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Akte Petersburg

Monsieur Molnay!
Ihr kennt wahrscheinlich noch nicht das Gefühl, das mich heut Nacht an meinen Schreibtisch bannt, vor mir die leeren weißen Blätter und das Tintenfaß, der Kerzenleuchter linkerhand und rechts das Pistol mit gespanntem Hahn. In Eurem Alter - und faßt dies nicht als despektierlich auf - sind solch dunklen Stunden dem Menschen meist noch fremd. Die Zukunft scheint verfügbar und alles kann sich ändern und durchaus zum Vorteil wenden. Aber auf meine nun gut siebenundsechzig Jahre wirkt diese Selbsttäuschung nicht mehr. Deshalb laßt mich den Brief beginnen, Herr, indem ich meinen Rücktritt erkläre vom Amt des Gründerlegaten in St. Petersburg.
Jedoch - bitte glaubt nicht, Lew Kokoschin verläßt seinen Posten aus Feigheit oder weil es ihn im Alter nach Müßiggang gelüstet! Nein - die Verzweiflung, die mir solche Konsequenz abnötigt, speist sich aus tieferer Quelle, aus der unumkehrbaren Einsicht, daß dieses Petersburg, wohinein wir so viel investierten, nie Rußland sein wird, sondern für alle Zeit nur eine Maske bleibt, die sich russische Bigotterie aufsetzt, um westwärts zu blicken. Mein eigenes Leben ist der schlagende Beweis dafür. Ich will es Euch erzählen, Herr, dieses mein Leben, damit Ihr nicht schlecht von mir denkt, sondern versteht, wie und warum ich aufgehört habe, zu hoffen.

Als meine Mutter mich gebar - eine zarte Frau, die binnen Wochenfrist im Kindbett verstarb - saß Vater mit dem Zaren im Ruderboot, um die Untiefen der Newa auszuloten. Mein Vater pullte, Zar Peter warf das Lot, und so bestimmten sie gemeinsam das Terrain am Südufer des großen Newa-Arms, wo heute die Admiralität steht, und Kriegsschiffe der Zarin aller Reußen beim Stapellauf die bestmögliche Fahrrinne vorfinden - eben jene, die der Zar und mein Vater entdeckten.
Es wird erzählt, sie rissen die mittlere Sitzbank aus dem Boot und rammten sie ins morastige Ödland, um die Stelle zu markieren. Mein Vater soll das Brett gehalten haben, während der Zar es mit bloßen Händen ins Erdreich trieb, denn einen Stein zum Hämmern suchten sie vergebens. Ferner wird erzählt, daß nun ein Streit entbrannte, wessen Hut das Brett markieren sollte, damit der Landvermesser es nicht übersah. Der Zar, zu geizig, um den eigenen Hut zu opfern, stülpte Vaters Dreispitz auf das Brett. Anschließend ruderte man heim und soff sich zu Ehren meiner Geburt einen Rausch an. Soweit ich weiß - und das weiß ich durchaus schon aus eigener Anschauung - war mein Vater der einzige Mann unter Peters Vertrauten, der ähnlich viel Schnaps vertrug wie der Zar, ohne daran zu sterben.

Zweieinhalb Jahre zuvor war Konstantin Kokoschin mit dem successor Costa-Cabral und magister Sapin aus Narwa geflohen. Ihr, Herr, kennt die Geschichte zweifellos. Auch ich natürlich kenne sie, und wie gründlich und in wie vielen Tonlagen! Geschimpft mit mahnend erhobenem Zeigefinger. Leidenschaftlich erregt beim Wodka - niemals jedoch in Anwesenheit des Zaren, der am Tag der Schlacht von Narwa geflohen war und daran nicht erinnert werden durfte. Traurig kopfschüttelnd, wenn ich in Vaters Augen wieder einmal versagt hatte. Tückisch, wenn er ging, um die Knute zu holen ... mein Vater im Gasthof Meinert bei der Vereidigung neuer legaten ... Sapins geschwungener Reiterhammer ... das vergiftete Mahl ... Krankenlager der legaten ... Flucht aus dem schwedischen Narwa ... wie die Kanonenkugel ihr Boot zerfetzt und sie Kartaschow verlieren ... wie sie durch die Linien der russischen Belagerer schleichen, mithilfe eines Kapitäns vom Regiment Preobraschenski. Wie sie der schwedischen Entsatzarmee entkommen, dank Schneegestöber ... und, und, und ...

Meines Vaters Karriere hatte begonnen, als Joseph Sapin aufmerksam wurde auf den kleinen Steuereinnehmer im Gebiet von Jaroslawl. Steil empor hatte Vaters Karriere geführt. Schon im Spätsommer 1703 war er nicht mehr aus Peters Entourage fortzudenken. Natürlich stand er bei großen Empfängen nicht in der ersten Reihe. Natürlich saß er am unteren Ende der Tafel, wenn Peter seine Freunde bewirtete, was meist darauf hinauslief, daß er sie unter den Tisch soff um dann, halb amüsiert und halb verächtlich lachend, die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Aber ich wage zu behaupten, daß mein Vater in diesen Jahren mehr Zeit mit Peter verbrachte, als, sagen wir Fürst Menschikow, des Zaren ältester und liebster Freund. Und eins steht außer Frage - niemand anders als mein Vater Konstantin Kokoschin hat mit dem Zaren am Meer gestanden, bei den Fischerhütten, Behausungen von Finnen, die als ehemals schwedische Untertanen lutherischer Konfession waren. Sie beide, Vater und Zar blickten sich in die Augen und legten ein Versprechen ab. Hier, an genau diesem Ort, der durch die jüngst erfolgte Erstürmung der schwedischen Festungen Nyenschanz und Nöteborg erst ganz vage gesichert schien, an diesem Küstenstrich der Ostsee, der meist eisfrei war und zugleich über die Newa mit dem russischen Binnenland verbunden, genau hier, im Morast, im sumpfigen, menschenleeren Nirgendwo, am unmöglichsten aller Orte, sollte die Stadt erbaut werden. Sie waren Brüder im Geiste. Beide wahnsinnig. Und ihr Wahnsinn füllte Rußlands Friedhöfe.

Natürlich entsprach die Stadtgründung den Interessen des Rates. Natürlich wollte COT das Zarenreich an Europa binden und verwestlichen, ein durchaus ehrenhaftes Unterfangen, mein Herr. Doch was genau da in Angriff genommen wurde, Monsieur Molnay, wird vielleicht deutlich, wenn ich noch einmal auf die armseligen Finnen zu sprechen komme, die in den Fischerhütten hausten. Ihre Kinder erzählen eine Legende, die beginnt: Die Stadt St. Petersburg wurde hoch oben in der Luft gebaut und fertig zu Boden gelassen, sonst wäre sie im Sumpf versunken ...
Dabei war es nicht nur der Sumpf, obwohl der schlechte Grund bis heute für Probleme sorgt. Hinzu kam die Menschenleere der Gegend - woher Arbeitskräfte holen, ganz zu schweigen von den unverzichtbaren Bewohnern? Die Winter sind grausam hier oben im Norden. Sturmfluten alle paar Jahre. Woher Material nehmen für eine Stadt? Will sagen - eine europäische Stadt? Eine Stadt aus Stein und nicht aus Holz, wie die übrigen Städte Rußlands? Hier gab es Matsch und nasses Holz. Sonst nichts. Das später erfolgte Verbot für Allrußland, irgendwo außerhalb St. Petersburgs Steinhäuser zu errichten, war der Einfall meines Vaters. Die Flüche dafür zielten allerdings aufs Haupt des Zaren, genau wie die Flüche auf die Steuerpolitik. Wer weiß schon heute noch, daß Konstantin Kokoschin sie allesamt erfand - die Steuern auf Brunnen, Eichensärge, Lederstiefel, Mützen, Öfen, Nüsse, Bärte, Häuser, Schachspiele, Wassermelonen, Keller - und schließlich auf jede einzelne Seele?
Für Peter stand nie zur Debatte, schwedische Newa-Festungen auszubauen. Auch Schlüsselburg - wie er das eroberte Nöteborg umtaufte - führte ihn nur kurz in Versuchung. Statt dessen entschied er sich für gänzlichen Neubau einer Festung auf der Haseninsel, nur ein paar Steinwurf östlich der Gabelung von Großer- und Kleiner Newa und zugleich geeignet, die Ostspitze der Wassili-Insel zu decken. An dieser Festung sollte kein maritimer Angriff vorbei - was ja auch nie geschah. Daß sie trotzdem durch Kronstadt und den Friedensschluß mit den Schweden bald überflüssig wurde und fortan nur als Staatsgefängnis diente, können wir getrost übersehen. Diese spätere Entwicklung ändert nichts daran, daß die Peter- und Pauls-Festung unter dem verzweifelten Druck entstand, das frisch eroberte Terrain zu sichern.

Da es nirgends Steine gab und an Ziegelbrennerei vorläufig nicht zu denken war, bestand die ursprüngliche Peter- und Pauls-Festung aus Erde und Holz. Merkwürdig, Herr, nicht wahr? Noch vor der Erstürmung Konstantinopels durch den Halbmond brüstete sich Moskau als drittes Rom. Heute bezeichnet man Petersburg als zweites Venedig, was ja durchaus Eurer Intention entsprechen mag. Doch Petersburgs Kernstück beruft sich direkt auf das erste Rom - Peter und Paul. Der Anspruch ist nur allzu offensichtlich. Die Wirklichkeit jedoch bestand aus Holz, Schlamm, Blut.

Persönliche Erinnerung habe ich ab einem Zeitpunkt, als sicherlich um dreißigtausend Menschen in der Stadt lebten. Wobei man rechtens kaum von Leben sprechen kann. Es gab ein paar Brotkopeken für die Helfer beim Bau, doch jedermann wußte, daß es für diese Kopeken nirgends Brot gab. Und so verhungerten die meisten, nachdem sie ein paar Wochen Erde geschleppt oder Holz geschlagen hatten. Wie wenig damals ein Menschenleben galt, wird deutlich am Schicksal meiner Mutter. Als mein Vater den Zaren bat, einen Arzt nach Petersburg zu holen, lag meine Mutter schon im hohen Fieber. Und als dann, Wochen nach ihrem Begräbnis, endlich ein Arzt sich dieser Stadt erbarmte - nun ja, er floh nach ein paar Jahren wieder, weil es ihm nie gelang, auch nur ein eigenes Haus zu bauen.
Ich war noch klein. Wie alt meine spätere Frau damals war, weiß ich nicht, denn über die Kinder von Leibeigenen führte niemand ein Personenstandsregister. Wir wußten nur, daß Anna ihre Mutter früh verloren hatte, so wie ich meine. Und schon bevor ihr Vater floh, nachdem er volle zwei Jahre mörderischer Arbeit überlebt hatte, war Anna zur Familie eines deutschen Landvermessers gekommen, der dem zuständigen Verwalter die paar Rubel für das verhungerte Hühnchen zahlte. Im wachsenden St. Petersburg wurden Landvermesser reich. Anna lebte gut bei der Familie, lernte sogar Lesen und Schreiben, sicherlich ging es ihr besser als mir. Doch auf die Haseninsel, zu den Bauarbeitern, hätte sie ohne mich niemals gedurft. Dort spielten wir nur, weil jeder Posten wußte, wer mein Vater war.

Zufällig, unseliger Zufall, war an jenem Tag der Zar mit meinem Vater dort, so daß wir uns noch mehr als üblich herausnahmen. Wir ritten auf geschälten Baumstämmen, die, triefendnaß aus den Flößen gelöst, von je vier Mann geschultert wurden. Nun gut - das machten wir auch sonst. Die Arbeiter, arme Teufel, waren gut zu uns. Sie liebten, denke ich mir heute, unser Kinderlachen in ihrer Trostlosigkeit, und trugen darum das Gewicht bereitwillig. Aber ohne Zar und Vater Schubkarren voller Erde umzustoßen, hätten wir uns nie getraut. Die Arbeiter vielleicht hätten gelacht und uns gewähren lassen, jedoch der Aufseher hätte uns fortgescheucht. Er war Trubetzkoi, Menschikow und Naryschkin jeden Abend Rechenschaft schuldig über den Fortgang der Arbeit an ihren Bastionen.
Doch so - mit meinem Vater und dem Zar im Hintergrund, tollten wir wild und ausgelassen wie noch nie. Über und über waren wir mit Schlamm bespritzt, das weiß ich noch. Unser größter Spaß begann, als die Arbeiter einen besonders glatt geschälten Kiefernstamm schräg aufbockten, so daß wir eine Rutsche hatten, was ein Jauchzen! Ich muß hier wohl erwähnen, daß Anna Lederhosen trug in diesem Alter, denn der Landvermesser war ein aufgeklärter, praktisch denkender Deutscher.
Nur unseliger Zufall wollte, daß Annas leiblicher Vater, der entflohene und wieder eingefangene Sträfling, just an diesem Tag vorgeführt wurde. Anna war dermaßen schlammbespritzt, daß er sie gar nicht erkannte - obwohl er zu dem Zeitpunkt durchaus noch bei Bewußtsein war. Erst als Anna sich, schneller, als ich sie packen konnte, an seine Beine klammerte, starrte er ungläubig in das verschmierte Gesicht mit den roten Augen und der Tropfnase, während Schergen ihn unbarmherzig weiter zerrten, so daß er zu den schweren Ketten auch noch seine Tochter schleppte.
Mein Vater und der Zar waren erstaunt. Ich glaube, zumindest meinem Vater hätte ich angemerkt, wenn er mit dieser Vorführung gerechnet hätte. Sie befahlen uns zu sich. Ein Soldat griff Anna am Kragen. Aufseher ließen die Arbeiter antreten, damit sie von der Bestrafung ja nichts versäumten. Der Zar nahm mich auf den Arm und freute sich, als ich ihn küßte. Mein Vater ordnete die übliche Bestrafung an, worauf man den Rücken des Delinquenten bloß legte und der Scherge fragte:
„Wie viele Hiebe, Väterchen?“
Im Alter zwischen vier und sechs wußte ich nicht, daß fünf Hiebe, egal ob mit der Knute oder mit der Peitsche, einen Mann auf immer zeichnen. Ab zehn Hieben schwebt der stärkste Mann in Lebensgefahr, weil die Knochen der Rippen und des Rückgrats bloßgelegt werden. Ab zwanzig Hieben ist man zuverlässig tot.
Ich hörte meinen Vater sagen: „Fünf.“
Anna, die sich mit solchen Prozeduren damals besser auskannte, brach in wildes Geheul aus, was ich gar nicht mochte. Und so schmeichelte ich, von meinem Vater mit drohenden Blicken bedacht, dem Zaren - so lange, bis er Annas Vater die Prügel erließ. Der Zar, ich habe seine Worte und den gönnerhaften Tonfall heute noch im Ohr, sprach: „Erlaßt ihm die Strafe. Begnügen wir uns damit, diesen Mann zu zeichnen.“
Zu zeichnen? Täglich floh ein Dutzend von der Baustelle, die Rußlands Hauptstadt werden sollte. Man fing sie kaum, schon gar nicht mehr, wenn sie im nächsten Dorf untergetaucht waren. Um diesem Übel zu wehren, ließ Peter zumindest jeden aufgegriffenen Flüchtling derart kennzeichnen, daß er nie mehr hoffen durfte, unerkannt zu bleiben. Peter schnitt die Nasenflügel ab und schälte alles Fleisch vom Nasenrücken. Daß ich solche Gesichter nie gesehen hatte und deshalb überhaupt nicht wußte, was jetzt auf uns zukam, war kein Wunder. Meist verstarben die Flüchtlinge Stunden oder Tage später an den Prügeln und tauchten mit ihren entstellten Gesichtern nie mehr auf.
Peter war wirklich gnädig an jenem Tag. Er hatte verstanden, daß die Tochter des Delinquenten zugegen war. Er schonte sie, ließ Anna forttragen und ließ ihrem Vater sogar mit Gewalt so viel Wodka einflößen, daß der Mann das Bewußtsein verlor, bevor ihm der Nasenrücken geschält wurde. Zar Peter hielt sich wohl in diesem Augenblick für einen überaus gütigen Zaren. Wie sonst erkläre ich mir seine Reaktion auf mein hemmungsloses Schluchzen? Ich war höchstens fünf Jahre alt, vielleicht auch nur vier oder viereinhalb, aber ich weiß noch ganz genau, wie der Zar mich heulendes Knäblein zu Boden setzte, nicht fürsorglich oder behutsam. Nicht grob, als fände er mich lästig. Eher so, wie man einen randvollen Kübel Scheiße absetzt - mit vorsichtigem Ekel. Dann sprach er meinen Vater an: „Kokoschin - gib acht, daß dein Sohn kein Weichling wird!“

Der Hof war aber nun beileibe nicht ständig in Petersburg, nein, kreuz und quer administrierte und marschierte Peter durch das Land. 1709 focht er die Schlacht von Poltawa - exakt die Spiegelung Narwas - auf dem Raum einer Quadratmeile lag in der Südukraine die palisadenbewehrte Kosakenfestung, belagert von der schwedischen Armee und diese wiederum von Peter angegriffen. Der Zar war überlegen - vier zu eins, der Schwede hatte zwanzigtausend Mann, wir achtzigtausend. Und diesmal floh der Zar nicht vor der Schlacht, sondern harrte aus bis zum Sieg. In ganz Rußland waren Kirchenglocken für Kanonen eingeschmolzen worden - nun läutete das Victoria entsprechend verhalten, obwohl doch die Eroberung am Finnischen Meerbusen endlich gesichert war. Alle Baumaßnahmen, wenn irgend möglich, wurden mit noch größerem Nachdruck voran getrieben. Peter eroberte Livland, Estland und legte auf der Insel Kotlin Kronstadt an. Drei Jahre nach Poltawa liebäugelte der Zar damit, ganz Petersburg nach Kotlin zu verlagern, mitten ins Meer - doch das zerschlug sich.
Inzwischen nahm St. Petersburg Gestalt an. Das Netz der Entwässerungsgräben senkte den Grundwasserspiegel so stark, daß manch einem früh erbauten Haus nun das Fundament wegsackte. Peter ließ Bäume pflanzen, wo das Marschland sie trug.
Einem Erlaß zufolge schleppte jeder Bürger hundert Steine jährlich für den Weiterbau der Stadt - oder er zahlte eine empfindliche Buße. Die Baukanzlei nahm ihre Arbeit auf. Trezzini war als leitender Baumeister berufen. Man begann mit der Anlage des Sommergartens. Ein Jahr nach Poltawa schon hatte der Bau des Sommerpalastes begonnen. Der Newskij-Prospekt wurde vermessen. Zar Peter zwang den gesamten Hof von Moskau nach St. Petersburg. Der Senat war gegründet, die erste Druckerei, die Partikularwerft für den privaten Schiffsbau an der Fontanka, gegenüber dem Sommergarten - da begann Trezzini 1712 mit der ersten Steinkirche St. Petersburgs, der Peter-Pauls-Kathedrale samt ihrem hohen, spitzen Turm, der aussieht wie der Hauptmast eines Segelschiffs.

Ich weiß nicht mehr genau - ich zählte damals um zehn Jahre und da verwischt sich manche Reihenfolge. Natürlich könnte ich das Datum im Archiv prüfen, doch scheue ich es heute Nacht, den Bannkreis meiner Kerzen zu verlassen. Was also, Monsieur, habe ich vergessen? Unser Holzhaus, keinen Viertelwerst vom Zarenhaus. Peters Haus, wo er seit 1703 lebte, in nur vier Zimmern. Davor der Steg mit dem Boot. Daneben die kleine Holzkirche mit der ersten Turmuhr. Etwas weiter das große, hölzerne Kaufhaus - allesamt im Dreieck, wo Kleine Newa und Kleine Newka sich verzweigen.
Wohlgemerkt - der Zar residierte im Blockhaus, während sein Freund, Fürst Menschikow, dem er die Wassili-Insel geschenkt hatte, seinen gewaltigen Palast plante. Man kann Zar Peter allerhand vorwerfen, doch sicher keine Prunksucht. Später nahm er Menschikow die Insel sogar wieder ab und plante, während ein paar aufregender Wochen, das Stadtzentrum dort neu zu bauen - doch das Gelände lag zu tief. Aber jetzt fällt mir ein, was ich vergaß: die Admiralitätswerft. Fertig war sie noch nicht, doch ihre Docks spuckten schon seit geraumer Zeit Galeeren aus. Galeeren auf der Ostsee? Ganz recht! Rußlands Flotte, die 1714 in der Seeschlacht bei Hangö den Schweden eine empfindliche Schlappe beibrachte, bestand nicht aus Segelschiffen, sondern aus Galeeren, die in der Admiralität vom Stapel liefen, dem Lauf der großen Newa folgten durch jene Fahrrinne, die mein Vater und der Zar vermessen hatten, um schließlich, nordwärts abbiegend, in Peters Galeerenhafen auf der Wassili-Insel zu laufen.
Hier stöberte ich schon herum, lange bevor die Schlacht geschlagen oder auch nur genügend Galeeren vom Stapel gelaufen waren. Die Wassili-Insel liegt wie ein hingeklatschter Butt im Delta. Wo beim Butt die Schwanzflosse sitzt - dort war auf Peters Insel der Galeerenhafen. Längs eines Rinnsals reihten sich Baracken für Handwerker und Besatzungen. Überdachte Liegeplätze rechts und links des Hafenbeckens deckten die Schiffsrümpfe. Seewärts die Fahrrinne, zwischen zwei langen Molen, deren äußere mit aufgeschüttetem Geröll befestigt war - im steinlosen Petersburg ein Akt imperialer Verschwendung.
Zwischen den Baracken focht ich mit dem Birkenzweig ritterlich gegen einen Schwarm Stechmücken, da hörte ich die Stimme: „Lew?“
„Anna?“ fragte ich.
Sie hatten uns getrennt. Nach Kennzeichnung ihres Vaters verschwand sie für Monate, während mir etliches zustieß, das ich nicht aufschreiben möchte. Natürlich widerstrebte meinem Vater, daß aus mir ein Weichling werden sollte. Sobald ich tot bin, Monsieur Molnay, übergebt meinen Leichnam den Anatomen! Die werden auch nach sechzig Jahren noch diagnostizieren, wie er mich hart machte.
Wir fielen uns weinend um den Hals, doch spürte ich, daß diese Geste ihrerseits weit sparsamer von zärtlichem Gefühl begleitet war, als meinerseits. Sie brauchte wieder einmal Hilfe für den Vater, den leiblichen, denn ihr Ziehvater war inzwischen am ekelhaften Klima zugrunde gegangen.
Ihr richtiger Vater jedoch hatte die Tortur auf der Haseninsel überlebt und war, mit Annas Hilfe, hauptsächlich durch das gute Essen, das sie ihm beschaffte, wieder leidlich zu Kräften gekommen. Die Sonderration war von seinen Kameraden naturgemäß mit Mißgunst beobachtet worden und hatte ihn unbeliebt gemacht. Nach einer Reihe von Schlägereien, bei denen es sogar Tote gab, schickte man den vermeintlichen Unruhestifter als Ruderknecht auf die Galeeren. Dort wurde er, wie jeder andere, vorm Auslaufen an seine Ruderbank gekettet und war dazu verurteilt, mit zu sinken, falls das Schiff sank.
„Bitte, Lew, bitte rette ihn“, flehte sie an meinem Ohr, ohne sich im geringsten darum zu scheren, daß es grün und blau und mindestens auf doppelte Größe geschwollen war.
Und ich antwortete verzeihend, großspurig und mit meinen zehn Jahren auch schon etwas verliebt: „Komm, gehen wir zum Zaren!“

Die Ruderbänke der Galeeren kamen für Festlandsrussen gleich nach der Hölle. Das abergläubische Landvolk fürchtete weniger den Tod, der alltäglich war und vielfach gar nicht unerwünscht, als vielmehr das Meer. War es nicht unchristlich vermessen, Wind und Wellen trotzend, das  Element herauszufordern? Kostete es nicht am Ende gar das Seelenheil, in dieser Flotte zu dienen, gegen die der Pope bebend vor heiligem Zorn anpredigte, schon allein deshalb, weil sie ein Projekt des Zaren war, des Antichrist? Dem Zaren wiederum machte es Vergnügen, gerade Russen tief aus dem Festland an die Bänke zu schmieden, sei es um sie doppelt zu strafen, oder um zu beweisen, wozu schrankenlose Willkür fähig war - sogar der Kirche zum Trotz.

Ach Herr, hört wie das Briefpapier schreit, wenn ich die beiden im selben Atemzug nenne - Zar Peter und die Kirche! Sein Heiliger Synod aus den größten Säufern Rußlands! Natürlich war der Klerus ein bigottes, rückständiges Pack, versoffen und verlaust schlotternd im frischen Wind, der stürmisch hereinwehte, seit Peter Rußlands Fenster nach Westen aufgestoßen hatte. Doch andererseits litt das einfache Volk so unsäglich, daß es ohne Trost nicht leben konnte. Und wer, wenn nicht der Klerus, sollte diesen unverzichtbaren Trost spenden, mochte er selber dabei oft prassen, wie die Made im Speck? Dagegen wiederum hatte Peter nichts einzuwenden. Ihn störte nur die stille, bartraufende Opposition. Ihn störte der Widerstand gegen Neuerungen. Ihn störte generell die zweite Macht im Staat. Am meisten störte ihn der kirchliche Einfluß auf seinen Sohn Alexej, einen Weichling wie mich, allerdings mit weniger Fortune. Ich habe in Peters Haus jeden Beruf und Menschenschlag zu Gast gesehen, vom Leibeigenen über ausländische Kapitäne, Philosophen, Handwerker und einheimische Fürsten. Niemals jedoch einen Popen.
Am Giebel zwei holzgeschnitzte Mörser und zwei Kanonenkugeln, zum Zeichen, daß man sich im Krieg befand. Der kurze Steg, immer ein Boot vor der Tür. Insofern entsprach Peters Holzhaus seinem Erlaß über die rote Linie, durch den er das Straßenbild Petersburgs schützen wollte vor der Unart aller übrigen Russenstädte, nämlich das Haus mitten aufs Grundstück zu bauen, so daß es nirgends gerade Straßenfronten gab. Peters Haus lag in der Tat an der Straße. Sogar an der Hauptstraße, direkt an der Newa. Das war ihm so wichtig, daß er Seite an Seite mit meinem Vater schallend lachte, als eine Flutwelle den leichten Bau davonschwemmte. Er konnte so ein jämmerliche Feigling sein - doch die Gewalt des Wassers hat er nie gefürchtet.
Wir passierten die erste Postenkette ohne Aufenthalt. Die Soldaten kannten mich und wenn Anna mich begleitete, so hatte das in ihren Augen seine Richtigkeit. Die zweite Postenkette war heikel, obwohl von einer Kette rechtens nicht gesprochen werden kann. Es handelte sich nur um drei oder vier, manchmal fünf Männer in dunklen Röcken von zivilem Schnitt, die durch die Gegend stolzierten, grimmig bemüht, noch mehr Furcht einzuflößen als ihnen, gemessen an siegreich bestandenen Zweikämpfen und zugefügter Folter ohnehin gebührte. Natürlich kannten auch sie mich. Doch, anders als die Soldaten, waren sie durchaus nicht durch Kindergeschrei zu erweichen. Um an ihnen ungesehen vorbei zu kommen, schlugen wir Haken.
Zar Peters Blockhaus bestand, ich glaube, das habe ich Euch schon erzählt, aus nur vier Zimmern. Da es hellichter Tag war, lotste ich Anna zum kleinen Fenster des Regierungszimmers. Allüberall poliertes Holz - als befände man sich in einer rechtwinkligen Kapitänskajüte. In einer Ecke stand Peters Feldbett, wo er schlief, wenn er in Nächten voller Wodka und Arbeit kurz umzukippen drohte - und vorzog, nicht zu seiner Frau ins Bett zu kriechen. In der anderen Ecke sah ich eine englische Standuhr, die ich noch nie bemerkt hatte und niemals wieder sah. Rings um den eleganten, geschmackvollen Tisch, der überhäuft war mit Landkarten und Papieren, standen elegante, geschmackvolle Stühle. Peter saß da. Seine Favoritin Katharina. Menschikow und Naryschkin, während Peter wieder einmal die Anekdote erzählte, wie er sich vor der Beinahe-Katastrophe am Pruth in Katharinas Brüsten versteckt hatte, ehe der Botschafter aus dem türkischen Lager zurückkehrte. Ich kannte die Geschichte von meinem Vater.
Halb wahnsinnig vor Durst waren russische Soldaten zum Fluß geschlichen - Peter strampelte röchelnd über den Kartentisch und schmiss herunter, was er nicht zerfetzte mit den Knöpfen seines Rocks. Schamlos verhöhnte er die Männer, die für ihn gestorben waren - weil die Türken unten am Fluß lauerten und einen nach dem anderen abknallten. Naryschkin feuerte den Zaren an. Menschikow, der bessere Freund, suchte ihn zu beruhigen. Katharina saß dabei und nähte ein Hemd aus holländischem Leinen für das Väterchen.
Dann mußte Anna niesen.
Zunächst schien niemand sie gehört zu haben. Der Zar stand nicht gleich auf, sondern schmiss zuerst noch ein paar Landkarten durcheinander und kippte drei Becher Schnaps, bevor er zum Abtritt mußte.
Die Tür war noch nicht zu, da änderte die Szene sich schlagartig. Katharina fing zu weinen an: Zar Peter habe schon damals kurz vor dem Zusammenbruch gestanden und bedürfe der Ruhe und der Hilfe seiner Freunde mehr denn je. Naryschkin schnarchte, da das Auge Peters nicht mehr über ihm wachte. Fürst Menschikow gab etliche Tropfen aus einer Kristallphiole in den Zarenwodka, mit der Bemerkung:
„Davon schläft er.“
Katharina stand auf, drehte sich zur Tür und wischte dabei den Becher mit den Tropfen vom Tisch, so daß er zerbrach und in die Dielen sickerte.
„Oh! Menschikow! Das tut mir aber Leid“, sagte sie kühl.
Plötzlich schrie Anna auf. Die Zarenpranke hielt sie im Nacken. Erinnert Ihr Euch, Monsieur Molnay, daß Voltaire dem Zaren, aller Verehrung zum Trotz, das Herz eines Tigers zuschrieb? Nun, dieses Herz, schlug jetzt für uns. So selbstverständlich Peter im vertrauten Kreis den Narren spielte, so sehr scheute er doch, von ungeladenen Gästen belauscht zu werden.
„Da schau, Lew Kokoschin“, schnaubte der Zar, als er mein Kinn zu sich hochzwang. Dann ließ er die Leibwächter antreten. Er trug keine Knute, sondern nur einen jungen Birkenzweig, mit dem er seinen Männern die Gesichter malträtierte. Bald troff einem der Saft aus dem geplatzten Augapfel. Peter schickte sie fort. Neue graue Gestalten traten an.
„Was willst du, Lew“, fragte der Zar. Ich schilderte Annas Wunsch, immer noch den aussickernden Gallert vor Augen. „Fein“, sagte Peter, „spring!“ und schon pfiff seine Rute unter meinen Füßen durch, denn ich war tatsächlich im letzten Augenblick gesprungen. „Zeig mir, daß du kein Jammerlappen bist“, verlangte der Zar, während ich zu seinen Hieben tanzte, selten getroffen wurde, meist jedoch nicht, bis er anfing, höher zu zielen, so daß ich Purzelbäume über die Rute machen mußte. Es dauerte nicht lang - da brach ich mir beim Aufprall einen Daumen.
Als Zar Peter den rechten Winkel bemerke, in dem mein Daumen zum Handrücken stand, packte er grob mein Kinn und senkte sein vom Alkohol verschwollenes Gesicht zu mir hinab.
„Das tut wohl weh?“ fragte er.
Ich nickte. Mit spitzen Fingern nahm er meinen gebrochenen Daumen und drehte ihn ein bißchen. Ich spuckte ihm ins Gesicht. Ungerührt wischte er meinen Rotz von den Lippen und starrte mich an: „Weinst du?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das ist tapfer, Lew. Weil du nicht weinst, gewähre ich dir deine Bitte.“

Ich gebe zu: wenn solche Körperertüchtigung einmal nicht auf dem Lehrplan stand, brachten Hauslehrer mir die Sieben Freien Künste bei. Ich lernte Griechisch, Latein, Französisch und Englisch. Las die Alten. Man unterwies mich in den Naturwissenschaften. Gab mir moderne Philosophen zu lesen, die ich zwar nicht verstand, dafür jedoch passagenweise recht bald auswendig rezitierte. Sie lehrten mich Tanzen, Reiten, Fechten, Schwimmen, Schießen. Und da wir in Rußland lebten, wo unser Herr und Zar Peter sich allergnädigst für die unfreien Künste erwärmte, volontierte ich auch in den Handwerken. Mit Hammer und Stemmeisen schlug ich auf der Werft Balken zu Spänen. Ich schmiedete unter Anleitung meinen ersten eigenen Degen, mußte mit den Söhnen des Adels in winzigen Jollen auf die Ostsee, bei welcher Vorstellung mich heute noch das große Kotzen befällt und kenne den überwältigenden Geschmack von Angst, wie er in Pulvermühlen herrscht. Nur gegen das Zähnereißen - worauf der Zar sich kaprizierte - sträubte ich mich mit Erfolg.
Ihr seht, Monsieur Molnay, meine Erziehung war gediegen und  übertraf, was man bei einem Mann von Stand füglich erwartet. Kein Wunder, lernte ich doch unter der Blicken des Genies und Gewaltmenschen Peter - vom Vater ganz zu schweigen. Die Tage hatten nicht genug Stunden für den Unterricht. Die Nächte vergingen mit emsigem Repetieren, denn das mir auferlegte Pensum war selbst unter Drohung der Knute kaum zu bewältigen.
Ich muß etwa dreizehn gewesen sein, als mich der Vater in sein Studierkabinett bestellte, wo er mir einen Platz anbot und Wodka. Da ich mir keiner Schuld bewußt war und er mich sonst nur rief, um mich zu schlagen, blieb ich mißtrauisch und habe deshalb kein Wort des Dialogs vergessen, der sich nun entspann.
„Ich bin wohl manchmal streng zu dir, mein Sohn?“ Er ließ ein wenig Zeit verstreichen. „Zu streng?“ Mehr Zeit verstrich. „Aber du weißt, daß ich dein Bestes will? Du liebst mich doch, Lew Kokoschin?“
Ich war zu jeder erdenklichen Lüge bereit, um neue Prügel zu vermeiden, doch diesen Grad von Selbstverleugnung brachte ich nicht auf. Trotzig schüttelte ich den Kopf. Statt zu schlagen, lächelte er schief.
„Aber du achtest deinen Vater?“
Nachträglich noch vor meinem eigenen Mut erschrocken, wollte ich kein zweitesmal seinen Zorn herausfordern. Also quetschte ich die einsilbigste aller Antworten heraus: „Ja.“
„Und du würdest mich nie verraten?“
„Nein.“
„Auch nicht an den Zaren?“
Das versprach interessant zu werden. Ich raffte mich auf zu einem gesprächigen: „Nein Vater. Niemals Vater.“
„Brav, Lew!“ sagte er. Er streckte die Hand aus, als wollte er mir über den Kopf streichen. Aber die Hand blieb in der Luft hängen und die Geste unvollendet.
Dann erzählte mir der Vater von den Gründern und ließ durchblicken, daß seine erste und wichtigste Loyalität nicht dem Zaren galt, sondern dem Rat der Dreiunddreißig. Natürlich blieb er bei vagen Andeutungen, bei Konjunktiven, und nicht einmal Zar Peter höchstpersönlich, wenn er mich mit all seiner erfinderischen Grausamkeit verhört hätte, hätte auch nur ein einziges verwertbares Sterbenswörtlein aus mir herausgekriegt. Aber mein Vater war mir nach diesem Abend näher, da ja die Prügel, die ich bezog, offenbar nicht nur meinem eigenen Besten dienten, dem Fortkommen des Vaters, dem Dienst an Zar und Rußland, sondern einem noch höheren Zweck - den Gründern. Da hielt ich gleich bereitwilliger still.
Verzeiht meinen Sarkasmus, Herr - das wirkliche Problem bestand darin, daß zu allem Unterricht und Lernen nun noch die tägliche Stunde bei meinem Vater kam: Geschichte und Politik der Gründer. Wahrlich der interessanteste Stoff - aber auch das letzte Quentchen Überanstrengung, an dem damals meine Antriebsfeder und mein Gehorsam zerbrachen.

Obwohl - zunächst gelang es mir, den Bruch geraume Zeit zu kitten. Ich besinne mich des Abends, an dem der Zar, Fürst Menschikow, mein Vater und ich uns über den Idealplan des französischen Architekten Leblond beugten. Ein Januartag 1717. Anna und ich hatten uns nachmittags bei einer Schneeballschlacht ausgetobt. Der Zimmermann auf der Admiralitätswerft bekam zwei Rubel, damit er mein Schwänzen nicht meldete. Im Gegensatz zu mir verfügte Anna stets über reichlich Geld und machte mit ihren Stiefeltern - die Stiefmutter hatte wieder geheiratet und zwar einen deutschen Kapitän - was sie wollte. Ein herrlicher Nachmittag, bis ich beim Vater zur abendlichen Gründer-Lektion antrat.
Wir hatten kaum begonnen, da stürzten Zar und Menschikow ins Zimmer, beide hochrot. Sie entrollten den Plan, verlangten Wodka und wollten meines Vaters Urteil hören über dies lächerliche Ei, das Leblond da gelegt hatte. Demnach sollte die Stadt sich, ungeachtet beider Newa-Arme, die sie teilten, innerhalb eines gewaltigen, eiförmigen Befestigungsringes um einen zentralen Palastbezirk auf der Wassili-Insel anordnen. Wie abgebissene Stücke lagen Admiralitätsseite und die Seite mit Peters Blockhaus innerhalb dieses Ringes. Die Peter-und-Pauls-Festung, ursprünglich zentrale Befestigung, hätte nurmehr als Sicherung gegen den Hauptarm der Newa gedient.
Mein Vater wußte, daß Fürst Menschikow die ganze Wassili-Insel zum Geschenk erhalten hatte, und dort seinen Palast plante, in Konkurrenz zu Peters zwölf Kollegien - den Bauten für die Ministerien ... Vater war ausgesprochen diplomatisch.
„Nun ...“, sagte er.
„Und wo ist der Galeerenhafen?“ fragte ich frech dazwischen. Meine Wangen, kaum noch rot von der Schneeballschlacht, nahmen nach zwei Ohrfeigen gleich wieder krebsrote Farbe an.
„Nein, nein“, sagte der Zar, „laß deinen Jungen mal zufrieden, Konstantin. Er hat ja recht. Leblond, der eitle Fant mit seiner Eiersymmetrie nach Vauban hat ja tatsächlich meinen Galeerenhafen auf der Wassili-Insel ausgespart. Was fällt dir sonst noch auf, Junge?“

Da war ich nun in meinem Element, denn ich kannte die mückenverseuchte Insel wie meine Westentasche und konnte dem Zaren jede einzelne Senke und Rinne aufzählen, die das ohnehin tief gelegene Marschland zusätzlich unwegbar machte. Damals lebten und arbeiteten etwa siebzigtausend Menschen in St. Petersburg. Gerade hatte der Zar befohlen, private Unternehmer in den Aufbau einzuschalten. Wenn jetzt die natürliche Entwicklung der Stadt zugunsten eines halben Neubaus unterbrochen wurde, starben neue Hekatomben von Leibeigenen - schon allein um das durchschnittliche Bodenniveau der Insel zu heben.
Das Leid freilich oder die Toten würden dem Zar kaum Eindruck machen, es interessierte ihn ja nicht einmal, daß inzwischen das ganze Land ihm fluchte und den Tod wünschte. Aber da ich mittlerweile drei Becher Wodka gekippt hatte, raffte ich mich zu dem Plädoyer auf:
„Sankt Petersburg ist ein majestätischer Willensakt im Ödland. Gewagt und bedroht. Warum muß den drei Seiten, der Admiralitätsseite, der Inselseite und der Seite des Zarenhauses nun auch noch die natürliche Entwicklung abgeschnitten werden, nachdem sie gerade erst in Gang kommt? Was wäre aus Konstantinopel geworden, wenn man ihm künstlich die Form eines Kreuzes aufgezwungen hätte? Wäre ein quadratisches Rom groß geworden?“ Mein Vater starrte mißtrauisch. Menschikow nickte begeistert. Der Zar schürzte skeptisch die Lippen.
„Oder Amsterdam“, fuhr ich fort, „stellt Euch vor, Majestät, ein spanischer Architekt hätte der Stadt Amsterdam die Form des Escorial aufgezwungen ...“ Damit hatte ich ihn.
„Kokoschin“, sagte Peter im Hinausgehen, „ich wünschte, ich hätte einen Sohn wie deinen Lew.“ Und der Zar scheute sich nicht, ein paar sentimentale Tränen aus den Augen zu wischen. Vor der Tür allerdings packte er mich im Genick und sprach mit warmer Stimme: „Lew, Söhnchen, verschwende nicht mehr so viel Zeit bei der süßen Dirne, mit der du heute Nachmittag hinter der Admiralität gesehen wurdest. Sonst nehm ich sie dir weg.“

Unnötig, zu erwähnen, daß Leblonds Idealplan zu den Akten ging. Noch unnötiger, die furchtbare Tragödie noch einmal zu erzählen, die sich zwischen Zar Peter und Zarewitsch Alexej entspann. Doch da ich nun einmal in späteren Jahren zeitweilig als Gegenentwurf zum Thronfolger gehandelt wurde, als Idealthronfolger, allein mit dem Makel falscher Vaterschaft behaftet, bleibt mir nichts übrig, als auch hierauf einzugehen. Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob mein Vater seine Ehefrau mit dem Zaren geteilt hat, so wie Menschikow die spätere Zarin Katharina mit Zar Peter teilte, bevor der die Magd für sich allein beanspruchte. Kann ich ein Bastardsohn des Zaren sein? Möglich. Zweifel in dieser Frage mag mit dafür gesorgt haben, daß mancher Schlag meines Vaters härter ausfiel, als beabsichtigt. Das wäre dann meine Tragödie gewesen.
Die Tragödie des Thronfolgers begann, als Zar Peter seine rechtmäßige Ehefrau, Alexejs Mutter, ins Kloster verbannte. Wie konnte dieser rücksichtslose Planer hoffen, daß ausgerechnet in kerzenblinder, weihrauchschwangerer, rußig orthodoxer Klosteratmosphäre ein Sohn gedieh, der seiner Vorstellung genügte? Wie soll jemand, der die prägenden Jahre so verlebt, aufgehetzt von Mutter und Popen, von Kindesbeinen ständig mit Wodka traktiert, dem frischen Wind St. Petersburgs gewachsen sein? Der Zar war ein Narr in dieser Angelegenheit. Die Mutter hatte selbstverständlich nichts besseres zu tun, als den Zarewitsch im Haß auf Peters Werk zu erziehen. Jede Neuerung - Teufelswerk. Jede Angleichung an westliche Standarts - Verrat an Rußland. Peter wollte die Russen zu Holländern machen. Rußland aber fühlte nur zu tief die Wahrheit jenes bösen Spruches von Voltaire: Kratze am Russen und du findest den Tataren.
Zar Peter gab sich redlich Mühe mit demThronfolger, doch jedes Gespräch endete mit Gebrüll und Weinen, während jede Aufgabe, die der Zar dem Zarewitsch anvertraute, im Fiasko endete. Das Volk betete, Peter möge rasch krepieren, damit der frömmlerische Thronfolger endlich das Werk des Antichrist zerstöre, bevor er sich ins Dämmerlicht des Moskauer Kreml zurückzog. Irgendwann wurde von Aufstand und Staatsstreich geschwafelt. Alexej trat seiner deutschen Frau in den hochschwangeren Bauch. Peter stellte seinen Sohn zur Rede. Alexej versprach, schon sehr geläufig, Besserung - und floh 1716 mit seiner finnischen Geliebten nach Wien.
Die diplomatischen und geheimdienstlichen Winkelzüge, mittels derer Tolstoj den Zarewitsch später in Castel Sant' Elmo hoch über Neapel aufspürte und zur Rückkehr nach Rußland bewegte braucht ein legat der Gründer seiner Zentrale kaum zu referieren, Monsieur. Jedenfalls war der Zarewitsch dumm genug, heimzukehren. Er wurde verhört. Seine Mönche und Priester wurden peinlich verhört. Wie nicht anders zu erwarten, stieß man auf Widersprüche.

Zar Peter war ein großer Witzbold. Zar Peter bezog das Gehalt eines Regimentsobristen. Er korrespondierte hochoffiziell mit dem Säufersynod. Er freute sich wie ein Kind, als der von ihm selber ernannte Karnevalszar ihn zum Admiral beförderte. Und ganz in dieser Tradition legte der Selbstherrscher aller Russen, der mit seinem Blinzeln Armeen von Soldaten oder Leibeigenen bewegte, der mit eigener Hand folterte und tötete - in ebendieser Tradition der Verhöhnung aller Autorität, die er zugleich selber erbarmungslos ausübte, legte Zar Peter das Schicksal seines Sohnes ins Ermessen eines Gerichts.

Alexej unterzeichnet den Thronverzicht. Peter verzeiht, unter der Bedingung, daß er die volle Wahrheit sagt. Der Mönch Kikin erhält zunächst fünfundvierzig Hiebe mit der Knute. Danach - auf vier Male verteilt - hundert Schläge. Nachdem er am Wippgalgen hing und man ihm die Nase abgerissen hat, wird er gerädert. Peter führt seinen Sohn zur Hinrichtung des Freundes. Der Henker nimmt sich drei Stunden Zeit, ohne daß der Zarensohn irgendeine Gemütsbewegung zeigt. Feiner Freund! Peter nimmt ihn in Gnaden wieder auf. Dann gibt es plötzlich neue Indizien für Hochverrat.
Hundertsiebenundzwanzig Metropoliten, Bischöfe, Fürsten, Senatoren und Generäle versammeln sich am siebzehnten Juni 1718 in Petersburg. Da der Zarensohn ungenügend aussagt, erhält er zwei Tage später in der Peter-und-Pauls-Festung fünfundzwanzig Schläge mit der Knute. Mein Vater verabreicht sie ihm. Zwischendurch stellt Tolstoj immer neue Fragen. Am zweiundzwanzigsten Juni bekommt Alexej auf die blutigen Wunden fünfzehn neue Knutenschläge. Er gesteht alles, was man von ihm hören will - und das Gericht der hundertsiebenundzwanzig Helden verurteilt ihn zum Tode.

Am sechsundzwanzigsten Juni fuhren Wagen im Innenhof der Peter-und-Pauls-Festung vor: Fürst Menschikow, Fürst Jakob Dolgorukij, Apraxin, Kanzler Golowin, Vizekanzler Schapirow, General Buturlin, mein Vater und ich, sowie - der Zar. Peter drückte dem Sohn einfach nur seine Pranke auf die dürre, röchelnde Kehle, bis sie still wurde. Punkt elf verließen wir die Festung.

Monsieur Molnay - vergleicht doch bitte diese Barbarei mit der Ohrfeige für Menschikow! Und dann erklärt mir, was im Zaren vorging ...
Er mordet sein eigen Fleisch und Blut, wie Iwan der Schreckliche, nur mit dem Unterschied daß Iwan seinen trunkenen Hieb nie wirklich gewollt hat und später bitter bereute. Anders Zar Peter: er war kein bißchen betrunken an diesem Morgen. Darauf leiste ich jeden Eid.
Und was geschieht Fürst Menschikow vier Jahre später, als er seinen Zaren aufs Ungeheuerlichste provoziert? Peter hatte ausdrücklich befohlen, der Architekt Trezzini möge seine zwölf Kollegien parallel zur Newa errichten. Es war völlig klar - die Stadt sollte in diesem Bauabschnitt eine wunderschöne Front zur Flußseite hin bekommen. Was tut nun Menschikow? In Abwesenheit des Zaren zwingt er Trezzini, mit dem Bau der Kollegien quer zur Newa zu beginnen, damit für seinen eigenen Palast mehr Platz bleibt.
Und wie bestraft der Zar diesen schreienden Ungehorsam? Mit einer Ohrfeige. Monsieur, glaubt mir, Rußlands Sanftheit ist oft rätselhafter als Rußlands Grausamkeit.

Bei allem Lamento über petrinische Barbarei will ich aber Peters gute Gründe nicht verschweigen. Ohne Peters Grausamkeit - ich muß das nüchtern aussprechen - wäre Rußlands Öffnung nach Westen mißglückt. Hätte Peters Herrschaft weniger Furcht eingeflößt, so hätte sich Rußland um keinen Zoll breit nach Westen bewegt, denn die Beharrungskräfte meines armen Landes waren und sind immer noch enorm. Das Volk lebte unmündig, furchtsam, faul und betrunken in den Tag hinein. Der Kenntnisstand in Wissenschaft und Handwerk war bestenfalls mittelalterlich. Adel und Beamtenschaft waren weder fähig noch überhaupt willens, eine tüchtige Verwaltung aufzubauen. Bojaren und Popen wetteiferten um den schönsten Bart und die reichste Goldstickerei am Kaftan. Niemand folgte Befehlen aus Gehorsam - geschweige denn aus Einsicht in ihren Sinn. Aber wenn dann ein Befehl endlich befolgt wurde - aus Furcht und oft erst nach Prügeln -  dann machte er inzwischen keinen Sinn mehr.
Rußland glich einem tumben, gewaltigen Klotz auf einer Rutschbahn. Ungeachtet tief orthodoxer Gläubigkeit und ungeachtet Zar Iwans des Schrecklichen, hatte diese Rutschbahn nach der Tatarenherrschaft ein Gefälle zum Orient. Ohne Peters Schreckensherrschaft wäre Rußland weiter gerutscht. Nur Peters Grausamkeit trieb Keile unter diesen Klotz. Nur seine unermüdliche Schaffenskraft, nur sein Fleiß, der nicht beim Saufen nachließ, nicht beim Huren, nur sein zäher Wille, der nach keinem noch so demütigenden Anfall von Feigheit brach, nur Peters Selbstaufopferung bewegte den russischen Klotz die Rutschbahn hinauf bis zu jenem Punkt des Gleichgewichts, wo er heutzutage liegt und zwischen Ost und West schwankt. Ganz nach dem Willen der Gründer. Sapin hat diese Möglichkeit gesehen. Costa-Cabral gab ihm freie Hand. Mein Vater Konstantin Kokoschin tat das Seine. Nach ihm tat ich das Meine. Aber wenn Zar Peter an jenem Tag nicht seine Hand auf die Kehle Alexejs gedrückt hätte, wäre alles umsonst gewesen. Dieser Thronfolger hätte das Werk seines Vaters zerstört. Nichts wäre geblieben. Petersburg wäre verschwunden von der Landkarte - ein Nichts auf einem Fundament von hundertfünfzigtausend Schädeln.

Inzwischen - ach ja nun, Monsieur Molnay - Ihr ahnt inzwischen, daß ich die Schläge zwar verabscheue, ihre Ergebnisse jedoch zu schätzen weiß. Inzwischen strahlten Rastrellis Fassaden - azurblaue Flecken inmitten der Schar weißer Säulen. Inzwischen war die Kunstkammer begründet, der Ladoga-Kanal und Zarskoje-Selo. Russische Truppen hatten in der Nähe Stockholms gestanden und 300 Meilen vom Rhein. Es gab eine Zuckerraffinerie. Peter hatte die Taurische Venus ersteigert. Der Friede von Nystad hatte den Nordischen Krieg beendet. Der Allerheiligste Synod  war reformiert. Der Amtsadel war eingeführt und mit ihm die Rangtabelle. 1723 stand ich neben Anna am Straßenrand, als die beiden Regimenter Semjonowski und das Preobraschenski-Regiment von Moskau einrückten.
Für ihre heutigen Kasernen war damals nicht einmal der Grundstein gelegt. Da sich alle drei Regimenter, angefangen vom gemeinen Soldaten, aus Söhnen des Adels rekrutierten, wohnten die Soldaten im Privatquartier. Erst die nachmalige Zarin Anna kasernierte die Regimenter, um bei Alarm zentralen Zugriff zu haben.
Im Petersburg der 1720er Jahre aber sorgte die Anwesenheit dermaßen vieler junger Adliger für einige Umwälzung. Wer auch immer eine beheizbare Stube zu vermieten hatte - profitierte. Geldverleiher profitierten - die jungen Herrschaften spielten, verloren weit über ihre Verhältnisse und liehen sich im Vorgriff auf ihr Erbe. Insgesamt profitierte Rußland, denn die jungen Leute erlebten prägende Jahre in der neuen Hauptstadt und verbreiteten den neuen Geist später im Heimatbezirk. Es profitierten auch die Wirts- und Hurenhäuser. Adlige Heiratskandidatinnen profitierten, denn sie wurden von einer gewaltigen Zahl Bewerber umschwärmt. Wer eher nicht profitierte, das waren einfache, hübsche Mädchen, die unbelästigt über Petersburgs Straßen gehen wollten.

Da fällt mir auf, daß ich diese Straßen noch nicht erwähnt habe. Es gab sie inzwischen - richtige gepflasterte Straßen. Zumeist viel breiter als in den Städten Westeuropas. Sie durchschnitten bebaute und noch unbebaute Areale, säumten Kanäle, verbanden Paläste und Klöster. An ihren Rändern standen Steinhäuser und Holzhäuser, die nur als Steinhäuser angemalt waren. Im Winter preschten  Pferdeschlitten über wunderbar saubere, weiße Bahnen aus Schnee. Im Sommer jedoch offenbarte das Petersburger Pflaster seine Tücken. Ich will nicht behaupten, wir Russen könnten generell kein Pflaster legen. Ein Großteil des Problems rührt vom schwammigen Untergrund her, der immer wieder neue Löcher im Straßenbelag aufreißt und die Fugen zwischen den Pflastersteinen so breit macht, daß sie mit Ziegelstaub angefüllt werden müssen. Wenn nun die Sommerhitze kommt und der Großstadtverkehr - jetzt in Gestalt von Kutschen und Karren - unentwegt über dieses Pflaster rattert, wirbelt er Staub auf, und zwar nicht in normalen, verträglichen Mengen, sondern, wie soll ich sagen - russisch.
Die Klage über diesen Staub gehört zur Petersburger Stadtgeschichte, beginnend damit, daß jedes Straßenfenster das Sonnenlicht rot färbt, über Reit- und Kutschpferde, die plötzlich röchelnd auf der Straße verenden, bis hin zu schweren Krankheiten von Lunge und Atemwegen beim Menschen. An jenem Tag, ein paar Wochen, nachdem die Regimenter eingerückt waren, begann das Unheil damit, daß der Schneider Fürst Menschikows in einer Kalesche mit winzigem Wappen an uns vorbeipreschte, durch ein Schlagloch rumpelte und dabei so viel Ziegelstaub aufwirbelte, daß Anna mir hustend im Arm hing. Ein Preobraschensker Fähnrich kam seines Wegs, in unserem Alter, und fragte mit ausländischem Schliff die Demoiselle, ob sie belästigt werde. Anna verneinte - aber er schien nicht überzeugt. Außerdem fühlte er sich mir haushoch überlegen, da ich, so wie mein Vater und der Zar nur einen ganz einfachen braunen Rock trug. Vermutlich hat er auch bemerkt, daß mein Gesicht von Schlägen gezeichnet war. Nur meinen Degen muß er übersehen haben.
Ich werde seinen Namen hier nicht nennen. Der damalige Fähnrich ist später ehrenhaft als General gefallen und sein Sohn spielt heute eine hervorragende Rolle bei Hof, die ich nicht durch alte Geschichten beschädigen will. Es war wirklich nur eine kindische Affäre. Vielleicht hat unser Spucken und Schubsen für ihn tatsächlich so ausgesehen, als belästigte ich Anna. Und ganz gewiß war Anna ein bezaubernde junge Frau, für die er sich begeistert in die Bresche warf.

Kurzum: er rempelte mich - ich rempelte ihn. Er zog blank - ich desgleichen. Er machte einen militärisch korrekten Ausfallschritt - ich konterte mit einer tückischen Quarte, die ich mir auf dem Fechtboden von Peters geheimen Grauröcken abgeschaut hatte. Ich stach ihn in die linke Schulter und er blieb auf dem Pflaster zurück, sein Blut, das weiß ich heute noch, versickerte spurlos im ziegelroten Staub.
In dieser Woche war Stefan von Szemere als visitierender legat  in Petersburg, und ich hatte mitbekommen, wie er meinen Vater gehörig abkanzelte. Daher beschloß ich, das hustende, geliebte Mädchen im Arm und ihren blutenden Möchtegern-Kavalier im Staub, bei Szemere Zuflucht zu suchen. Die ganze Lächerlichkeit dieses Unterfangens ging mir aber auf, als ich - in seiner Abwesenheit - vom Wirt in sein winziges Zimmer geführt wurde. Der Wirt, der mich schon im Gefolge des Zaren gesehen hatte, fürchtete sich, mir meinen Wunsch abzuschlagen. Dessen ungeachtet war Szemere natürlich empört, mich in seinem Allerheiligsten zu finden.
„Ihr seht, ich kann euch hier unmöglich gastlich aufnehmen“, sagte er, nachdem ich ihm den Fall geschildert hatte. „Zu deinem Vater könnt ihr natürlich erst recht nicht. Also versteckt euch ein paar Tage auf eigene Faust, bis ich eine Lösung finde. Am allerwichtigsten - die junge Dame hält den Mund. Der Zar wird keine Beschmutzung der Ehre des Preobraschenski-Regiments zulassen.“
Nette Ehre! Anna erwies ihm alle Verachtung, derer sie fähig war - und das war eine Menge. Uns blieb nichts übrig, als zu Menschikow zu schleichen. Der Fähnrich war gewiß verblutet. Mein Vater würde mich ihm unverzüglich nachschicken auf den Kirchhof. Und wie der Zar einen traktierte, der ihm die Blüte seines Lieblingsregiments wegstach, wartete ich lieber nicht ab.
Wir schafften es tatsächlich ungesehen an den zwölf Kollegien vorbei zu Menschikows Palais, wo mich jeder Domestik kannte. Da Anna wie stets über Rubelchen verfügte, bezahlten wir, was an freundschaftlicher Hilfe fehlte. Trotzdem polterte Menschikow zwei Tage später ins Quartier der Küchenjungen, wo unsere Kammer lag, und warf mich unverblümt hinaus: „Söhnchen, der Zar kann dich nicht ungeschoren lassen. Er hat das Regiment gerade erst nach Petersburg beordert. Rück die Kleine raus“, sagte er, stier auf Anna blickend, „und wenn sie mit dem passenden Augenaufschlag um Gnade fleht, läßt Peter sich vielleicht erweichen. Wenn ihr euch aber nicht stellt, dann müßt ihr, es tut mir leid, mein Haus verlassen. Nichts für ungut, Lew. Ihr wart nie hier. Niemand sah euch kommen oder gehen. Mehr kann ich dir nicht versprechen.“

Immerhin gab Menschikow uns Frist bis Anbruch der Nacht, der Versuch einer noblen Geste, denn wenn man uns bei ihm aufspürte, war er mitschuldig. Wir kamen ungesehen davon, nur - jetzt wohin? Zu meinem Vater - nein! Zu Annas Pflegeeltern - ihr Haus war gewiß längst von Wachen umstellt. Zu irgendeinem Freund oder Bekannten? Wir haßten niemand genug, um Peters Zorn auf ihn zu lenken. Schließlich suchten wir Unterschlupf auf einem Floß, das oberhalb der Admiralität am Ufer vertäut war, sechs Lagen Fichtenstämme zum Pechkochen, auf denen - leer - die wacklige Bretterbude für die Flößer stand.
Dort hausten wir zwei Tage und zwei Nächte wie die Tiere. Tagsüber blieben wir versteckt, nachts schlich ich umher, Lebensmittel zu stehlen. Währenddessen genas mein Preobraschensker Duellgegner wundersam, war längst außer Lebensgefahr und empfing bereits wieder Damenbesuch, wie ich später erfuhr. Uns jedoch, Monsieur, Anna und mich, besuchten Peters geheime Grauröcke, eine mindestens dreißig Mann starke Abteilung. So gehäuft operierten sie selten. Das Ufer war besetzt, bevor ich sie überhaupt bemerkte. Hilflos sahen wir sie das Floß stürmen und unsere Hütte abriegeln. In die Newa zu springen war zwecklos - Anna konnte nicht schwimmen. Trotzdem verstand ich den vollen Ernst der Lage erst, als niemand anders als mein Vater zwei Grauröcke beiseite schob und zwischen ihnen durch vor unsere Tür trat - wobei, sie 'Tür' zu nennen, ist ein Witz. Es handelte sich um ein Loch mit einem Vorhang aus fauligen Säcken.
„Kommt sofort raus“, befahl mein Vater.
Im Lauf der Jahre hatte ich von ihm und vom Zaren durchaus allerhand gelernt, zum Beispiel, daß man ausweglose Situationen nur besteht, indem man etwas völlig Verrücktes tut. Meiner Eingebung folgend rief ich daher: „Komm du rein!“
Durch mein Astloch glaubte ich zu erkennen, daß ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Ich weiß, wie merkwürdig das klingt, nach allem, was ich über ihn erzählt habe, doch was nun geschah, ist leichter zu ertragen, wenn ich mir hin und wieder sage, daß er in diesem Augenblick vielleicht ein klein wenig stolz gewesen ist auf mich. Er an meiner Stelle hätte das ebenso gemacht, Monsieur Molnay, dessen bin ich sicher.
Natürlich konnte er uns einfach durch die Bretter totschießen lassen - doch das widersprach offenbar dem Befehl des Zaren. Daß ich herauskommen würde, brauchte er nicht zu hoffen, dafür kannte er mich zu gut. Zu uns herein zu kommen war tollkühn. Doch mehr als alles andere fürchtete mein Vater, sich in diesem Augenblick eine Blöße zu geben.
„Falls es dem Verbrecher gelingt, mich als Geisel zu nehmen“, rief er, „und wir kommen zu dritt aus der Hütte, dann befehle ich euch, uns ohne Gnade und Erbarmen totzuschießen. Uns alle drei. Ist das klar?“ Er wandte sich zu den Grauröcken um und brüllte: „ob - das - klar - ist?“
Ihr Anführer eilte zu ihm, fiel auf die Knie, küßte die wutgeballte Faust und sagte laut und klar: „Jawohl Väterchen. Wie du befiehlst.“
Dann standen wir uns gegenüber im Dämmerlicht der Hütte. Anna, die ich immer wieder zurückstieß, stellte sich ebenso hartnäckig immer wieder an meine linke Seite. Rechts hielt ich den Degen. Meines Vaters Degen war jetzt nicht gezogen. Ich sah auch keine Pistole, doch das mußte nicht viel heißen, denn seine Röcke hatten geheime Taschen und alle Stiefelschäfte waren präpariert. Sichtbar trug er nur den Stock.
„Hier stehen wir nun Lew“, sagte er. „War sie es wert?“ Mir ging allmählich auf, daß er in diesem Augenblick weder als Vater zu mir sprach noch als Vertrauter des Zaren, sondern als legat der Gründer, dem sein Einfluß zu entgleiten drohte. „Weiß sie - davon?“ fragte er schwer atmend.
Ich schüttelte den Kopf. Von den Gründern hatte ich Anna niemals erzählt. Das blieb, Monsieur Molnay, übrigens bis zu ihrem Tode so, durch all die Jahre unserer Ehe. Sie fragte nie, so wenig, wie sie als Kind nach Striemen gefragt hatte. Und ich lernte ihre Zurückhaltung  schätzen, entsprang sie doch nicht kühler Distanz, sondern einer wunderbar natürlichen Diskretion.

Was mein Vater sich davon versprach, Anna mit dem Stock zu drohen, weiß ich nicht zu sagen. „Sie ist dein Verderb“, knurrte er und hatte schon zum Schlag ausgeholt, bevor er den ersten Schritt vorwärts tat. Anna griff nach meinem Arm, eine Geste, die mich zutiefst rührte. Tränen schossen mir in die Augen. Vielleicht deshalb warnte ich Vater nicht mehr. Heftig blinzelnd, um den Blick zu klären, wartete ich - da war er auch schon auf Degenlänge heran und mir blieb nur, die Klinge hoch zu reißen. In seiner Hand wurde der Stock zur furchtbaren Waffe, und ich gedachte nicht, mich in der engen Holzhütte, ständig besorgt um Anna, auf einen Fechtkampf gegen meinen Vater einzulassen. Also ritzte ich ihm die Wange, nur ganz leicht.
Er sprang zurück, überschätzte dabei den Raum hinter sich und brach fluchend rittlings durch die morsche Bretterwand. Seine Hand stak voll mehrzölliger Holzsplitter und blutete, als hätte man ein Schwein abgestochen. „Ergreift sie“, brüllte er.
„Auf ein Wort, Konstantin Kokoschin!“ mahnte die fremde Stimme.
Die Grauröcke - sie hatten bereits auf uns angelegt - fuhren herum, während Vaters Kinn matt auf die Brust sank.
„Väterchen?“ fragte der Anführer.
„Laßt ihn passieren“, knirschte mein Vater.
Ich glaube, Casanova, also jemand, der wirklich Grund hatte, Stefan von Szemere zu hassen, hat ihn einmal als Husarenoffizier beschrieben - und so war jetzt sein Attacke. Überfallartig trat er einen riesenhaften Ukrainer in den Hintern und als der ihn wahrnahm, hatte Szemere ihm schon die Pistole entwunden und den Lauf zwischen die Zähne gerammt. So führte er ihn, wie ein eleganter Bärenführer sein Raubtier, zur Hütte. „Konstantin!“ sagte er, „du kannst die jungen Leute doch nicht ruinieren. Wenn ich recht informiert bin, soll die Kleine zum Zaren gebracht werden?“ Mein Vater nickte. „Und Lew soll für ein halbes Jährchen an die sibirische Front, zur Abkühlung?“ Wieder nickte Vater. „Tut mir Leid, Konstantin“, sagte der visitierende legat, „das muß ich verbieten.“
„Aber der Zar befiehlt es“, zischte Vater, indem er mit einem Ruck den größten Holzsplitter aus seiner Hand zog.
Szemere blickte unschlüssig von seinem ukrainischen Bären auf meinen Vater.
„Was soll ich dazu sagen, Konstantin, vor all den Zeugen?“ Er schubste den Ukrainer rückwärts und befahl: „Geh schwimmen!“
„Aber ...“, klagte der.
„Geh schwimmen!“ zischte Vater.
Der Ukrainer sprang gehorsam in die Newa. Niemand weiß, was aus ihm wurde. Schwimmen konnte er nicht.
„Also“, sagte Szemere, „offen heraus scheiße ich auf die Befehle deines Zaren. Der Junge kommt wie besprochen zur weiteren Ausbildung nach Venedig - und zwar ohne Umweg über Sibirien. Das Mädchen bringen wir an einen sicheren Ort, damit Lew einen Anreiz hat, fleißig zu lernen. Na, na ...“, drohte er mir - nur halb scherzhaft - mit der gestohlenen Pistole, so daß ich meinen Degen wieder senkte.

Drei Wochen später war mein Vater tot, gestorben am Wundbrand, der mit den dreckigen Splittern in seiner Hand begonnen hatte und obsiegte, als er sich weigerte, den brandigen Arm amputieren zu lassen. Der Zar tobte über den Verlust. Sein Freund und Gehilfe fehlte ihm ernstlich. Zar Peter schwor, mich eigenhändig aufs Rad zu flechten, sobald er meiner habhaft würde, doch glücklicherweise pflügte ich zum Zeitpunkt dieses Schwurs längst die Wogen der Ostsee - in Begleitung Stefan von Szemeres und mit Kurs auf Venedig. Anna war sicher versteckt. Ich kann also nichts Nachteiliges über diesen merkwürdigen Mann Stefan von Szemere berichten - nur abgesehen von seiner knieweichen Begrüßung bei unserem ersten Treffen.

In Venedig fühlte ich mich gleich heimisch, nicht so sehr des Wassers wegen, das dort eher blau und grün schimmert, anders als die Silber- und Kupfertöne der Newa, vielmehr aufgrund der allgemeinen Anlage des Wegenetzes. Rechts ein Weg, dann ein Kanal, links ein Weg - dazwischen hin und wieder eine Brücke, das ist die grundsätzliche Ähnlichkeit, die den Vergleich mit keiner anderen Stadt erlaubt, nur ausgenommen Amsterdam.
Ich verlebte dort glückliche Jahre, obwohl ich Anna anfangs schmerzlich vermißte. In Padua studierte ich. In Venedig lernte ich, was mir noch beigebracht werden mußte über die Gründer, bevor sie mir kleine Aufträge anvertrauten.
Auf Dienstreisen lernte ich Italien kennen, danach Frankreich und schließlich England, woraufhin ich, bei freier Zeiteinteilung, durch die Generalstaaten, Deutschland und Polen heim reiste, um hier den neu geschaffenen Posten eines Sekretärs des Petersburger legaten zu bekleiden.
Was waren das für enge Gäßchen in Paris gewesen - verglichen mit den breiten Prospekten der Heimat! Wie zwergenhaft die alten Hauptstädte, all ihrer Pracht zum Trotz. Und doch - wie unbeirrbar Peters Mut gewesen sein mußte, um mitten im Sumpf des Newadeltas den Wettstreit aufzunehmen! Doch halt, Monsieur, das klingt in Euren Ohren und aus Sicht der Gründer vielleicht kontrovers. Sagen wir also lieber - Petersburg nahm keinen Wettstreit auf, sondern reihte sich ein in den Perlenkranz der Hauptstädte des Orbis.

Als Peters Mütterchen, seine Gemahlin Katharina I., 1725 Zarin wurde, zählte die Stadt rund siebzigtausend Einwohner - und das waren Leute, die hier ein Auskommen hatten und freiwillig lebten - keineswegs abkommandierte Leibeigene. Eine erste Wasserleitung war in Betrieb. Unnötig, zu sagen, daß der Zar tot sein mußte, damit ich nach Petersburg zurück konnte, nicht wahr? Mein Vater tot, der Zar tot, Anna unauffindbar - das war meine Bestandsaufnahme, als ich heimkehrte. Wenige Monate später folgte ich dem neuen Zaren Peter II. nach Moskau. Er war der Enkel Peters, der Sohn des unglückseligen Alexej und jener Wolfenbütteler Prinzessin, die von ihrem Ehemann in den schwangeren Bauch getreten worden war. Ein zwölfjähriger Knabe.
Ich lernte Moskau kennen - und das Rußland zwischen beiden Städten. Ich knirschte mit den Zähnen vor Wut über das, was ich sah. Die schwärmerischen Beter, die sich im Winterelend bei einsetzender Hungersnot nicht einmal nachträglich schämten. Die Korruption der Bojaren, die sich Bärte wachsen ließen, wo immer sie dem Blick der neuen Petersburger Elite verborgen waren. Die Macht von Popen und Mönchen. Ich hatte die Opfer gezählt, die für Petersburg gebracht wurden - und war nun wütend ungeduldig mit Binnenrußlands Trott. Aber nie, Monsieur Molnay, niemals, nicht ein einziges Mal machte ich meiner Wut mit Schlägen Luft.

Was soll ich noch erzählen von jener Zeit? Menschikow stürzte und wurde nach Sibirien verbannt. Die erste Brückenverbindung zwischen dem Festland und der Wassili-Insel entstand, vorläufig noch auf Pontons - die Isaaks-Brücke.
Ab 1730 regierte Anna Iwanowna als Zarin. Der Ladoga-Kanal wurde vollendet. Polens Erbfolgekrieg kam und verging. Der Einfluß der Deutschen und Holländer wuchs ins Übermächtige und wurde im Rückschwung des geschichtlichen Pendels beschnitten. Muß ich Iwan VI. erwähnen? Die Zaren wechselten sehr rasch in jener Zeit. Schon ein Jahr später regierte Elisabeth und Rastrelli begann seine Bauten. Das war alles nichts Halbes und nichts Ganzes, wie ein Sprichwort sagt, das war - des Zaren Peter unwürdig. Auch die legaten, unter denen ich diente, taugten, mit Verlaub, nicht viel. Kein Wunder also, daß sich die Grau- und Braunröcke, derer sich Zar Peter und mein Vater bedient hatten, mit den Jahren um mich scharten und halfen, wenigstens in Rußland Ordnung zu schaffen, wenn schon im kaiserlichen Schlafgemach keine herrschte. Wir griffen oft hart durch, Jahrzehnt für Jahrzehnt, doch nie, keinmal, das möchte ich betonen Monsieur de Molnay, nahm ich die Knute und schlug Menschen. Niemals mit eigener Hand!
Petersburg wuchs um Münze und kaiserliche Porzellanmanufaktur im Jahre 1744, da meine Herrin, noch Sophie von Anhalt-Zerbst mit Namen, als Braut des Thronfolgers nach Rußland kam. Lomonossow kennt Ihr wohl nicht, Monsieur? Ein Professor für Chemie an der Petersburger Akademie der Wissenschaften, später ein Grammatiker, von dem die Welt noch hören wird. Rastrelli begann, den großen Palast von Zarskoje-Selo zu bauen. Rastrelli begann, das Smolnyi-Kloster zu bauen. Das Palais Stroganow. Das neue Winterpalais. Um 1750 gab es rund fünfundsiebzig Brücken in St. Petersburg - ich weiß, mit Venedig läßt sich das nicht messen, aber Ihr seid ja gebürtiger Pariser, Monsieur!
Und doch war und blieb alles Fassade. Rußland besteht aus riesigen Landmassen, die im tiefen Mittelalter verharren, Landmassen, wo es sich gut träumen läßt - nomadisch oder bäuerlich. Links oben nur, das winzige Fleckchen, ist St. Petersburg, die Hauptstadt, wo ein paar Tausend Einwohner westlich tun. Aber die Masse des Volks läßt sich durch noch so viele Knutenschläge nicht gen Westen treiben, in eine Welt, die Renaissance und Aufklärung durchlebt hat. Abgesehen davon ging nach Peter niemand mehr mit vergleichbarer Brutalität vor. Rußland blieb Orient, bis die zerbstische Prinzessin kam.
Katharina hatte, solange Zarin Elisabeth lebte, von der alten Hexe weit mehr auszustehen, als vom späteren Zaren Peter. Doch als Peter III. Zar wurde, mußte etwas geschehen. Und also waren es die Gründer, die der heute glücklich regierenden Zarin auf den Thron halfen und ihren debilen Gemahl aus dem Weg räumten - was andererseits natürlich Friedrich II. von Preußen rettete und Kaiserin Maria Theresia verdarb, aber ob daraus Heil für den Orbis erwächst, muß Venedig entscheiden.
Einstweilen war ich promoviert zum legaten für die allrussischen Angelegenheiten des Rates und hatte in dieser Funktion Zugriff auf das gesamte Petersburger Archiv. Ich hatte schon erwähnt, daß Anna mir fehlte? Ich fand sie schließlich in Smolensk, unter völlig unwürdigen Bedingungen. Doch was tat sie, als ich meine Hand erhob gegen die fette Äbtissin, der ein vermutlich ahnungsloser Szemere Anna anvertraut hatte? Sie fiel mir in den Arm, strich über eine kaum noch sichtbare Narbe, die frühe Prügel meines Vaters hinterlassen hatten und besänftigte mich für die nächsten zehn Jahre, solange unsere Ehe dauerte. Zehn Jahre, Monsieur de Molnay war ich sehr glücklich. Dann wachte ich eines Morgens auf, und Anna lag tot neben mir im Bett mit purpurnem Gesicht.
Apropos aufwachen - wahrscheinlich wundert Ihr Euch inzwischen, ob Euer legat Lew Kokoschin tatsächlich diesen ganzen Brief in einer Nacht geschrieben hat. Natürlich hat er nicht. Inzwischen ist heller Tag. Wie Ihr am Zustand meiner Handschrift merkt, halte ich mich mit Wodka wach, doch je mehr ich davon trinke, umso erdrückender lastet die Schuld, die ich mir gestern auflud.

Vor vier Jahren, im Jahr als die steinerne Kasan-Brücke fertig und der Basler Mathematicus Euler an unsere Petersburger Akademie der Wissenschaften berufen wurde, begann Falconet mit der Arbeit am Denkmal für Zar Peter. Für den Zaren Peter. Den großen Zaren Peter, als dessen einzig legitime Nachfolgerin ich Katharina gelten lasse.
Wie niemand sonst nach ihm versucht sie, Rußland mit der Welt zu verknüpfen und wenigstens einige Prinzipien der Aufklärung wie Knüppeldämme durch russischen Sumpf zu bauen. Und wie niemand sonst rackert sie sich an Rußlands Oberfläche ab, ohne das russische Übel je an der Wurzel zu packen. Ich selber bin der schlagende Beweis dafür. Und dabei wollten wir doch nur zu ihrem Krönungstag den Sockel für Peters Denkmal aufstellen in Peters Stadt.

Monsieur, Sie kennen Peter ja von Stichen oder Ölgemälden, im Brustpanzer mit Schärpe zwischen Draperien. Ein wüstes Antlitz, das jedes allegorische Brimborium darum herum frech Lügen straft. Hals und Wangen eines Säufers. Niedrige Stirn mit Teufelshöcker über dem linken Auge. Der Blick leicht wässrig, solange man allein die obere Gesichtspartie betrachtet - doch schon im Wechselspiel mit seiner langen, dicken, aufspringenden Nase wachsam, ja scharf. Vernachlässigen wir den Schnauzbart, nehmen einstweilen nur den Mund hinzu, die vollen, sinnlichen Lippen, zum wissenden Lächeln gekräuselt - und schon erkennen wir den Zyniker. Nehmen wir nun auch noch das Kinn, wuchtig gespalten - sodann ergibt sich zwingend der Gesamteindruck des zynisch sinnlichen Machtmenschen. Ziehen wir ihm endlich den Brustpanzer aus, kleiden ihn in grobes, gedecktes Tuch, geben ihm die Peitsche in die Faust - so war Zar Peter. Die Maler und die Kupferstecher bilden ihn wahrhaftig ab.
Ganz anders Falconet! So sehr ich ihn auch schätze - der Bildhauer ist unübersehbar Moralist. Und wie ein Moralist Peter erfassen will, der in sich alle üblen Gewohnheiten des Henkers und Wüstlings verband mit dem Genius des Prometheus - bleibt ein Rätsel. Doch Falconet hat die Aufgabe bewältigt, soviel steht fest. Ich habe das Modell für Peters Denkmal nicht stunden-, nein tagelang betrachtet, aus jedem Blickwinkel, und muß sagen - es stimmt.
Es stimmt, obwohl es idealisiert. Falconet modelliert ein von Wülsten befreites Caesarenantlitz. Der ausgestreckte Arm zeigt den Zaren als Gesetzgeber - mit ungemein schlanker, beinahe femininer Hand, obwohl sie für eine Frauenhand wiederum fast zu groß ist, diese ausgestreckte Rechte des Mannes auf dem sich bäumenden Roß. Hält er allein mit seiner linken Faust die Zügel? Tatsächlich! Wie lange noch? Die Statik des Denkmals ist ungemein prekär: Lediglich zwei Hufe des Zarenpferds stehen am Boden. Den Rest des Halts verschafft ihm sein eherner Schweif, indem er die Schlange berührt, die das Roß zugleich mit seiner rechten Hinterhand zermalmt. Das wird beim Guß Probleme machen - die endlos sich schlängelnde Natter, fast doppelt so lang wie das Roß! Doch Falconets technische Schwierigkeiten in der Zukunft berühren mich heute nicht mehr, wurde ich gestern doch von meinen ganz eigenen Schwierigkeiten eingeholt.

Wenn staunende Höflinge das Atelier besichtigen, hören sie jedesmal von Falconet, die Schlange symbolisiere den Neid auf das emporstrebende Rußland - was natürlich Unfug ist. Er und ich und Katharina wissen, daß diese Schlange, die zertreten wird vom Pferd des Zaren, Rußland selber darstellt - das alte Rußland, dem der Zar die Bärte stutzte. Das kann man aber Höflingen natürlich nicht verraten. Sie würden nicht verstehen, so aufgeklärt sie in St. Petersburg auch tun. Ihr Verständnis von Rußland erschöpft sich zumeist in einer großen Begabung fürs Kartenspiel, wobei sie - in Ermangelung von Rubeln - durchaus bereit sind, ein Dorf oder ein halbes Gouvernement an den Tischnachbarn zu verspielen. Gelesen wird hier wenig. Geschrieben weniger. Getrunken mehr, als dem gesunden Menschenverstand guttut. Man gafft erstaunt Franzosen an, rätselt, woher ihre Kultur stammt. Bei Hofe kenne ich hauptsächlich Menschen, deren Väter noch den Kaftan trugen. Heute bejubeln sie den Sieg der Kaiserin über die Türken. Bojarensöhne und -töchter. Leute, die Katharinas Große Instruktion nicht einmal buchstabieren können. Die sehen in Falconets Schlange den Neid - und nicht sich selber. Wie auch, da nun einmal Väter und Großväter in den russischen Weiten hocken, mit verbotenen Bärten und so leben, als hätte Peter niemals Petersburg gebaut.
Trotzdem nimmt dergleichen Gesindel bevorzugte Plätze ein, wenn Falconet demnächst das Denkmal enthüllt. Tausend Männer des Preobraschensker Regiments werden antreten in weitem Rund und Salut schießen, während die hölzernen Sichtblenden langsam nach außen kippen und den Blick freigeben auf das Monument und seinen gewaltigen Felssockel, mit der ebenso schlichten wie mehrdeutigen Inschrift "Katharina die Zweite Peter dem Ersten".
Aber soweit sind wir noch nicht. Zuerst müssen nach dem Modell die Gußformen gebaut, muß der Sockel behauen werden. Da gehen noch Jahre ins Land bis zur Denkmalsenthüllung, die ich nun nicht mehr erleben darf und um die es mir fast arg wird, zu gehen.

Der Block, Monsieur, der Fels, war mein Beitrag. Ihn entdeckte ich auf meiner letzten Inspektionsreise durch Karelien, bei Lachta, kaum vier Werst von der Küste. In diesem Augenblick, Monsieur Molnay, als ich diese sechzehnhundert Tonnen Granit sah und begriff, wozu sie taugten - verstehen Sie, so ähnlich hat mein Vater gefühlt, als er gemeinsam mit Zar Peter den Platz für die Admiralität bestimmte, zu einem Zeitpunkt, als es St. Petersburg noch gar nicht gab. Es kam mir sinnvoll vor, Peters Denkmal auf den Granitblock zu setzen. Hatte er nicht die steinerne Stadt in den Sumpf gesetzt? Die Ironie gefiel mir. Und außerdem, jenseits der Ironie, in einem tiefen Herzenswinkel verklären sich die Dinge unserer Jugend. Der Wahnsinn und der Massenmord, die Schinderei, die geschälten Nasen und sogar die Prügel lösen sich auf in freundlichem Nebel - und übrig bleibt die herrliche Stadt über den Wassern. So kommt man dann auf die Idee, ein Denkmal wäre angebracht.
Nun fragen Sie, wie sechzehnhundert Tonnen Stein vom Norden der Kronstädter Bucht zur Stadtmitte St. Petersburgs gelangten. Nicht vollends auf dem Landweg - aber auch nicht ganz zur See, denn die vier Werst zum Strand und das kurze Stück von der Newa ans Ufer wollten ja durchaus bewältigt sein. Doch nicht, wie Sie nun denken, Monsieur! Diesmal ohne Tausendschaften ausgemergelter Leibeigener, ohne ausgerissenen Nasenflügel und Peitschengeknall. Beginn und Ende der Schichten wurden von einem Trommler angezeigt, der oben auf dem Ungetüm stand. Der Felsblock lag auf einem gewaltigen Schlitten, dessen Kufen auf weichen Kupferkugeln über Hohlschienen rollten. Drei Dutzend Steinmetze arbeiteten schon beim Transport an dem Block. Weil der ungeheure Druck die Kupferkugeln verformte, gossen wir ständig neue, weshalb wir auf dem flachen Teil des Blocks einen bescheidenen Hochofen gemauert hatten. Die Schienen - mächtige, eisenbeschlagene Balken - wurden hinter dem Block abgebaut, von acht oder zehn Arbeitern nach vorn gezogen und dort wieder montiert, bevor man den Block ein Stück weiterzog.
Das Ziehen - meint Ihr? Oh nein - den Flaschenzug kennt man sogar in Rußland. Beiderseits des Blocks drei Birkenstämme schräg in den Boden, an denen je ein Flaschenzug verankert ist. Die Seile führen zurück zu zwei transportablen Winden. Die beiden Winden wiederum sind ebenfalls mit Birkenstämmchen fest verankert. So kommt man Stück für Stück vorwärts - mit kaum zweihundert Mann, von denen gute hundert ausgesuchte Handwerker sind, kaum die Spur von Leibeingeschaft.
Den Schlitten zogen wir aufs Floß. Das Floß zwischen Fregatten. Vor die Fregatten setzten wir Ruderboote, um den Transport zu vollenden, an einem Tag fast ohne Dünung. Das Stück vom Floß ans Petersburger Land schien uns ein Kinderspiel.
Für dieses Meisterwerk wird die Geschichte einen griechischen Offizier der Polizei St. Petersburgs rühmen. Mag sie das so halten, die Geschichte, denn er hat das Konzept in meinem Haus entwickelt, an meinem Tisch, auf dem Stuhl, auf dem mir meine Anna gegenüber saß, bevor sie starb. Also darf ich doch wohl gewissen Anteil nehmen!
Sehen Sie, Monsieur Molnay, so begann mein Verhängnis - ich nahm Anteil.

Natürlich hatten während der kurzen Seefahrt keine Steinmetze mehr am Block gemeißelt. Und da die Kupferkugeln nicht mehr zerquetscht wurden, war das Feuer im Hochofen erloschen. Kugeln fürs Ausschiffen waren ja längst gegossen. Warum also zwischen den Schiffen Feuer machen, den Hochofen anheizen, während der Block noch nicht einmal an Land gerollt war? So ein teuflischer Leichtsinn! Warum? Ich weiß es nicht. Sagt Ihr es mir, wenn Ihr es wißt!

Einer der wenigen mitwirkenden Leibeigenen muß das anders gesehen haben. Wie sich in der Nacht herausstellte, hieß er Pjotr. Jedenfalls hielt Pjotr es für angebracht, in unserem kleinen Hochofen auf dem Granitblock ein Freudenfeuerchen zu stochen, während der Block an Land rollte. Pjotr entfernte die Abdeckung des Ofens, so daß binnen kurzem eine übermannshohe Lohe herausschlug. Von Land war der Ofen selber kaum zu sehen. Zumindest für Leute, die dichtbei standen, lag er im toten Winkel. Die Flamme allerdings fauchte hoch genug, um beim Volk abergläubisches Staunen zu wecken. Fels brennt doch nicht! Das ist ja Zauberei! Kein Pope hier - nun wissen wir, warum! Hier wird ja widernatürliches ausländisches Unwesen getrieben! Das waren noch die freundlicheren Kommentare.

Trotzdem setzte ich meinen Fuß erst auf die Leiter, als Pjotr anfing, zerquetschte Kupferkugeln, die oben noch in Kisten lagerten, auf die Menge zu schleudern. Nun spuckte der Stein nicht nur Feuer. Nun schoß er auf unschuldige Russen. Das war keine gute Voraussetzung mehr für ein Denkmal. War das erst gestern?

Ich erwischte Pjotr gerade noch, bevor er die nächste Kupferkugel schleuderte und womöglich jemand umbrachte. Hätte er mich angegriffen oder auch nur bedroht, hätte ich ihn in Notwehr über den Rand des Blocks gestoßen, und er hätte sich den Hals gebrochen - glaubt mir, Monsieur, ich säße jetzt mit Freunden beim Champagner statt über diesem Brief. Doch nein - Pjotr ließ die Kugel fallen, warf sich zu Boden und grub die Stirn in meinen Stiefel. Dort versetzte ich ihm einen Hieb. In Rußland gilt man nichts, wenn man nicht Degen oder Knute trägt - und Degen im Zivilleben erscheint mir lächerlich. Ich haßte ihn in diesem Augenblick, den armen Teufel. Er machte sinnlos Schwierigkeiten. Stur war er. Dumm. Er stank nach Wodka, schlimmer als ich jetzt im Augenblick, da ich mein Rücktrittsgesuch schreibe. Es blieb nicht bei dem ersten Hieb.

Er schrie vor Schmerz - und ich fand den Laut durchaus angemessen. Den Laut wollte ich wieder hören. Also schlug ich wieder. Zu meinen Füßen winselte er, wand sich - es war schwierig, ihn genau zu treffen. So traf ich manchmal ungenau - am Kopf, am Hals, am Rückgrat, auf die Nieren. Nach weniger als fünf Minuten war er tot und ich verstand, was ich getan hatte. Der Rausch des Prügelns war vorbei. Ein Menschenleben lang hatte ich Rußland geboten, ohne zu prügeln. Und nun, aus nichtigstem Anlaß - dies! Die Menge unten hatte kaum etwas bemerkt. Der Leichnam würde zweifellos entsorgt. Ich kletterte hinab, stieß mir den Weg durch jubelndes Volk und begab mich zu meinem Briefpapier.

Versteht Ihr das, Monsieur? Was war das, was ließ mich mit meinen eigenen Prinzipien brechen? Ich kann mich offenbar auf mich selber genau so wenig verlassen wie auf Rußland. Wie soll ich da noch befehlen? Was bleibt mir da, als Abschied zu nehmen vom Amt des Petersburger legaten?

Ich trinke aus, Monsieur Molnay, mein princeps und mein Herr - auf Ihr Glück! Möge Agrippa einen Mund haben! Ich werde diesen Brief unterschreiben, falten, siegeln. Und dann, Monsieur, werde ich tun, was mir zu tun noch bleibt. Lebt wohl! Ihr sehr ergebener Lew Kokoschin.