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Dossier Störtebeker

Aus Iohannis Nota de Montis:

Der Norden - und vollends dieser Landstrich zur Ostsee hin, die mit ihrem Finger Schlei, halb Salz- halb Süßwasser, weit ins Festland hineinzeigt, nach Schleswig und fast bis Gottorp - war Meister Hans von Mont nicht geheuer. Nirgends schwere Ackerböden. Alles kam ihm dürftig vor. Sogar die Entengrütze auf den Teichen glibberte dünnsuppig. Kargheit, wohin das Auge sah.
Gut Olpenitz, südlich der Schlei gegenüber dem Fischerdorf Kappeln gelegen, machte da keine Ausnahme. Auf den ersten Blick wirkte der Hof stattlich, doch dem Meister vom Kölner Archiv entging keineswegs, wie mager die borstigen Ähren am Halm standen, selbst kurz vor der Ernte. Wie gut, daß Schweden Weizen exportierte, denn mit hiesigem Ertrag konnte man nicht viel Volk am Fressen halten.

Meister Hans hob den Arm und hinter ihm stoppten Männer und Planwagen. Links glitzerte die Schlei, die kurz vor der Münde schon weit wurde wie ein Trichter. Rechts ging es durch einen Hohlweg hinab, an dessen Ende Meister Hans Schuppen und Stallungen erkannte, die bereits zum Gasthof gehörten.
Er ließ abspannen. Die beiden Planwagen wurden ins lichte Unterholz gezogen. Meister Hans befahl vier Mann, sie mit Buchenzweigen zu tarnen. Gleich darauf verlor er fast die Beherrschung, als er mitbekam, wie seine Leute nach den Äxten griffen. Es ging doch nur um dünne Zweige! Warum, verdammt, nahmen sie nicht die Messer? Warum mußte man alles dreimal erklären? Durch das halbe Kaiserreich hatte sich die Jagdgesellschaft angepirscht, verkleidet als Handelszug mit einer Bedeckung von reisigen Knechten. Sollten jetzt ein paar laute Axthiebe das Wild verscheuchen? 
Sie waren Menschenjäger. Meister Hans von Mont. Sein Stellvertreter Jobst Huen. Gero der Große, Gero der Kleine, der eigentlich nur etwas kürzere Arme hatte - und sechzehn Söldner der besseren Sorte. Das mit der besseren Sorte hatte Meister Hans sich zumindest eingebildet, bevor er sie jetzt zu den Äxten greifen sah. Warum gab es so wenige gute Männer - für soviel gutes Silber?

Den Meistern des Kölner Archivs war allerhand zu Ohren gekommen über diesen Gasthof an der Grenze Skandinaviens, wo über der Tür ein kupferner Enterhaken hing. Natürlich war das Wissen ihnen nicht von selber zugeflogen. Sie hatten durchaus ein Jahr lang herumgehorcht und die Berichte ihrer Kundschafter verglichen. Doch nun stand fest, daß von hier aus der Schmuggel an den Sundschlössern vorbei organisiert wurde - und auch ein bißchen Piraterie. Hier fanden Seeräuber Unterschlupf, wenn sie ihr Schiff verloren. Hier tauschten Räuber des Meeres mit ländlichen Strauchdieben Nachrichten aus über leichte Beute, nicht nur zwischen Süderbrarup, Kopperby und Gelting, sondern von Friesland bis Pommern und bis weit in den niedersächsischen Reichskreis. Hier gaben Kaufleute Bestellungen auf - für Waren, die man nicht kaufen konnte. Und hier versteckten sich unehrenhaft entlassene Schiffsschreiber mit ihrem Haß - und dem Wissen um die nächste fette Prise. Dennoch wäre das Räubernest den Meistern des Archivs im fernen Köln zu unwichtig gewesen - hätte nicht dieser Gasthof zum Enterhaken einem besonderen Wirt gehört.

Das Anwesen bildete ein Hufeisen. Die Holzbauten - Ställe, Schuppen und Wirtschaftsgebäude - bleichten in der salzigen Luft. Nur das Haupthaus war ein massiver Fachwerkbau. Die beiden Flügel zogen sich so lang, daß das Haupthaus wie der Abschluß einer breiten Sackgasse wirkte. Alles war wohlversorgt, das konnte Meister Hans von oben gut erkennen. Sein Versteck im Hohlweg lag noch um einiges höher als die abschüssigen Feuchtwiesen, an deren Saum der Enterhaken stand, leidlich sicher vor Überschwemmung. Er musterte die vorderen Schuppendächer: Da klaffte nirgends ein Loch im Stroh, kein Dachsparren war da zu sehen, alles war sauber eingedeckt, sogar die Hundehütte, die aus unerfindlichen Gründen leerstand. Meister Hans nickte Gero zu - und der ritt kundschaften.

Gero der Große hatte eine falsche Augenklappe gebunden, um verwegener auszusehen, denn trotz seiner hünenhaften Gestalt und der Tatsache, daß er zwei Dutzend Männer auf dem Gewissen hatte, hatte der Mühlheimer Junge ein pausbäckiges Knabengesicht. Er ritt den Hohlweg hinab, leinte das Pferd an und trat in die Gaststube. Ein paar Gäste unterbrachen ihr Gespräch, dann steckten sie gleich wieder die Köpfe zusammen.
„Hör“, wandte Gero sich an einen Knecht, der ein Zinnkrüglein polierte, „bring Bier und hol den Wirt!“
„Bist Du mit ihm verabredet?“
„Das geht Dich einen Scheißdreck an“, schnauzte Gero. „Wir haben Geschäfte!“
„Die müssen warten. Der Herr ist fort.“
„Wohin?“
„Das wiederum, mein Freund, geht Dich einen Scheißdreck an!“
„Und wann kommt er zurück?“
„Vor morgen nicht.“

„Übel, übel“, seufzte Meister Hans. „Das heißt, wir greifen nicht an, sondern übernachten ohne Lagerfeuer im Freien. Das heißt, es gibt nur Brot und Wasser und das schöne Reh bleibt im Wagen ... na, dann halt morgen.“
Da sie zwanzig waren, also eine ansehnliche Streitmacht, hatte er nicht darauf bestanden, daß sie es genau nahmen mit den Wald- und Jagdrechten jener Herren, durch deren Land sie ritten. Das Reh wäre ein schönes Nachtmahl geworden. Über ihm krachte es. Ein morscher Buchenast fiel dicht bei Meister Hans zu Boden, als der Ausguck vom Baum schlitterte.
„Ein Reiter von Schleimünde, groß, breitschultrig, schwarzes Haar, krauser Bart“, keuchte der Söldner, „auf einem Schimmel, wie ich noch keinen je gesehen hab. Steigt beim Gasthof ab. Bringt sein Pferd in den Stall, als hätte es dort Hausrecht.“
Jobst Huen stand neben Meister Hans und hatte mitgehört.
„Das muß er sein, wir greifen an!“
„Und wenn er es nicht ist?“ fragte Meister Hans. „Nein, nein - das müssen wir genau wissen ... Gero magnus war schon in der Wirtsstube, den können wir vor morgen früh nicht wieder schicken ... Kleiner, komm her!“
Gero der Kleine rieb seinen wund gerittenen Hintern und beugte sich tief zu Meister Hans, um dessen Befehl zu hören: „Du wirst heut Nacht gut schlafen, Kleiner, abgesehen von den Wanzen.“
Gero schaute ein wenig ratlos. Dann rieb er sich wieder den Hintern, was für einen derart großen Mann mit so kurzen Armen gar nicht einfach war. Hans von Mont räusperte sich. „Gero, hast du mich verstanden? Du reitest zum Gasthof und findest heraus, ob der Schwarzbärtige unser Mann ist. Anschließend übernachtest du im Gasthof. Es wäre zu auffällig, wenn du um diese Tageszeit  noch weiter rittest. Außerdem kann es nicht schaden, wenn du dich umschaust. Morgen früh bezahlst du deine Zeche, brichst zeitig auf und kommst zu uns zurück.“
„Warum ausgerechnet der?“ maulte Jobst Huen, als Gero fort war. „Warum nicht ich?“
„Denken schändet doch nicht“, seufzte Hans von Mont, „es ist August und trotzdem sind die Nächte feucht. Wir muten den Männern ein Nachtlager im Wald zu, da macht es schlechten Eindruck, wenn ich meinem Unterführer ein warmes Essen und einen Platz am Herdfeuer zuschanze. Laß Branntwein ausschenken!“

In den nächsten Stunden kühlte es nicht ganz so weit ab, wie in Nächten zuvor, so daß die Männer bei Sonnenaufgang kaum über steife Gelenke klagten. Bald nach Sonnenaufgang kam Gero.
„Einen riesigen Humpen Bier stürzt er, als ich eintrete. Schluckt und schluckt ohne abzusetzen, ganz so, wie man es immer von ihm hört. Zwar troff etliches daneben“, erzählte Gero, „aber der Kerl ist zweifellos der Herr im Haus. Hat übrigens ein schönes Weib, alles was recht ist.“
Außerdem erfuhr Meister Hans, daß ein Trupp von fünf Halunken im Aufbruch begriffen war. Sie warteten nur noch, daß ihnen der Breikessel gewärmt würde. Wenn sie freiwillig abzogen - wozu sie bekämpfen?
„Dann haben wir es nur noch mit fünf Mann zu tun“, sagte Gero, „den alten Knecht inbegriffen, der das Faß bewacht. Der ist kein Gegner.“
Meister Hans verteilte seine Leute: einer blieb als Wache beim Lager. Zwei auf jede Seite des Gebäudes. Jobst Huen mit drei Mann aufs Dach. Mit den übrigen sechs wollte Hans von Mont die Gaststube stürmen. „Und denkt daran“ schloß er, „ich brauch ihn lebend!“ Also blieben die Armbrüste auf dem Planwagen. Zuerst brach jene Zweiergruppe auf, die die Rückseite des Haupthauses decken sollte und den weitesten Weg hatte. Die beiden Flankengruppen folgten. Dann Meister Hans. Um nicht vorzeitig Krach zu schlagen, sollte Jobst Huen mit den Seinen erst aufs Dach, während Meister Hans schon den Gasthof stürmte.

Die Räuber wähnten sich so geborgen, daß sie nicht einmal Posten aufgestellt hatten. Alles saß einträchtig beim Morgenbrei und schaute noch verdutzt zur Tür, als die beiden Geros sich schon mitten unter sie stürzten, den Schwarzbart  packten - und sofort merkten, daß sie da an den Falschen geraten waren.
Während es mit der übrigen Bande nur zu etwas Gerangel kam in der engen Gaststube, kämpften Schwarzbart und sein Weib wie die Berserker. Die strohblonde Friesin rammte dem großen Gero ihre Haarnadel durch den Arm, so daß die Spitze hervorstak. Gero brüllte vor Schmerz, ließ los und das verschaffte Schwarzbart Luft, sich der Umklammerung Geros des Kleinen zu entwinden und nach dem Schürhaken zu greifen, während die Friesin den Dolch aus dem Gürtel ihres Mannes riß. Schwarzbart holte aus - wobei er die Hakenspitze versehentlich einem Kumpan durch den Hals zog, der sofort schrecklich zu bluten anfing. Dann schlug er zu. Die beiden Geros duckten sich unter dem Schlag weg, Meister Hans spürte den Luftzug des geschwungenen Hakens im Gesicht, und schon war Schwarzbart mit seiner Frau auf der Stiege zum ersten Stock. Wieder und wieder sauste der Schürhaken durch die Luft und hielt jeden auf Abstand, während Schwarzbart die Stiege freihändig rückwärts erklomm. Seine Frau - die Dolchklinge zwischen den Zähnen - hielt sich immer eine Sprosse höher und ihren Mann am Gürtel gepackt, um ihm Gleichgewicht zu verschaffen. Mit der anderen Hand packte sie in die Sprossen. Und so verschwanden sie nach oben, Schritt für Schritt - zwei Söldner ihnen nach.

Der Brei duftete, das Bierfaß stand hübsch reinlich aufgebockt und Meister Hans von Mont nahm einen guten Schluck, während er auf das Gepolter oben lauschte. Seine Männer lud er ein:
„Greift zu! Sie wollen übers Dach. Dabei laufen sie Jobst Huen ins Messer. Nichtmal der Schwarzbart kann seinen Haken schwingen, während er aus der Dachluke klettert.“
Der Mann, der den Haken in den Hals bekommen hatte, röchelte erbärmlich in einer großen Lache Blut. Hans von Mont musterte ihn mitleidig, aber noch bevor er eine Entscheidung fällen konnte, war der Räuber tot.
Meister Hans wandte er sich den übrigen zu. Dem alten Knecht zitterte vor Wut das Kinn. Ein zweiter Mann, der Kleidung nach zu urteilen auch er ein Knecht Schwarzbarts, hatte sich gutwillig in die Ecke drängen lassen. Erst der nächste Gefangene interessierte Meister Hans. Kleingewachsen. Muskulös. Knappe dreißig. Gesicht von seltenem Ebenmaß. Das Wams aus feinstem Tuch und auf der Brust silberdurchwirkt wie das Kleid eines Fürsten ... Meister Hans gab der Versuchung nach, ihn aus der Reserve zu locken und trat hocherfreut auf ihn zu.
„Ihr müßt Henning sein, Henning der Pfahl, Leute wie Euch können wir brauchen, hab ich recht, Männer?“ 
Leider mißlang sein Versuch. Gero der Kleine kümmerte sich um die Wunde Geros des Großen. Die Köpfe der übrigen Söldner waren zu schwerfällig für das Spiel. Nur Henning der Pfahl, der bekannt war für seine Eitelkeit, spielte geschmeichelt mit: 
„Natürlich bin ich's! Steh zu Diensten!“
„Das ist schön von dir“, sagte Meister Hans. Er tippte drei Söldnern an die Brust und befahl: „Du, du und du - bringt ihn raus und hängt ihn auf!“
Inzwischen war es oben still geworden. Henning der Pfahl war ein Bandit, der Geiseln verschleppte, um Lösegeld zu erpressen. Doch das war es nicht, was Meister Hans so maßlos erboste. Hans von Monts Wut galt der Tatsache, daß Henning sich daran ergötzte, zuerst das Lösegeld einzustreichen, um dann seine Geiseln, Männer wie Frauen wie Kinder, auf spitze Holzpfähle zu setzen. Der Ruf dieses Mannes war von der Küste bis nach Köln gedrungen. Kaum war er draußen, schwang die Tür wieder auf und Jobst Huen stieß die gefesselte Hausfrau herein.
„So!“ sagte der Meister, „da hätten wir also Keno tom Brokes kratzbürstig Töchterlein, wenn ich nicht irre! Wischt das Blut und schafft die Leiche raus!“ Als die Häuptlingstochter nicht aufhören wollte, zu zetern, fügte Meister Hans noch hinzu: „Knebelt sie!“
Der Raum war nicht groß, hatte aber einen Boden aus gemauerten Ziegeln. Der Kessel über dem Herdfeuer war aus blankpoliertem Kupfer. Die Zinnkrüglein standen alle in einer Reihe und die Tür hatte ein eisernes Schloß. Das Kleid der ostfriesischen Häuptlingstochter hätte sich ohne weiteres in einem Hamburger oder sogar Kölner Patrizierhaus sehen lassen können. „Da brauchen wir nicht lange mehr zu fragen, woher der Reichtum stammt“, murmelte Meister Hans. Er trat zum Faß, zapfte sich Schwarzbarts Riesenhumpen voll Bier und sprach:
„Bringt mir den Störtebeker!“

Claas Störtebeker, Kaperkrieger und Likedeeler, Vitalienbruder und Seeräuber, der Mann, der eigentlich auf dem Hamburger Grasbrook enthauptet worden war, hockte gefesselt an Händen und Füßen auf einem Melkschemel vor Meister Hans und war höchst lebendig.
„Einen Schluck Bier, Kapitän?“ fragte Hans von Mont.
„Bin Gastwirt. Kein Kapitän.“
„Na, dann eben nicht. Holt Planwagen und Pferde, seht zu, daß das Reh gebraten wird, bringt mir eine Armbrust, treibt die Kühe aus dem Stall ... ach ja, und unsere Pferde bringt ihr in den Kuhstall, nicht zu Störtebekers Pferden.“
„Was tut ihr?“ schimpfte der Gefesselte. „Wie soll ich meine Kühe denn je wieder finden?“
„Gar nicht. Sowenig wie deinen Namen. Jobst, hau ihm in die Schnauze!“ sagte Meister Hans. Was auch pünktlich geschah, genau so pünktlich, wie die Söldner nun aufsprangen und ihre Aufträge erledigten.
Als es bis auf den Hof nach Reh duftete und alle Männer ihren Krug in der Hand hielten, sogar die Wachen draußen an der Straße, fragte Hans von Mont nochmal: „Bier, Kapitän?“
Störtebeker schwieg. Ein ausgeschlagener Zahn klebte in seinem Mundwinkel. Trotzig starrte er geradeaus. Meister Hans trat zum Herd und entzündete einen langen Kien.
„Kleiner Gero“, sagte er betont freundlich, „laß den großen Gero jetzt in Frieden. Die Armwunde ist versorgt. Nimm diesen Kienspan und setzt den Pferdestall in Brand. Wir haben ja gesehen, wie der Kapitän an seinem Schimmel hängt.“ Eigenartigerweise lachte Störtebeker nur kurz und verächtlich auf, so daß Hans von Mont Gero zurückrief, der gerade auf den Hof hinauswollte. „Lassen wir das, Gero“, sagte er. „Der Kapitän ist zu schlau für uns. Er begreift, daß Feuer und Rauch die Leute vom Gut herbeirufen würden. Die können wir nicht brauchen. Hol mir statt dessen den Schimmel auf den Hof. Halt ihn gut fest beim Zaumzeug! Oder wollt Ihr jetzt doch lieber mit mir reden, Kapitän Claas Störtebeker?“

Während Störtebeker brüllte, als hätte der Bolzen aus der Armbrust ihn selber getroffen, brachen die Söldner in Jubel aus, als der Schimmelhengst mit einen sauberen Blattschuß zusammenbrach. Kopfschüttelnd reichte Hans von Mont die Armbrust Jobst Huen.
„War das nun nötig?“ fragte er.
„Schinder!“ brüllte der Kapitän. „Abdecker, gottverfluchter! Henkersknecht!“ Die blonde Friesin spie dem Meister vor die Füße.
„Ach!“ sagte Meister Hans. „Und wie viele Schiffe hast du verbrannt? Mit Männern drin, nicht nur mit Pferden? Wie viele Männer husten und spucken zu dieser Stunde blutige Fetzen ihrer Lunge, weil sie als deine Geiseln Monate im feuchten Verlies angekettet waren - auf Rügen oder in Friesland - bis du das Lösegeld kassiertest? Hast du die Witwen und Waisen gezählt? Willst du zu deinem Leben stehen? Willst du der Störtebeker sein - oder ein feiger Wicht?“

„Sag bloß nichts!“ riet die Frau.
„Komm mit, nach nebenan, vorlaute Fratze!“ zischte Hans von Mont. Er packte die Tochter Keno tom Brokes an ihren gefesselten Handgelenken und zerrte sie in die Speisekammer, wo er sie grob in die Lageräpfel stieß. Er zog sich den Hosenlatz aus dem Gürtel und setzte ihr die Messerspitze unters Kinn.
„Schrei“, befahl er. „Schrei, was du kannst ... für deinen Claas ist es das beste, genau wie für dich, denn wenn ich hier erfolglos rausgehe, kommt der Nächste - und der gibt dir dann Grund zum Schreien.“ Also schrie Schwarzbarts Frau lang anhaltend wie am Spieß und genau im richtigen Rhythmus. „Gut!“ lobte Meister Hans endlich, als er seine Fingernägel mit dem Dolch gesäubert hatte, „das reicht!“ Als er in den Gastraum trat, war er immer noch damit beschäftigt, umständlich seinen Hosenlatz zu schließen. Störtebeker starrte ihn haßerfüllt an, mit blutunterlaufenen Augen, die schier aus den Höhlen platzten.
„Nun, mein tapferer Kapitän, wen schicken wir als Nächsten zwischen die Schenkel deiner Frau?“ fragte der Meister.
„Krieg ich jetzt endlich mein Bier?“ fragte Störtebeker. Meister Hans nickte Gero zu.
„Wir hatten immer Kaperbriefe“, begehrte Störtebeker auf. „Die mecklenburgischen Herren führten mit uns den Krieg im Norden. Wir haben Stockholm versorgt, als es belagert wurde. Deshalb nannte man uns die Vitalienbrüder. Wir waren kriegführende Partei - nicht Seeräuber.“
Gero setzte dem Kapitän den hölzernen Bierhumpen an die Lippen und gab ihm zu trinken, achtete aber auch darauf, daß hin und wieder ein ordentlicher Schwall daneben schlabberte und Störtebekers Wams befleckte.
„Prosit, mein Kapitän“, spottete Hans von Mont. „Gib ihm noch mehr, Gero! ... inzwischen wollen wir prüfen, für was ihr überall gekämpft habt, wie hieß das doch so schön: Gottes Freund und aller Welt Feind!“
„Mit Ausnahme der Hanse“, warf Störtebeker ein.
„Mit Ausnahme der Hanse“, wiederholte der Meister. „Ihr habt also für Albrecht von Mecklenburg und gegen Königin Margarete von Dänemark gekämpft. Zwischendurch habt ihr Hansekoggen gekapert. Dann habt ihr gegen den Deutschen Orden gekämpft. Seine Koggen aufgebracht. Und zwischendurch auch ein paar Hansekoggen ...“ Störtebeker wollte protestieren, aber er hatte schon wieder den Bierkrug am Mund. „Dann wart ihr in der Nordsee, habt es euch bei den friesischen Häuptlingen gemütlich gemacht und habt zur Abwechslung einmal Hansekoggen ausgeraubt. Dann habt ihr Bergen überfallen, die Engländer dort ausgeraubt - jedoch die Deutsche Brücke, das Stapelhaus der Hanse, verschont. Für Ziele habt ihr nie gekämpft - stets nur für Beute!“

Der Standpunkt der Gründer war vergleichsweise übersichtlich. COT favorisierte die Hanse, all ihren Mängeln zum Trotz und gegen die kalmarische Union. Das europaweite Netz der Kaufleute und Städte war wichtiger, als die große territoriale Einheit im Norden. Die Hanse diente der Einheit des Orbis. Die Hanse war das Element, in dem die Gründer sich unkontrolliert durch Mittel- und Nordeuropa bewegten. Insofern erfüllte die Hanse eine ähnliche Funktion, wie die Ritterorden früherer Tage. Und nicht zuletzt war die Hanse eine wichtige Geldquelle für COT.
Dennoch hätten die Gründer am liebsten beides gefördert - Hanse und Union von Kalmar. Doch da gab es das Problem der Sundschlösser, wo für die Passage zwischen Nord- und Ostsee Zölle erhoben wurden, so daß der Besitz von Meerenge und Festungen einen ewigen Neid- und Streitpunkt darstellte.
„Aber das kennst du ja, Kapitän“, schloß Hans von Mont. Das kennt ja alle Welt. Wie war das eigentlich damals im 1380er Jahr...“
 „...ach etwa - die Ächtungen in Wismar!“ spöttelte Störtebeker. „Meine Knochen hätten sie mir gebrochen und fünf blaue Beulen geschlagen, die Angeber, das war doch alles gelogen ... genau umgekehrt war‘s. Sie wollten mir beweisen, daß sie mächtig genug waren, Recht zu beugen und Wismars Verfestungsbuch zu fälschen! Als ob mich das beeindruckt hätte! Aus irgendwelchen Gründen hatten sie ihren Haß auf Craan, Balhorst und Boldelage.
Sie gaben mir den Goldfuchs und versprachen einen zweiten, falls ich die drei grausam verprügelte. Natürlich verdiente ich mir das Geld. Vielleicht wollten sie auch nur sehen, ob ich ordentlich dreinschlagen konnte. Jedenfalls taten sie groß und spreizten sich, wie überaus geschickt sie alles eingefädelt hätten. Balhorst, Boldelage und Craan steckten nicht nur die Prügel ein, sondern wurden überdies aus der Stadt verbannt - weil angeblich sie mich verprügelt hätten, mich und den Diener, der überhaupt nichts mit der Sache zu tun hatte, sondern nur zufällig des Wegs kam.“
Hans von Mont senkte den Kopf über die Schüssel mit dem schönen Stück Rehkeule und atmete den Duft tief ein. Fleisch war doch was anderes! Besser als Hering, des Christen Fastenspeise, die der Krieg so maßlos verteuert hatte, daß noch in Böhmen und Norditalien die Kinder wegstarben, in jenen schlimmen drei Jahren ab 1392, als die Vitalienbrüder den Öresund sperrten.
„Steck ihm ein Knöchelchen zwischen die Zähne, Gero. Dann hat er was zu nagen“, sagte Meister Hans. „Und gib der Frau gleich auch eins, sie hat es sich verdient ...“
„Hast du sie etwa ...?“ fuhr Störtebeker auf, an seinen Fesseln zerrend.
„Nein, hab ich nicht“, lachte Hans von Mont, „aber ihrem geilen Winseln verdankst du deine heilen Glieder.“
Eine zeitlang kaute und nagte alles still vor sich hin. Als Meister Hans satt war, lehnte er sich zurück.
„Und nun?“ fragte Störtebeker.
„Nun bekamst du Gelegenheit, einen Vertrag zu unterzeichnen, nicht wahr, wo du in den höchsten Tönen gelobt wurdest: ...der Nicolaus Störtebeker, auch Claas genannt, der fürchtet weder Mensch noch Gott und achtet auch den Teufel nur, wenn der ihm hilft. Ich habe deine linkische Unterschrift gesehen.“
„Bist du einer von ihnen?“
„Von wem?“ fragte Meister Hans.
„Von denen, die mich anwarben? Von der Schwarzen Hanse?“
„Ich bin nicht von der Schwarzen Hanse“, sagte Meister Hans. „Und du wurdest dann jedenfalls Leichtmatrose.“
„Ja“, sagte Störtebeker. „Aber mit den Jahren diente ich mich hoch. Während ich anfangs nur berichtete, bei unseren gelegentlichen Treffen ein-, höchstens zweimal im Jahr, war es bald schon soweit, daß man mich bat, meinen Einfluß geltend zu machen.“
„Gegen Bezahlung natürlich“, sagte Hans von Mont.
„Wir sitzen in der Bezahlung!“ Störtebeker beschrieb mit seinem Kopf, dem einzigen Körperteil, den er frei bewegen konnte, einen vielsagenden Kreis durch die Gaststube. „Tja“, fuhr Störtebeker fort, „die Hanse und die Bezahlung! Seit 1364 war Albrecht von Mecklenburg König von Schweden. Richtig lustig wurde es im Norden aber erst 1387, als Margarete I., Waldemar Atterdags Tochter, nach dem Tod ihres Sohnes Olaf die Königswürden von Dänemark und Norwegen übernahm, das widerliche Weib, das tückische! Und als es dann zum Krieg kam zwischen Albrecht und Margarete, spielte der Tod zu einem flotten Tänzlein auf.“
„Alles bekannt“, sagte Meister Hans. „Halt keine Predigten! Mich interessiert, was lange vorher mit der Decke Trumm geschah, nachdem sie von Narwa ausgelaufen war, voll Flachs und Honig! Wie ging sie verloren? Und im selben Jahr 1386 kamen Freunden von mir fünfundzwanzigtausend Kupferbarren abhanden. Fällt dir dazu was ein?“
Störtebeker grinste böse: „Was fragst du denn, wenn du es weißt? Die Boten von der Schwarzen Hanse steckten uns ein Zettelchen zu. Wir kaperten die Schiffe und verkauften die Prise in Wismar für ein Drittel ihres Werts. Für uns ein guter Schnitt. Für die Schwarze Hanse erst recht.
Dann gab es die Schlacht von Falköping. Margarete siegte und König Albrecht geriet in die Gefangenschaft. Für lange, lange Jahre.“ Störtebeker schmunzelte. „Das weckte in seinen  mecklenburgischen Stammlanden natürlich keine rechte Begeisterung.“
„Bei mir noch weniger“, sagte Hans von Mont. „Komm zur Sache!“
„In Schweden blieb von der glorreichen Mecklenburgermacht nur Stockholm, wo eine starke deutsche Besatzung lag. Stockholm konnte von Margarete nicht genommen werden. Das einzige Problem der belagerten Stadt war ihr Nachschub. Und hier kamen wir ins Spiel ... die Vitalienbrüder. Von See her versorgten wir die Stadt mit Lebensmitteln und allem anderen.“
„Nein, wie rührend!“ sagte Meister Hans. Störtebeker und seine Frau wechselten ein paar rasche Worte in friesischem Dialekt, den niemand außer ihnen verstand, so daß Hans von Mont sich genötigt sah, die Frau fortschaffen zu lassen. „Du spielst mit eurem Leben, Kapitän! Wenn du mich ärgerst, seid ihr beide tot. Ich bin auf deine Plauderei nicht angewiesen. Sie rundet lediglich mein Bild ab - brauchen tu ich dich nicht.“
Störtebeker zuckte die Achseln.
„Du kennst wohl die Kaperbriefe, die uns in den Mecklenburger Häfen ausgestellt wurden? Rostock und Wismar öffneten ihre Häfen all jenen, die Margarete von Dänemark schädigen wollten. Immerhin hielt Margarete Albrecht von Mecklenburg nach wie vor gefangen und die Mecklenburger waren, wie ich bereits sagte ...“
Hans von Mont verdrehte die Augen zur Decke. „Stell dir vor, das hat sich sogar bis zu mir herumgesprochen. Genauso wie die Tatsache, daß der Konflikt damit nun quer durch die Hanse verlief. Wismar und Rostock waren schließlich nicht nur getreue Städte Mecklenburgs, sondern gehörten überdies zur Hanse. Aber das will ich alles gar nicht wissen. Ihr hattet also Kaperbriefe ... führtest du zu dieser Zeit überhaupt schon ein eigenes Schiff?“
„Noch nicht“, sagte Störtebeker.
„Ihr versorgtet also Stockholm mit Lebensmitteln und Waffen, über Jahre hinweg, während Margarete die Stadt belagerte und belagerte und ... in Wismar und Rostock habt ihr eure Prisen verhurt. Doch wer waren die Koofmichs von denen ihr die Zettelchen bekamt: welches Schiff, welche Route, welche Ladung, welcher Kapitän, welche Besatzung ... das will ich wissen. Wer waren eure Auftraggeber und Spitzel in den Kontoren der Pfeffersäcke? Wer gehörte alles zu jener Gruppe, die du die Schwarze Hanse nennst. Das will ich wissen!“
„Kann ich mir gut vorstellen“, sagte Störtebeker. „Aber zuerst will ich was wissen. Wer bist du?“
Plötzlich wurde es vor der Tür des Gasthofs laut. Der Verwalter von Gut Olpenitz wollte herein - zu seinem gewohnten Mittagstrunk. Den im Pferdestall baumelnden Henning hatte er zwar nicht gesehen, doch sein Argwohn war trotzdem hellwach.
„Laßt mich vorbei“, schimpfte er, „ich rieche Wildbraten! Wo kommt das Wild her, Lumpengesindel, ihr wart doch wohl nicht in den Wäldern meines Herrn?!“
Hans von Mont trat hinaus und musterte die Gestalt, die zwar
schimpfte und mit den Armen fuchtelte, sich aber gleichwohl nicht vom Fleck traute, weil drei Armbrüste auf sie zielten.
„Fesselt ihn und werft ihn in den Keller“, befahl Meister Hans. „Und vor allem - stopft ihm das Maul. Er stört!“ Hans von Mont drehte sich auf dem Absatz um und trat wieder ein.
„Du hast noch nicht geantwortet“, sagte Störtebeker. „Wer bist du und was willst du?
Meister Hans wog Vor- und Nachteile von Offenheit. Dann sagte er: „Wir sind die Herren jener Leute, die du als Schwarze Hanse bezeichnest. Wir sind die Herren der Leute, denen du verdankst, daß du deine eigene Hinrichtung überlebt hast. Wir sind die Herren deiner Herren. Unsere treulosen Knechte haben dich bezahlt. Ich komme, um Gericht zu halten. Auch über dich und deine Untaten. Sei ehrlich - und du behältst vielleicht dein Leben, denn wir suchen Beweise gegen unsere treulosen Knechte. Sei ehrlich - und wir finden vielleicht eine Verwendung für dich ... oder willst du ewig hier an Land versauern? Sollte ich jedoch Gründe finden, deine Ehrlichkeit zu bezweifeln - stirbst du. Und mit dir deine Frau. Kein Zeuge bleibt am Leben.“
Störtebeker wiegte zweifelnd den Kopf. „Ausgerechnet du willst mich vor der Schwarzen Hanse schützen? Übernimmst du dich da nicht?“
„Es gibt keine Schwarze Hanse!“ sagte Meister Hans. „Es gibt nur ein paar Pfeffersäcke, die in unserem Auftrag Geschäfte besorgten - und uns dabei verraten haben. Und - ja, ich kann dich schützen, denn ich bin magister Johannes von Mont, ein Meister des Kölner Archivs.“
„Was immer das heißt“, brummte Störtebeker. „Also gut - ich war Pirat. Dann war ich auch Vitalienbruder. Hauptsächlich aber war ich und blieb es - seit ich zum erstenmal meinen Fuß auf Schiffsplanken setzte - Diener der Schwarzen Hanse. Ein Wink von mir zur rechten Zeit hat so manche ihrer Koggen gerettet. Oder sie gaben mir den Wink. Wir kaperten ein Schiff, das Bienenwachs aus Nowgorod geladen hatte. Das Schiff erreichte London nicht. Und mein Auftraggeber, der im Stahlhof schlechtes Bienenwachs liegen hatte, konnte den Zentner für drei Pfund Sterling verkaufen - ein dreifaches vom Wert. So lief das. Wir verknappten auf Anfrage die Waren. Oder wir kaperten Waren, die unsere Auftraggeber gerade nicht am Lager hatten. Oder wir schalteten Konkurrenten unserer Auftraggeber aus. Oder ...“
„Wer waren deine Auftraggeber?“ fragte Hans von Mont. „Ich will Namen!“
„Ich kenne nur drei. Die Hanseherren Wigald Leyderburg, Tonius de Stade und ...“
„Laß mich raten“, unterbrach Meister Hans, „Hinrik Lange?“
Störtebeker nickte.
„Getroffen habe ich sie höchstens zwei dutzend mal in zwanzig Jahren. Ganz selten bekam ich alle drei zu Gesicht. Wesentlich öfter hatte ich nur mit Boten zu tun.“
„Wo?“
„Überall. Hamburg. Rügen. Fehmarn. Wismar. Rostock. Hier im Gasthof. Auf hoher See. Auf Gotland, in Marienhafe, auf Schloß Loquard in Friesland ... überall und nirgends. Was ich aber noch sagen will: Leyderburg, Stade und Lange - die drei handelten nicht auf eigene Faust. Sie hatten, das klang in den Gesprächen oft durch, Hintermänner, mit denen sie sich vor wichtigen Entscheidungen berieten. Um deiner Frage vorzugreifen: die Namen dieser Hintermänner sind mir unbekannt, auch wenn du mich jetzt totschlägst.“
„Aber, aber“, sagte Meister Hans. „wer spricht von schlagen? Wir würden doch nichts überstürzen! Zeit lassen würden wir uns! Also schön. Bald war die Handelsschiffahrt auf der Ostsee nur noch im Geleitzug möglich. Unterm Schutz von Friedensschiffen der Hanse, die den 320ten Teil jeder Schiffsladung kosteten, was eine schreckliche Teuerung herbeiführte. Wismar und Rostock bekamen innerhalb der Hanse Schwierigkeiten, weil sie die Häfen für euch offen hielten. Trotzdem standen beide Städte treu zu ihrem mecklenburgischen Landesherrn.“ Er wiegte zweifelnd den Kopf. „Sagte ich - treu? Man mag es auch dumm nennen. Ihr wart der Schrecken der Ostsee. Und dann kam Bergen. Was war mit Bergen? Warum dieser plötzliche Vorstoß in die Nordsee, durch den Sund? Gewiß, Bergen war eine Stadt Margaretes. Und ihr kämpftet ja gegen Margarete.  Aber wenn ihr schon einmal dort wart - warum habt ihr nur Norweger beraubt und Engländer, die Deutsche Brücke mit dem Kontor der Hanseherren jedoch nicht angetastet?“
Jobst Huen trat ein, um zu melden, der Gutsverwalter stoße wüste Drohungen aus. Man werde ihn schon bald vermissen. Und dann werde man ihn suchen kommen. Und dann werde über das Gesindel vom Rhein die gerechte Himmelsstrafe hereinbrechen. Störtebeker schmunzelte.
„Vermissen? Den? Der trennt sich oft tagelang nicht vom Zapfhahn. Auf dem Gut hat ohnehin der Großknecht das Sagen.“
„Bergen!“ mahnte Meister Hans.
„Bergen war Auftragsarbeit. Leyderburg und einer der Hintermänner waren fast bankerott. Acht Koggen waren ihnen zu den Fischen gefahren im Sturm. Gewaltige Summen fehlten. Deshalb schickten sie uns los, Bergen zu plündern. Und die Deutsche Brücke haben wir geschont, weil dort die letzten Waren unserer Auftraggeber lagerten, was glaubst denn Du?“
„Schön“, sagte Meister Hans, „aber wie habt ihr eure Männer am wilden Plündern gehindert?“
„Ihr?“ fragte Störtebeker.
„Godeke Michels und du.“
„Damals gehörten weder Michels noch ich zur ersten Riege der Anführer. Da mußt du Leute fragen wie Arnd Stuke und Klaus Milies. Kapitäne aus dem Mecklenburger Adel, die ihr letztes Hemd verkauft hatten, oder ihre Burg verpfändet, um ein Kaperschiff auszurüsten. Auch unter denen hatte die Schwarze Hanse Vertrauensleute. Michels übrigens hat nie was gewußt von der Sache, der tumbe Klotz. Aber Bergen? Die Großkapitäne haben uns Bergen verkauft als Friedensangebot an die Hansestädte der Nordsee, weil sich ja auch die Männer langsam fragten, wie lange das noch gutgehen würde in der Ostsee.  Die wenigsten waren bereit, bis nach Spanien auf große Kaperfahrt zu gehen. Deshalb hieß es: Schont die Deutsche Brücke! Plündert die Engländer! Plündert die Norweger! Und bei denen haben wir dann hingelangt!
In Rostock und Wismar verkauften wir den Raub - teils direkt an Leyderburg, teils an Strohmänner, die er eingesetzt hatte, damit das Geschäft nicht gar so sehr auffiel. Er kaufte zum Zwanzigstel des Werts. Nahm uns allerdings auch alles auf einen Schlag ab, so daß wir unterm Strich recht gut dabei fuhren. Und so, mit dieser letzten verzweifelten Anstrengung, die ihn seinen letzten Groschen gekostet haben muß, hat Leyderburg sich gesund gestoßen, den Verlust der Schiffe wettgemacht und seinen Bankerott abgewendet. Das war Bergen.“
Hans von Mont biß sich auf die Lippe, um nichts zu sagen. Von Leyderburgs persönlicher Notlage hatte er nichts gewußt. Aber zu jener Zeit waren auch die Gründer im Norden Europas sehr knapp bei Kasse gewesen. Vermutlich hatte also dieser Ramschverkauf der halben Stadt Bergen mitnichten nur den persönlichen Bankrott des Herrn Leyderburg abgewendet, sondern auch die Zahlungsunfähigkeit der Gründer. Sechs jener acht gesunkenen Schiffe waren Horrea-Gut gewesen, hatten Leyderburg gar nicht persönlich gehört, sondern waren ihm nur zu treuen Händen überlassen. Leyderburg hätte doch wissen müssen, daß die Gründer ihn nicht für einen Sturm verantwortlich machten! Warum hatte der Mann trotzdem Bergen geopfert?
Inzwischen wurden Getreide, Fisch, schwedisches Eisen, Kupfer, die Erzeugnisse Rußlands immer teurer. Am schlimmsten traf es den Hering. Kaum jemand wagte noch, zum Heringsfang in die Ostsee  auszulaufen. Ab 1392 beherrschten die Vitalienbrüder für drei Jahre den Öresund, und Schweden blieb auf seinem ganzen Hering sitzen. Lüneburg wurde sein Salz nicht mehr los - denn für vier Faß Hering, die nicht verkauft wurden, blieb auch ein Faß Salz unverkauft. Lübeck, von dem man sagte, es sei auf Heringsfässern erbaut, wurde zur siechen Stadt. In Königsberg war der Hering dreimal so teuer wie zuvor. In Frankfurt am Main zehnmal so teuer. Am Fehlen des Armeleutefischs starben zigtausendfach die armen Leute.
„In der Folge“, sagte Störtebeker, „wuchs der Druck der Hanse, den Krieg im Norden zu beenden. Meine erste Kogge führte ich, als wir 1394 noch einmal mit acht wismarischen Schiffen unter Meister Hugo Stockholm entsetzten. Wir brachen die Blockade der Schweden und dann ... als uns das Eis umschloß und wir die Schweden unter den Schollen ersäuften, was für ein Tanz - danach zählten ich und Godeke Michels zu den obersten Anführern. Doch nun erzwangen die Pfeffersäcke endgültig den Frieden im Norden. Sie zwangen Mecklenburg und Margarete an den Verhandlungstisch. Die Hanse brauchte ungestörten Warenfluß. In einer Pause der Friedensverhandlungen setzten wir uns vorsorglich auf Gotland fest und nahmen es den Dänen aus der Hand. So hatten wir eine Basis, als der Friedensvertrag gesiegelt wurde und Mecklenburg uns plötzlich nicht mehr kennen wollte. Jetzt erst begann für die Pfeffersäcke der Schwarzen Hanse das ganz große Geschäft. Für sie und für uns. Nur leider ließen sich einige von uns, die beim Hehlern nicht ganz so erfolgreich waren, in die rigaischen Angelegenheit ziehen, was dann den Deutschen Orden auf den Plan rief.“
„Wieviele wart ihr damals?“ fragte Meister Hans.
„Etwa zweitausend“, sagte Störtebeker. „Aber verteilt und beileibe nicht alle auf Gotland. Was auch erklärt, warum wir dem Sohn Albrechts von Mecklenburg gestatteten, die Insel pro forma in Besitz zu nehmen - obwohl wir die faktischen Herren blieben.“
„Tja“, sagte Meister Hans, „trotzdem kamen 1398 die Schiffe des Deutschen Ordens mit viertausend Mann in Rüstung und vierhundert Pferden - und fegten euch aus Gotland und gleich aus der Ostsee, nicht wahr?“
„Wir hatten keinen Schlupfwinkel mehr. Das Bündnis mit den Pommernherzögen hielt kaum ein paar Wochen, dann fehlte uns endgültig der Hafen, um die Beute zu verscherbeln. Außerdem waren wir auf knapp fünfhundert Mann geschrumpft. Was tun?  Am nächsten lag die Nordsee  - und immerhin hatten schon etliche Jahre zuvor welche von uns im Bodmerland und im Emsigerland freundliche Aufnahme gefunden. Im Grunde lief das wie in Mecklenburg: wir halfen den miteinander und mit aller Welt verfeindeten Ostfriesenhäuptlingen bei ihren Fehden. Als Gegenleistung bekamen wir Unterschlupf und Zugang zu den Märkten, um unsere Prisen zu verkaufen - und neue Kontakte zur Schwarzen Hanse zu knüpfen, was nun, dank Hamburgs Nähe, sehr viel einfacher war als je zuvor. Rund ein dutzend mal habe ich mich seit 1398 mit Leyderburg, Stade und Lange getroffen. Es war so einfach. Nur Keno tom Brokes Spioniererei wurde bald lästig.“
„Schwiegerväter“, sagte Meister Hans. „Altes Problem.“
„Gleichwohl gewährte er Unterschlupf. Da hockten wir nun im zugigen Marienhafer Kirchturm und überlegten, wie am besten vorgehen. Die Häuptlinge Ostfrieslands wollten bald nicht mehr auf uns verzichten. Jeder warb ein paar von uns. Jeder argwöhnte, auch sein Feind und Nachbar hätte Vitalienbrüder angeheuert. Wir spielten alle gegen jeden aus. Gefahr drohte uns nicht aus Ostfriesland, sondern von Westen, von Osten und Norden. Im Westen stand Albrecht von Bayern, der zugleich Graf von Holland war und Druck auf die Ostfriesenhäuptlinge ausübte. Östlich lagen Bremen und Hamburg und ich will nicht verhehlen, daß die Herren der Schwarzen Hanse mir bald wie die Läuse im Pelz saßen mit immer anspruchsvolleren Aufträgen. Wenigstens erlaubten sie, daß wir hansische Schiffe ungeschoren ließen. Wenn wir nämlich Hansekoggen kaperten, dann machte die Hanse den  Friesen unseretwegen Feuer unterm Arsch. Da jagten wir lieber Holländer und Engländer, was sich aber indirekt doch wieder auf die Hanse auswirkte, denn England verübelte es Hamburg, daß es uns in der Nachbarschaft duldete. England legte das den Hamburgern als Verbrüderung mit Piraten aus. Schließlich beschlagnahmten die Engländer für jedes ihrer Schiffe, daß wir aufbrachten, die entsprechende Menge hansischer Waren im Londoner Stahlhof. Das brachte die Hanseherren - die von der richtigen Hanse - ganz schön ins Schwitzen. Ihre Gesandten rannten den Ostfriesenhäuptlingen die Türe ein. Sie baten und drohten, man solle uns doch endlich verjagen. Etliche Häuptlinge gaben zum Schein nach und warfen die Vitalier zur Vordertür hinaus, um uns bei der Hinterpforte gleich wieder reinzubitten. Auch zu Keno tom Brok kamen Gesandte, aber da hatte ich längst vorgesorgt, um uns den praktischen Ausguck und Schlupfwinkel im Marienhafer Kirchturm zu sichern. Ich nahm Irmgard zur Frau, Kenos Tochter. Hab‘s keinen Tag bereut.“
Inzwischen brauchte Hans von Mont den Störtebeker kaum noch auszufragen. Des Kapitäns Erinnerungen sprudelten nur so:
„1398 war die Hansemacht in Ostfriesland gelandet und hatte mehrere  Häuptlingsburgen belagert. Der Schrecken fuhr Keno, Edo Wiemken, Hisko von Emden und auch den Cirksenas in Norden und Greetsiel mächtig in die Glieder. Dauernd spürten wir Gefahr im Nacken. Aber ich war nunmal Kenos Schwiegersohn, und hielt deshalb Ostfriesland immer noch für sichere Zuflucht. Ich fühlte mich noch sicher, als am zweiten Februar 1400 der Lübecker Hansetag begann, zu dem Hamburg, Bremen, Rostock, Stralsund, Wismar, Elbing, Kampen, Deventer, Zutphen und Harderwyk ihre Gesandten schickten - und mein Schwiegervater Keno tom Brok seinen Kaplan Almer. Der mußte dort in Kenos Namen schwören, der Alte sei willens, mich aus seinem Gebiet zu vertreiben.
Natürlich war das eine Kriegslist. Keno hatte mir insgeheim in Holland neues Quartier verschafft für jene Übergangszeit, in der er der Hanse was vorgaukelte. Kaum aber war ich in Holland, da suchte mich Hinrik Lange heim - mit neuen Befehlen von der Schwarzen Hanse. Die Herren Patrizier waren, schien es, vom Größenwahn befallen, denn Lange wollte, dass ich mich vor Helgoland auf Lauer legte, um nur noch englische Schiffe zu kapern. Die blanke Narretei! Zumal der Einfluß englischer Proteste auf die jüngsten Angriffe der Hanse nur zu offensichtlich war! Man erinnerte sich in London noch sehr gut, daß die Vitalier mit den Hansestädten Rostock und Wismar verbündet waren. Auch hatte London sehr wohl vernommen, daß wir zwar aller Welt Feind - doch nicht der Feind Hamburgs und Bremens sein wollten. In England galten wir Vitalier inzwischen als unsaubere Komplizen der Hanse. Die Zeiten, da man in London noch nachgeforscht hatte, bevor man sich für ein verlorenes englisches Schiff an der Hanseware im Stahlhof schadlos hielt, waren längst vorbei.
Trotzdem sollten wir jetzt also vor Helgoland kreuzen, um Engländer abzufangen. Ausdrücklich so! Nur Engländer - die hansischen Englandfahrer sollten wir schonen. Ich verstehe bis heute nicht, was genau unseren Auftraggebern vorschwebte. Lag damals im Stahlhof nur Ware der Konkurrenz? Wenn die englische Krone nun zugriff, um eigene Kaufleute zu entschädigen - dann schädigten auf diesem Umweg Lange und seine Genossen ihre schärfsten Konkurrenten innerhalb der Hanse? So oder so ähnlich mag es gewesen sein. Ein verdeckter Machtkampf in den Reihen der Hanse. Mir fällt kein besserer Grund ein für das Wahnsinnsmanöver.
Unser Verhängnis nahm derweil seinen Lauf. Seit Februar hatten sich hansische Friedensschiffe aus mehreren Städten in Hamburg versammelt. Im Frühjahr liefen sie aus und räumten zunächst gründlich in Ostfriesland auf. Am fünfzehnten August nahmen sie Kurs auf Helgoland. Das größte Schiff der Hanse, die Bunte Kuh von Flandern war übrigens noch gar nicht dabei - dem begegnete ich erst ein Jahr später, als es uns auf der Weser angriff. Aber auch ohne die Bunte Kuh war die Flotte, die anno 1400 gen Helgoland auslief, mächtig genug. Ihre Admirale verstanden den Seekrieg. Sie hießen Nikolaus Schoke und Hermann Lange - wie ich später erfuhr ein weitläufiger Verwandter meines Auftraggebers Hinrik Lange. Sie waren Waghälse. Sie hatten Eier. Sie kamen trotz der rauhen See vor Sonnenaufgang. Meine neue Holk und die übrigen Schiffe lagen unten vor Anker, während ich noch oberlands bei Irmgard schlief, im Haus einer befreundeten Fischerfamilie. Nicht viel fehlte, und die Pfeffersäcke hätten unsere Schiffe im Hafen verbrannt - doch das wendeten wir gerade noch ab.
Heute prahlen die Angeber, sie hätten mich durch Verrat überwältigt. Mein Steuerruder hätten sie mit glühendem Blei eingegossen und fixiert! Von wegen! Verrat? Ihr Vorgehen war noch ehrloser und erbärmlicher! Sie opferten drei Koggen voll mit ihren eigenen Leuten, drei mächtige Koggen, die ich mit Glück in Brand schoß, bevor die vierte mir zu schräg vor den Bug kam und ihre Enterhaken in mein Deck bohrte. Hermann Lange und Nikolaus Schoken! Später haben sie meine Holk zersägt und das Holz klafterweise verkauft, die Schufte. Sechzehn Pfund Erlös allein aus dem Verkauf der Masten! Die Schiffsmörder! Achtzig Gefangene brachte die Hanseflotte heim - mich eingeschlossen. Sie hatten mich erstmal am Haken.
Das heißt: zunächst hatten sie nur die Holk am Haken - und nichtmal in günstigem Winkel. Unsere Vorderkastelle waren ungefähr gleich hoch. Nur dort wurde gekämpft, ein leichtes Geplänkel mit Spießen. Doch wie‘s der Teufel wollte, beruhigte die Nordsee sich jetzt, so daß die Dünung uns nicht voneinander losriß. Ich ließ mit Äxten auf die hansischen Enterhaken eindreschen, doch das vordere Drittel der Schäfte steckte in Eisenhosen. Die Schäfte hielten. Um das ganze Buggkastell in Stücke zu schlagen, war es inzwischen zu spät. Schon kamen zwei weitere Koggen längsseits. Vier oder fünf zu eins waren wir jetzt unterlegen. Unmöglich, die Reling zu halten! Schließlich kamen sie über mich mit ihrem vermaledeiten Fischernetz. Zwölf Mann.
Aber zum Glück hatten Hinrik Lange und Leyderburg vorgesorgt, so daß ich diesmal noch entkam. Mit einer Handvoll Leuten verkroch ich mich in der Wesermünde. Auf flachen, leichten, schnellen Booten betrieben wir Flußpiraterie - immer in der Hoffnung, eine Kogge oder eine ordentliche Holk zu ergattern. Natürlich hatte ich in allerhand Verstecken genug Geld liegen, um mir drei Schiffe zu kaufen. Aber was sollte ich machen? Zu einer Werft gehen? Moijn Zimmermann, ich bin der Niklas Störtebeker, baust Du mir ein Schiff? Die schwarzen Hanseherren sträubten sich, für mich als Strohmänner aufzutreten. Keno tom Brok war nicht zu sprechen. Meine Frau mußte in Helgoland als Fischermagd katzbuckeln. Ziemlich am Ende waren wir. Machten kaum Beute. Warum uns die Hanse trotzdem weiter auf den Pelz rückte, weiß ich nicht. Jedenfalls schickte Hamburg am vierundzwanzigsten März 1401 erneut eine Friedensflotte aus. Schoken und Jenevelt kommandierten. Und diesmal schloß ich persönlich Bekanntschaft mit der Bunten Kuh.
Das Schiff schaukelte auf der Weser wie eine trächtige Sau, die zu rennen versucht. Als sie uns vor Lehe aufspürten, wußte ich gleich: die pflügen uns unter. Ich konnte nur versuchen, sie auf Grund zu locken. Auf der Weser mochten wir sie, wendig wie wir waren, eine zeitlang ausmanövrieren. Auf offener See jedoch würde die Bunte Kuh uns leicht einholen. Sie war zwar schwer und plump - aber auch gut getakelt und würde das Rennen durch übergroße Segelfläche  gewinnen. Doch so weit kam es gar nicht erst. Wir lieferten ihnen ein Rennen von sechs Meilen, bis zu jenem tückischen Priel, der auf der Höhe von Otterendorp das Watt in Schwarzengrund und Weißengrund teilt. Dort drehten wir bei - in der Hoffnung, sie würden uns folgen und auf Grund laufen. Aber Nyenkerken, der Kapitän der Bunten Kuh tat uns den Gefallen nicht. Statt dessen legte er sich quer und seine Armbrustschützen jagten uns an Land, wo wir im Nu von einer Reiterrotte umzingelt waren, uns freikämpften, zufuß ins Watt zurück flohen und schließlich froh sein mußten, daß die Bunte Kuh uns vorm Ersaufen rettete.
Sie kriegten dreiundsiebzig von uns, darunter mich und Godeke Michels, von dem ich nicht einmal gewußt hatte, daß er mich besuchen kam. Ihren vermaledeiten Armbrustschützen spendierten sie in Hamburg ein Festmahl für sechs Pfund. Uns aber sperrten sie unterm Rathaus ein, wo ich erst wieder Hoffnung schöpfte, als sie mich zum erstenmal vor die Richter führten, und ich in deren Mitte Hinrik Lange erkannte.
Nachts darauf kam Lange unters Rathaus geschlichen, in Begleitung des Abdeckers Knoker, der uns dort unten bewachte. Knoker holte mich aus der Gemeinschaftszelle in das Zwischengelaß. Dann verdrückte er sich. Meine Kameraden versuchten natürlich, sich kein Wort entgehen zu lassen. Doch Lange und ich wußten, um was es ging. Wir unterhielten uns nur in geflüsterten Andeutungen.
- Kann ich was für Dein Weib tun, wenn ...
- Wenn was?
- Wie soll ich dich retten? Ich hab nur eine Stimme im Gericht. Sie überstimmen mich. Du wirst verurteilt. Sterben wirst du.
- Das bekommt euch nicht gut.
- Wie?
- Ich hab dem Domprobst von Norwich so manchen Gefallen getan.
- Was hat der Domprobst von Norwich damit ...
- Er hat, falls nötig, Zutritt beim Londoner Hof. In einem Kirschholzkästlein verwahrt er meinen vollständigen Bericht über das Sündenregister der Schwarzen Hanse. Ihr habt mir in zwanzig Jahren drei Briefe geschickt, leichtsinnigerweise unterschrieben und einen sogar gesiegelt. Auch diese Briefe liegen in Norwich. Kurzum: es wäre für euch ungesund, wenn Störtebeker stürbe.
Lange verzog sich. Mit ekelhaftem, weisem, scheinheiligem Nicken, als wäre er ganz meiner Meinung. Doch am nächsten Morgen  schleppten sie mich nach der Frühmesse zur Folterkammer unter dem kleinen Ratssaal. Schwarze, ausgerissene Haare von der letzten Hexe, mit der die Ratsherren sich vergnügt hatten, klebten auf dem Tisch. Der Henker Rosenfeld setzte mir Daumenschrauben an.
Gestehen sollte ich die Fahrt nach Bergen. Natürlich gestand ich sofort - ich wollte mir schließlich keine wichtigen Knochen brechen lassen.
- Ja, sagte ich, das waren wir. Ich war dabei. Die Vitalienbrüder haben Bergen geplündert und das Vermögen der hansischen Kauffahrer in der Deutschen Brücke unangetastet gelassen, weil ...
Mein ‚weil‘ ließ ich in der Luft hängen. Da hättest du mal sehen sollen, wie Hinrik Langes Äuglein flackerten! Das Verhör wurde abgebrochen und Knoker zerrte mich in den Keller zurück.
Zwei Tage ließen sie mich modern, Zeit satt, um festzustellen, daß meine Daumen heil geblieben waren. Entweder verstand der Rosenfeld sein Geschäft nicht, oder er hatte mich geschont. Am dritten Tag holten sie mich erneut zum Verhör. Diesmal kannte ich das Gelaß unterm Ratssaal schon. Ich wußte auch, wie sie dasitzen würden in ihrer Wohlanständigkeit zu dritt. Und ich war fest entschlossen, mir nicht wieder sprachlos Daumenschrauben anlegen zu lassen. Also legte ich gleich los:
- Ihr wißt doch gar nicht, wer ihr seid, Ihr sogenannten Ratsherren zu Hamburg! Ihr seid doch nur Figuren auf einem Schachbrett! Für wehrhafte Kaufleute haltet ihr euch, dabei seid ihr nur armselige Erfüllungsgehilfen!
Rosenfeld schlug mir aufs Maul, bis ich stille schwieg. Hinrik Lange tuschelte aufgeregt mit den anderen. Man nickte dem Rosenfeld aufmunternd zu - und der brachte mich ins Verlies zurück.“

Hans von Mont goß das abgestandene Bier aus. „Das wird der Grund sein!“ sagte er. „Wenn du ihnen so offen gedroht hast, ist das der Grund, weshalb zu Hamburg alle Ratsakten über deinen Fall verschwunden sind!“

„Weiß nicht“, sagte Störtebeker. „Ich weiß nur, daß man mich ewig modern ließ, bis zur Herbstkirmes, bis mir fast die Zehen abfaulten, weshalb ich heutzutage lieber reite als zufuß zu gehen. Ich überlebte. Erbärmlich. Hoffte, die Schwarze Hanse würde das Kirschholzkästchen des Norwicher Domprobstes fürchten. Hoffte, das Schafott bliebe mir erspart. Dann stieg eines Tages Rosenfeld begleitet vom Ratsschreiber zu uns hinunter und verlas ohne Brimborium unseren Schuldspruch samt dem Urteil, daß wir tags nach der Kirmes enthauptet werden sollten.
Sie öffneten das Gitter und traten frech in unsere Mitte. Zwei gegen uns siebzig schwächliche Jammergestalten. Rosenfeld schlenderte zu Godeke Michels und trat ihm in die Rippen.
- So, blaffte er, du willst also prächtig herausgeputzt sein, zur Hinrichtung? Ihr wollt die Festtagskleidung tragen, die wir in den Kisten fanden? Glaubst du, mein Schwert schneidet dann besser? Wollen sehen!
Mich riß er am Hosenbund hoch und stieß mich zur Tür:
- Nun wird gebeichtet, schrie er. Und mit dir schlimmem Sünder fangen wir gleich an.
Mühsam hinkte ich vorwärts, angetrieben von Rosenfelds derben Knüffen und Püffen und seinen Beschimpfungen. Als wir zum Ziel kamen, die Tür zuschlug und nirgends ein Beichtvater zu sehen war, sank Rosenfelds Stimme zu einem bösen Flüstern.
- Dich wollen sie davonkommen lassen, hieß es nun plötzlich. Und ich soll es richten. Soll meinen Hals riskieren für einen wie dich! Mit diesen Worten reichte er mir ein golddurchwirktes Wams, das viel zu groß für mich war.
- Lerne, den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen, sagte er, krümm Dich völlig in das steife Wams, so daß Dein Kopf verschwindet. Ich will versuchen, daß mein Schwert vorbei schneidet.
Also begann ich zu üben. Übte unter Rosenfelds Aufsicht mit dem Wams. Und übte in den folgenden Tagen ohne Wams, so ausdauernd, daß meine Kameraden begannen, über mein ständiges Schulterzucken zu lästern.“

Aus Acta Hanseatica, sv. nigra:

Nachts nach dem großen Hamburger Felicianimarkt, der einundzwanzigste Oktober 1401 war gerade angebrochen - da wurde Claas Störtebeker wachgerüttelt und noch einmal in das Zwischengelass gezerrt, angeblich weil er verlangt hatte, weitere Schandtaten zu beichten. Störtebeker, der von einem solchen Wunsch nichts wußte, erhob sich dennoch bereitwillig vom faulen Stroh und folgte dem Abdecker Knoker in den Raum zwischen Keller und Erdgeschoß, den er bereits gut kannte.
Knoker deutete zum Wams, das steif und bauchig auf dem Tisch lag, scharlachrot mit braunen Besätzen und etwas Silberstickerei. Der Kragen war kaum ausgeschnitten. Innen an Rücken und Schultern fehlte die Wattierung, um Platz zu lassen für einen Schlauch aus Schweinsblase, prall voller Blut, dem bestimmte Ingredienzen untermischt waren, damit es nicht gerann.
„Setz dich“, befahl der Abdecker. „Wir scheren dir jetzt Bart und Haupthaar!“
„Kommt nicht in Frage!“ sagte Störtebeker.
„Halts Maul und setz dich“, herrschte Knoker ihn an. „Wir müssen dem Volk deinen abgeschlagenen Kopf zeigen. Und wir haben keinen Kopf mit Haar, das deinem ähnlich sieht. Also zier dich nicht!“

Die Armsünderglöcklein von St. Johannes, St. Katharina und St. Maria Magdalena läuteten, letztere geborsten, als am einundzwanzigsten Oktober 1401 dreiundsiebzig  Vitalienbrüder vor dem Hamburger Rathaus auf Schinderkarren stiegen. Knoker und die Ratsbüttel kamen ordentlich ins Schwitzen, bis sie alle Malefikanten, ausnahmslos im besten Festtagskleid, auf die Karren gehievt hatten. Es war gar nicht leicht, mit gefesselten Händen auf einen Karren zu steigen. Doch schließlich rumpelten die vollen Karren, vornweg Claas Störtebeker und Godecke Michels, über die erste Fleetbrücke. Dann mußten die Männer schon wieder absteigen, weil es über die Holzstiege zum Grasbrook hinunterging und weiter durch die enge Menschengasse, vorbei an vielen mitleidigen Gesichtern. Hamburgs Ratsherren mit ihren Schiffen, Kontoren, Lagerhäusern - und ihrem gänzlichen Mangel an Hunger - waren nicht sonderlich beliebt beim einfachen Volk. Wer gegen den Rat war, konnte kein durch und durch schlechter Kerl sein. Und die Vitalier hatten sich bei aller rücksichtslosen Grausamkeit nie an einfachen Leuten vergriffen. Was wußten die Armen Hamburgs schon davon, daß wenige Jahre zuvor die Armen von Mailand und Prag am Heringsmangel verreckt waren?
„Was für piekfeine Mannsbilder“, tuschelten die Frauen. „So blaß und abgehärmt.“
„Totmacher sind das nicht gewesen“, brummten manche Männer.
Auf dem Schafott stand Henker Rosenfeld, die Fäuste über dem Schwertknauf gefaltet, und blickte grimmig auf den Richtblock, den er von der Ratstribüne fort in die entfernteste Ecke des Schafotts geschoben hatte. Er konnte das begründen, denn Knoker brauchte Platz für mehr als siebzig Leichen. Zwar würden die Ratsherren murren, sie bekämen ja gar nichts zu sehen - aber das war schließlich Zweck der Übung. Das Volk stand ohnehin weit genug weg, denn auch bei den Barrieren hatte Rosenfeld gehörigen Abstand verlangt - Platz für die ungewöhnlich vielen Rümpfe ohne Kopf. Sowas hatte Hamburg doch noch nie gesehen, da galt es Vorkehrung zu treffen.
Ratsbüttel zwangen die Vitalier, sich vor der Tribüne in Reih und Glied aufzustellen. Sie sollten der Urteilsverkündung in leidlicher Ruhe lauschen. Die Männer, denen man nun mit nichts mehr drohen konnte, schieden sich in solche, die weinten und beteten - während die andere Hälfte, so geschwächt sie von der langen Kerkerhaft war, den frischen Wind mit geblähten Nüstern einsog, in die Sonne blinzelte oder einer Hamburger Schönen in der ersten Reihe zwinkerte. Und diese Hälfte grölte nun die Scherze von Todgeweihten und sang den Ratsherren Seemannslieder in die indignierten Fratzen, so daß die feierliche Verlesung des Urteils abgebrochen werden mußte. Dann hatte irgendwann der letzte Seeräuber das Kreuz geküßt und das Spektakel wurde ernst. Knoker trat kreidebleich vor Störtebeker und packte ihn am Arm.
„Wir sehen uns beim Teufel!“ rief Störtebeker Michels zu, bevor er sich gutwillig abführen ließ. Sechs Stufen zum Schafott hinauf. Über die knarzenden Bretter bis zum Richtblock, vor dem er sich breitbeinig aufbaute und lange über den Schlick, eine Ziege und eine Gänseherde auf die Elbe hinaussah. Er tat, als räkelte er sich  zum letztenmal in der Morgensonne. In Wahrheit schoben seine Schultern nur das Wams zurecht. Rosenfeld trat ihm in die Kniekehlen, so daß er zusammenbrach.
„Irgendwelche letzten Worte, bevor ich dich erledige?“
„Du ...  mich erledigen?“ lachte Störtebeker. „Dazu braucht es ein besseres Schwert und einen besseren Mann.“
„Werden wir sehen“, sagte der Henker.
„Richtig“, brüllte Störtebeker. „Werden wir! Kannst mir ruhig den Kopf abschlagen. Trotzdem steh ich auf und verlasse als freier Mann die Richtstätte!“ Rosenfeld plumpste rittlings auf den Block und brach in schallendes Gelächter aus. „Du glaubst mir nicht?“ fragte Störtebeker.
„Wie denn auch?“
„Ich biete eine Wette an: Hau du mir den Kopf weg. Ich steh danach auf. Steige vom Schafott. Schreite die Reihe meiner Kameraden ab. Und an wem ich vorbeigehe - den verschonst du. Das ist dein Einsatz. Bleib ich aber tot hier am Fleck, dann bin ich das Gespött Hamburgs auf alle Zeit. Das ist mein Einsatz.“
Rosenfeld blickte fragend zur Ratstribüne, wo man meistenteils gewährend die Arme ausbreitete, weil das Volk von der Idee hellauf begeistert schien. Die Seeräuber johlten. Rosenfeld flüsterte kurz mit Knoker. Der legte Störtebekers Hals auf den Richtblock, schob den Hemdkragen zurück, zupfte unauffällig den Kragen von Störtebekers Wams noch etwas höher und ging dann den Weidenkorb holen, der für die Köpfe bestimmt war. Er kam zurück und hielt ihn Störtebeker unters Kinn. Die Menge protestierte. Rosenfeld drehte sich zur Ratstribüne um, von wo ein Bürgermeister herbeigeeilt kam.
„Hört, Euer Gnaden!“ sagte Rosenfeld. „Der Störtebeker schaut mit seinen Augen - womit sonst? Wenn wir ihm nun den Kopf abschlagen - und der Kopf fällt, ohne sich umschauen zu können, in den Korb ... und bevor Knoker dem Volk den abgeschlagenen Kopf zeigt, bindet er ihm unten im Korb die Augen zu ... dann kann der Dreckskerl unmöglich sehen, wo seine Kumpane stehen. Also kann er sie auch nicht retten, egal wie weit er noch herumtorkelt.“
„Ah“, sagte Bürgermeister Brodersby. „Das leuchtet ein! Du wirst schließlich pro Kopf bezahlt! Macht nichts, wenn das Volk nichts sieht. Hauptsache, der tote Kopf sieht nichts!“
Rosenfeld schwang den Zweihänder, um ein Gespür für dessen Gewicht zu bekommen. Er verbeugte sich gegen den Rat. Von dort winkte man ihm jovial, nun anzufangen. Rosenfeld und Knoker wußten, daß jetzt alles blitzschnell gehen mußte.
Knoker hielt Störtebeker den Korb unters Kinn und bog den eigenen Kopf weit zurück, wie um zu verhindern, daß ihm Blut ins Gesicht spritzte. Der Korb und Knokers Oberkörper verdeckten dem Volk die Sicht. Rosenfeld hatte inzwischen seine muskelbepackten Oberarme und Kunststückchen mit dem Langschwert vorgeführt. Nun schritt er zur Tat. Achtlos, als wäre er tief in Gedanken, stellte er sich mit dem Rücken nicht zur Elbe, sondern zur Ratstribüne. Zwar wurde dort Protest laut, aber da schwang der Henker schon das Richtschwert zweimal über dem Kopf.
„Jetzt!“ flüsterte Knoker.
Störtebeker bäumte sich auf, Knoker riß ihn am Wams auf den Block zurück, wobei der Kopf des Piraten unter den steifen Stoff rutschte. Inzwischen hatte Rosenfeld zum drittenmal Schwung geholt - und schlug zu.
Der Blutschwall spritzte aus der Schweinsblase und ergoß sich über Knokers Arme, den Korb, den Richtblock. Durch Störtebekers Körper lief ein Zucken. Rosenfeld hatte ihm erklärt, daß er zuckend vom Richtblock gleiten und dann arg verrenkt und immer weiter zuckend, liegenbleiben solle. Knoker machte sich mit einem Tuch am Boden des Weidenkorbs zu schaffen. Und dann hob er ihn hoch - den abgeschlagenen Kopf des Claas Störtebeker, der in Wahrheit einem leidlich ähnlichen Haseldorper Stallknecht gehörte, der vor drei Tagen das Zeitliche gesegnet hatte. Mit verbundenen Augen hob Knoker ihn hoch - damit der Kapitän der Vitalier nicht sah, wo seine Kameraden standen. Blutbeschmiert - damit niemand die gelbliche Leichenblässe der Haut bemerkte. Mit klaffendem Mund. Das Volk stöhnte. Von der Ratstribüne kam jemand herbeigeeilt, um den Henker aufzufordern, sich doch gefälligst mit dem Rücken zur Elbe aufzustellen, damit die Ratsherren zusehen konnten. Rosenfeld nickte dem Büttel über die Schulter zu, während er Störtebekers Körper über die Kante der Plattform rollte und ins Gras stürzte.
Danach verlief die Hinrichtung ohne weiteren Zwischenfall. Störtebeker schritt nicht die Reihe seiner Genossen ab. Vielmehr wurden seine Genossen einer nach dem anderen aufs Schafott geführt und enthauptet. Ihre blutbesudelten Köpfe zeigte Knoker der Menge ohne Augenbinde. Ihre Rümpfe landeten auf und neben Störtebeker, der bald nicht mehr zu sehen war, und deshalb trotz Quetschungen und Prellungen, die er erlitt, aufatmete, weil er nun Mund und Nase ein bißchen weiter zur Luft hinausschieben konnte.
Dreiundsiebzig Mann wurden enthauptet. Beter und Flucher.
Die am Anfang hatten Glück, weil Rosenfeld sie glatt und leicht tötete. Ungefähr ab der Hälfte wurden ihm die Arme schwer. Zuletzt mußte er fünfmal zuschlagen, um einen Kopf vollends vom Rumpf zu trennen.
Die abgeschlagenen Häupter der Kapitäne wurden mit langen Schiffsnägeln auf Pfähle genagelt, die auf dem Grasbrook stehen blieben. Als die Menge sich verlaufen hatte, lud Knoker die Leichen auf Karren und fuhr sie vor die Stadtmauer. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rosenfeld den Störtebeker längst auf dem Dachboden seines Hauses einquartiert und mit einer üppigen Mahlzeit bewirtet.

Aus Iohannis Nota de Montis:

„Ich schlief mich aus“, erzählte Störtebeker. „Die Nacht und einen Tag. Nachts drauf führte Rosenfeld mich tief in den Sachsenwald, wo sein Bruder eine Köhlerei betreibt. Dort erholte ich mich langsam von der Haft. Dort besuchte mich auch Hinrik Lange im Auftrag der Schwarzen Hanse...“
„Die es immer noch nicht gibt“, warf Hans von Mont kopfschüttelnd ein. „Aber nenn sie halt, wie Du magst, Kapitän. Willst du noch ein Stück von der Rindslende? Schmecken gut, Deine Rinder. Nicht so gut, wie das Reh heute Morgen, aber was will man machen!“
Störtebeker winkte ab. „Sie boten mir an“, sagte er, „Irmgard solle diesen Gasthof hier übernehmen - der vorige Wirt war ihr Mittelsmann und Spion. Später, sobald ich mich einigermaßen erholt habe, solle auch ich nach Olpenitz kommen. Im Gegenzug solle ich dem Norwicher Pfaffen bestätigen, daß ich noch lebe. Und so geschah es auch.“
Hans von Mont ließ Irmgard Störtebeker kommen. Er trug ihr auf, alle Wertsachen zu packen, denn man wolle sie mitnehmen. Als Störtebeker protestierte, ließ Meister Hans ihn zuerst eine Weile schimpfen, bevor er sich zu Erklärungen bequemte.
„Wein dem Gasthof keine Träne nach!“ riet der Meister. „Auch deinem Schimmelhengst nicht ... übrigens gibt es, wo ich herkomme, ein schönes Rezept für Pferdefleisch. Mit Weißwein, Essig, Zwiebeln und Rosinen ...“
„Halt dein loses Maul und sag, was du mit uns vorhast, du Teufel“, brüllte der Störtebeker. Gero schaute den Meister fragend an. Der schüttelte den Kopf.
„Soll ich ihm keine hauen?“ fragte Gero verblüfft.
„Nein!“ sagte Hans von Mont. „Geh! Hilf der Frau des Kapitäns beim Packen und sieh, daß niemand sie belästigt. Und sag den Männern, wir brechen in einer Stunde auf!“
„Was willst du nun von uns?“ fragte Störtebeker.
„Dich!“ sagte Hans von Mont. „Dich auf einem Schiff, in meinen Diensten. Dich als Kurier. Dich, weil wir auch zur See Schwarze Hände benötigen. Du hast meinen verräterischen Knechten gedient, den Pfeffersäcken Stade, Leyderburg und Lange. Ab heute dienst du mir! Kann ich dich jetzt losbinden?“

Noch volle zwei Jahre mußten sich die Meister des Kölner Archivs gedulden, bevor sie mit den Stades, Leyderburgs und Langes abrechneten. Diese Horreageschlechter - die Stades standen seit vierhundert Jahren in Diensten des Rates und hatten stets für gleichmäßigen Geldfluß gesorgt - waren nicht ohne weiteres austauschbar. Man mußte erst für fähige Verwalter sorgen oder das Heranwachsen eines Erben abwarten, bevor man mit den Familienhäuptern abrechnete: über ihre  Raubzüge, Unterschlagungen, den Verrat und die Intrigen, ganz davon zu schweigen, daß und wie sie das Piratenunwesen gehätschelt hatten. Als sämtliche Vorkehrungen getroffen waren, erlitten die drei Verräter tödliche Unfälle. Aus Leyderburg preßten die Schwarzen Hände zuvor noch sechs weitere Namen von Rostocker und Lübecker Kaufleuten heraus. Mit denen verfuhr man ähnlich. Und damit war das Kapitel der Schwarzen Hanse geschlossen.

Claas Störtebeker bekam seine neue Holk auf Kosten des Kölner Archivs gebaut, getakelt und bemannt. Er fuhr noch fünfzehn Jahre zur See. Seine Hauptaufgabe war, die Schiffsrouten der hansischen Horrea-Familien zu sichern. Doch auch an regelrechten Kampfeinsätzen der Gründer nahm er teil, so
zum Beispiel an der Entführung des Wladimir Boronzow vor Narwa im Jahr 1410. Störtebeker hat die Gründer niemals betrogen oder verraten, hauptsächlich wohl deshalb, weil seine Frau Irmgard nahe bei Köln in Mühlheim lebte und ständig unter scharfer Beobachtung stand. Claas Störtebekers Holk Enterhaken sank vermutlich mittwochs nach dem Osterfest des Jahres 1418, einen Tag, nachdem er von Lissabon ausgelaufen war, in einem Sturm vor der portugiesischen Küste. Hans von Mont überlebte ihn um fünf Jahre.