen wir die Cancelleria Ducale. Die Doppeltür stand weit offen. Hinter uns schloß die Schwarze Hand beide Türflügel sorgsam ab - und erst jetzt bemerkte ich das Loch, das in die Tür gebrochen war.
„Ich sagte doch - es muß aussehen, als wärt ihr aus eigener Kraft geflohen“, erklärte unser Retter.
Der Rest unserer Flucht aus dem Dogenpalast verlief im wesentlichen so, wie ich ihn mehrfach beschrieb. Ich ließ mich am Fenster blicken. Wir wurden von den Müßiggängern bemerkt, die auf dem Hof herumlungerten. Sie alarmierten den Schließer Andreoli, der uns freundlich herausließ und später, dank ein paar blauer Flecken, im Prozeß behaupten konnte, wir hätten ihn niedergeschlagen.
Unsere Schwarze Hand kontrollierte das Geschehen da schon nurmehr aus dem Abseits. Er wünschte uns viel Glück.
„Und du?“ fragte ich. „Wie kommst du hier raus?“
„Macht euch um mich keine Sorgen“, lachte er nur.
Über die Gigantentreppe stiegen wir in den Hof, verließen den Dogenpalast durch die Porta della Carta und überquerten die Piazzetta, ohne jemand in die Augen zu schauen. Am Ufer des Bacino erkannte ich die bezeichnete Gondel ohne Schwierigkeit  - an dem grünen Stirnband, das der Gondoliere trug. Wie besprochen rief ich laut, ich wolle nach Fusina, er möge einen zweiten Mann zum Rudern holen. Und wie nicht anders erwartet, war der zweite Mann gleich zur Stelle.
Ich muß schon sagen, Prokop von Bila hatte alles bedacht. Kaum waren wir außer Hörweite der übrigen Gondolieri, beglückwünschten die beiden Ruderer mich zur Flucht und machte mich auf den Imbiß und die Flasche Champagner aufmerksam, die wir in der guten Stunde Reisezeit bis Mestre getrost leeren sollten.
Heute habe ich den Verdacht, Prokop von Bila schämte sich damals ein wenig vor mir. Sein Vorgänger hatte mir ein Jahr meines Lebens gestohlen - wollte ich überhaupt noch etwas mit dem Rat zu tun haben? Man hatte beschlossen, mich nicht zu töten. Also mußte man mit diesem Risiko leben. Was mich schließlich, bereits in dieser ersten Stunde meiner Freiheit, mit dem Rat versöhnte, war nicht der Champagner, sondern der Canale della Giudecca im Licht eines herrlichen Sonnenaufgangs. Der Duft des Wassers. Das Prickeln auf der Haut, wenn mich ein Spritzer im Gesicht traf. Das vergessene Gefühl eines glattrasierten Gesichts, das vom Wind gestreichelt wird. Welch eine Lust zu leben!
Wenn nur Pater Balbi nicht gewesen wäre! Lange bevor wir Mestre erreichten, hatte er die Champagnerflasche geleert und belästigte nun nicht nur mich, sondern auch die Ruderer mit einem solchen Sturzbach champagnersäuselnder Fragen, daß sich der eine schließlich, nur halb im Scherz, bei mir erkundigte: „Schmeißen wir ihn ins Wasser?“
Das machte Balbi stumm. Wir gelangten unbehelligt nach Mestre, wo ich mich von den liebenswürdigen Ruderern mit fünfzig Zechinen Trinkgeld verabschiedete. In der Osteria della Campana stand unsere Kutsche bereit. Die Geschichte mit Balbis Tasse Chocolade und dem Spitzel Tomasi, hat sich genau so zugetragen, wie ich sie andernorts aufgeschrieben habe. Noch heute bin ich froh, daß ich den unglückseligen Tölpel nicht erschlagen mußte!
Mich setzte die Kutsche im Haus des Sbirren ab, wo ich von meinem allerhöchsten Herrn erwartet wurde. Den Balbi brachte sie auf das Gebiet des Erzbischofs von Triest in Sicherheit. Ihn sah ich erst in Augsburg wieder.
Der princeps empfing mich ohne Wachen oder Dienerschaft, an einer reich gedeckten Tafel und wartete mir persönlich auf. Als ob ich im vergangenen Jahr vorwiegend unter dem Hunger gelitten hätte! Zum Glück sah Prokop von Bila die Komik seiner irregeleiteten Fürsorge bald ein und nötigte mich nicht weiter, sondern ließ mich ein Weile ruhig am Fenster sitzen. Aus irgendeinem Grund liefen mir Tränen übers Gesicht, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Als das vorbei war, fühlte ich mich erleichtert und nahm zwei hauchdünne Scheiben Parmaschinken und etwas florentinisches Mandelgebäck.
„Sie haben recht behalten, Casanova“, sagte Bila schließlich. „All Ihre Warnungen haben sich bewahrheitet. All unsere Befürchtungen sind eingetroffen. Mein Vorgänger hat Ihnen bitter Unrecht getan.“
„Ja“, sagte ich.
„Ich vermute jedenfalls, daß er damals Ihre Verhaftung veranlaßte. Beweise habe ich nicht. Bevor wir jedoch ins Detail gehen“, sagte er, „muß ich wissen, ob Sie unter diesen Umständen überhaupt weiter dem Rat dienen. In Ihrem speziellen Sonderfall würde ich, falls Sie es wünschen, eine Entlassung verfügen, obwohl derlei natürlich sonst nicht vorkommt. Brauchen Sie vielleicht Urlaub, um zu Kräften zu kommen? Oder Bedenkzeit?“
Mir strömten neue Tränen übers Gesicht und da ich immer noch die Kleider meiner Flucht trug, war Bila so taktvoll, mir sein eigenes parfümiertes Spitzentuch anzubieten.
Wozu brauchte ich Bedenkzeit? Ich war nicht freiwillig aus dem Intrigenspiel der hohen Politik ausgeschieden und wer einmal von diesem süßen Gift gekostet hat, will den Geschmack nicht mehr missen. Ich hatte mich gewöhnt an ein Leben des Abreisens und Ankommens. In meiner geliebten Heimatstadt Venedig konnte ich nicht mehr wohnen. Hier war ich der entflohene Sträfling. War nicht der Rat die letzte Heimat, die mir blieb? Wozu also Bedenkzeit? Prokop von Bila schien erfreut, als ich meinen Entschluß kundtat.
„Dann schlafen Sie jetzt ein paar Stunden“, sagte er. „Sie werden es brauchen.“ Er goß mir aus einer Phiole acht Tropfen in ein Glas Weißwein. Ich zögerte keinen Moment. Wenn er mich töten wollte, hätte er weniger Aufhebens gemacht.

Lange bevor ich mit den Botschaftern trank und feierte und die Geliebten teilte, hatte sich eine starke Opposition gegen Stefan von Szemere formiert, wie ich erfuhr, als ich einen halben Tag später erwachte, und - nun wirklich hungrig - herzhaft zugriff. Prokop von Bila war als successor ihr natürlicher Mittelpunkt. Der Plan der Heiligen Liga gegen die Hohe Pforte war zwar meiner Initiative entsprungen, aber er hatte weite Kreise des Rates spontan überzeugt. Und es war ja kein Geheimnis, daß Stefan von Szemeres ungarische Güter gerade in jenem Gebiet lagen, wo die ersten Verwüstungen eines Kriegs drohten. In dieser Konstellation gewann Prokop von Bila zusätzliche Glaubwürdigkeit dadurch, daß er den Plan unterstützte, obwohl auch seine tschechische Familie in jenem Landstrich reich begütert war. Als Stefan von Szemere schließlich plötzlich und unerwartet binnen weniger Tage verstarb, an einem Leberriß, den er sich beim unglücklichen Sturz auf die Bordwand einer Gondel zugezogen hatte, war er längst ein einsamer Mann.
„Vorher konnte ich nichts für Sie tun“, rechtfertigte sich Prokop von Bila, „außer den Kontakt zu Basadonna pflegen. Aber danach habe ich sogleich alles in die Wege geleitet. Von ihren Freundinnen MM und CC soll Sie grüßen. Wollen Sie sie noch einmal sehen?“
Wollte ich? Ich war erschöpft. Ich hatte länger als ein Jahr nicht einen Brief von ihnen gelesen. Irgendwo war uns die Liebe abhanden gekommen. Und ich hatte keine Lust, erst alte Wunden neu aufzureißen, um dann Venedig, samt meinen beiden Nonnen zu verlassen - höchstwahrscheinlich für immer.
„Gut“, sagte Bila, „wie Sie wünschen. Dann hören Sie also Ihren neuen Auftrag. Sie reisen nach Paris. Dort wird in Kürze ein Attentat auf den König stattfinden, jedoch ohne Erfolg. Sie werden Ihren Kontakt zum Kardinal Bernis erneuern, der inzwischen Außenminister Frankreichs ist. Und dann werden Sie Frankreich zu einer hübschen kleinen Lotterie verhelfen. Alles Nötige finden Sie in Ihren schriftlichen Anweisungen. Wenden Sie sich nicht an das Pariser Archiv!“

Das brauchte er mir nicht zweimal sagen! Ich hatte in Paris mein altes Netz aus Freimaurern und Schauspielern. Wozu brauchte ich das Archiv, dessen legat dank Stefan von Szemere ohnedies eine Fehlbesetzung war? Wir besprachen, wie wir eine Spur durch das Staatsgebiet Venedigs legen wollten durch eine fingierte Begegnung mit Signor Grimani und einen scheiternden Versuch, mir Geld zu leihen. Bila händigte mir Wechsel über insgesamt fünftausend Zechinen aus. Über München reiste ich nach Augsburg, um von Pater Balbi Abschied zu nehmen. Der Tölpel sollte später tatsächlich erneut unter den Bleidächern landen. Er starb1785 im Elend. Verrat geübt hat er nicht.