creatores : DAS ARCHIV DER GRÜNDER : agrippas mund |
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Akte Hunnenschlacht - 2
Aus den Res gestae contra Attilam:
Bis auf einen Steinwurf schlich das Gefolge unter die Mauern Aquilejas, bis der Hunnenkönig, geduckt hinter den Schilfsaum der Natissa, entnervt nach Fliegen, Mücken und Libellen schlug. Die Niederlage auf den Katalaunischen Feldern war ihm kaum noch anzumerken. Nur wer ihn, wie sein Hofnarr Zerkon, sehr gut kannte, sah das lidschlagkurze Zögern vor mancher Bewegung. Im Sattel fiel es nicht auf, doch wenn Attila zufuß ging, sah man das fast unmerkliche Innehalten von Schritt zu Schritt, so als müsse der König sich jedesmal zu einem neuen Entschluß durchringen.
Seit drei Monaten belagerten die Hunnen Aquileja. Das Mauerwerk der Stadt war schwer beschädigt, doch nirgends schwer genug, um den Generalsturm zu wagen. Inzwischen kratzte dieser neue Mißerfolg an Attilas Autorität. Zwar hielt seine unberechenbare Grausamkeit das Heer noch in Zucht, doch Attila hatte auf den Katalaunischen Feldern nicht nur die Aura der Unfehlbarkeit eingebüßt, sondern auch sein Gespür für die Stimmung im Heer. Während die Hunnen darauf brannten, Aquileja zu stürmen, um Rache zu üben für die letztjährige Schmach - fürchtete Attila das Gegenteil. Und nun raubte ihm der Anblick nichts weniger als sturmreifer Mauern den letzten Schneid. Abrupt sich aus der Deckung des Schilfs erhebend, befahl der König: „Brecht die Belagerung ab! Wir plündern Norditalien und kehren vor dem Herbst noch um!“
Im selben Augenblick, der Satz des Königs hing in der Luft, schwang sich ein weißes Storchenpaar über die Zinnen - beide Vögel mit einem Küken im Schnabel. Zerkon spürte sofort - das war nicht gut. Ihn schauderte, ohne daß er die Gefahr beim Namen nennen konnte. Um Attilas Aufmerksamkeit zu ködern, ließ Zerkon sich auf den Hintern plumpsen und jammerte drauflos, eine Libelle habe ihn umgeschmissen. Kein Brüller, aber mehr fiel ihm in der Panik nicht ein. Der König ignorierte ihn. Kurz sah es so aus, als ignoriere der König auch die Störche, zumindest bis ein Häuptling vom Gefolge mit dramatischer Gebärde in den Himmel wies. Gleichgültig schaute Attila den Vögeln nach, wie sie gen Norden zogen. Aber der Häuptling ließ nicht locker: „Erhabener König“, schmeichelte er, „der Storch nistet und zieht seine Brut auf Hausdächern groß. Was nun, wenn er die Dächer Aquilejas flieht - direkt vor unseren Augen? Was lehrt uns das?“
„Ein Omen?“ fragte Attila müde.
Der Häuptling nickte: „Wenn sogar zutrauliche Störche die Stadt fliehen, dann ist Aquileja dem Untergang geweiht. Wir brauchen nur Geduld. Das Heer lechzt nach dem Sieg. Laß uns diese Belagerung vollenden, erhabener König, ich bitte dich!“
Und also wurde Aquileja fertig belagert.
Die reiche Handelsstadt, zugleich nördlichster Hafen der Adria und Beherrscherin der Via Postumia, war gut befestigt. Im Osten wurde sie vom Fluß Natissa geschützt - im Süden von der Lagune. Die besten Truppen des weströmischen Reichs verteidigten ihre Mauern, inklusive eines Großteils der bewaffneten Gründer, die mit princeps Childericus und seinem Stellvertreter Dracontius hier eingeschlossen waren. Außerdem hofften die Belagerten auf den Entsatz durch Aetius, wie letztes Jahr in Orleans.
In diesem Jahr jedoch fehlte es Aetius an Hilfstruppen. Um Gallien vor den Hunnen zu schützen, hatten Franken, Alanen und vor allem Westgoten sich zuguterletzt um Roms Legionsadler geschart - für Gallien. Nun ging es um Italien - da fühlten sich die Westgoten in ihrem Klientelreich von Toulouse nicht zuständig. Also verfügte Patricius Aetius über kaum mehr als die Hälfte der weströmischen Kerntruppen - wohingegen Attila immer noch über ostgotische und gepidische Verbündete gebot, abgesehen von der gewaltigen Zahl der Hunnen selber. Das Kräfteverhältnis war deprimierend. Und aus Konstantinopel kamen außer Lippenbekenntnissen nur halbherzige Störmanöver gegen die hunnischen Weidegründe.
Totila, seit 451 legat bei Aetius, verließ den Kriegsschauplatz und eilte nach Süden, um dort Hilfsquellen zu erschließen. Seine Verbindung zu Zerkon war seit dem Treffen auf den Katalaunischen Feldern nicht mehr abgerissen. Die beiden COT-legaten, beide auf Attila angesetzt, fühlten sich längst nicht mehr nur durch politische Absicht verbunden, sondern waren echte Freunde. Das mochte daher kommen, daß der Hunnenkönig die halbe Sippe Totilas ermordet hatte und Zerkons junge germanische Frau. Oder daher, daß Zerkon den hünenhaften Körper, den Todesmut und die militärische Begabung seines Freunds bewunderte, in genau dieser Reihenfolge, während Totila demütig sein Haupt neigte vor der universalen Bildung des schwarzen Zwergs, der ihm gerade bis zum Bauchnabel reichte. Jeder hatte des anderen Hals gerettet. Jeder hatte den anderen entwürdigt gesehen - und mit zartfühlendem Respekt behandelt. Totila hielt sich für grundehrlich. Zerkon lieferte als Hofnarr täglich neue Proben der Verschlagenheit. Keiner machte sich Illusionen über den Freund. Sie vertrauten einander blind.
Zerkon, früher wie ein Haustier im Käfig gehalten, spielte neuerdings eine tragende Rolle bei Hof. Er erfreute sich solcher Beliebtheit, daß sie an Respekt grenzte. Wenn Zerkon fehlte - kam kein Spaß auf. Attila hatte keine Freude an seinen Gästen, starrte mißmutig in den Holzbecher und befahl am nächsten Morgen die Hinrichtung irgendeines Ostgotenhäuptlings. Seine Feste hatten sich nach der Niederlage auf den Katalaunischen Feldern vollends zum öden Saufgelage entwickelt. Frauen waren ausgeschlossen. Auch die Ringkämpfe, die zu jedem Hunnenfest gehörten, trugen nicht mehr zur guten Laune bei. Ihnen war die spielerische Note abhanden gekommen. Lebensgefährlich waren sie. Jeder Tag wurde bei Attila auf Messers Schneide gelebt - wenn nicht der Hofnarr für entwaffnendes Gelächter sorgte.
Zerkons Körper war Gegenstand derben Spotts und er hatte gelernt, komisch zu posieren. Doch die meisten Lacher brachte seine Kenntnis aller bei Hofe gesprochenen Sprachen. Aus ihnen stückelte er das Kauderwelsch, das die Herren der Tausend- und Zehntausendschaften nach Luft japsend vom Polster kippen ließ, wenn er den neusten Klatsch deklamierte. Sie überhäuften ihn mit Geschenken. Er konnte sich frei bewegen. Er konnte sogar Briefe schreiben. Nur bei Attila löste er nach wie vor gelindes Unbehagen aus.
Aus Epistulae variae:
Zerkon an Totila! Glück und Gesundheit vorab!
Der Hunnenkönig ist leider bei Kräften, allerdings auch abergläubischer denn je. Ein Storchenpaar, das ausflog aus der Stadt, hat Attila bewogen, die Belagerung fortzusetzen. Seither bauen seine Sklaven Leitern für den Sturm. Wie vor Orleans nimmt er Zuflucht zu den primitivsten Mitteln. Ich denke, Totila, wirst in Rom viel mit dem Oberpriester konfererieren. Erkläre dem Papst Leo, daß Attila inzwischen zu einer Marionette geworden ist, zu einer Strohpuppe, die auf jedem Stock tanzt, wenn nur der Aberglaube ihn führt. Der Tod schreckt diesen König nicht. Wohl aber die Gespenster. Da ihr nach meiner Einschätzung in Rom nichts habt, das wirkungsvoller wäre - rückt Attila mit Mummenschanz zu Leibe!
Aus den Res gestae contra Attilam:
Nach dem Storchenflug verging kein Tag - und Attilas frischer Mut zeigte Wirkung. Bisher hatte er die Mauern durch Katapulte beschießen lassen, mit mäßigem Erfolg. Für Belagerungstürme war das teils sandige teils sumpfige Gelände ungeeignet - sie stürzten um. Andere Maschinen, etwa die schweren Rammen, die für Tore so gefährlich waren, sanken unter ihrem Eigengewicht mit Rädern und Rollen in den Grund. Also lief alles wieder auf Sturmleitern hinaus, hunderte Sturmleitern, um die Verteidiger im Massenangriff zu überwältigen. Vielleicht von Anfang an die sinnvollste Taktik, da hunnische Menschenverluste keine Rolle spielte. Doch anfangs hatte Attila Freund und Feind mit raffinierter Belagerungstechnik beeindrucken wollen. Das war nun vorbei. Nun wollte er nur noch siegen.
Bei Sonnenaufgang bliesen die Hörner zum Sturm und gestaffelte hunnischen Reiterwellen sprengten auf Bogenschußweite unter die Mauern. Durch pausenlosen Pfeilhagel zwangen sie die Verteidiger in Deckung, bis Fußtrupps Sturmleitern angelehnt und erste Hunnenkrieger die Zinnen erklommen hatten. Die Verteidiger kämpften ebenso heldenhaft wie vergeblich. Princeps Childericus fiel bei der Verteidigung des Concordiators. Dracontius von Utica, ein Meister im beidhändigen Schwertkampf, entkam, schrittweise zurückweichend, von den Mauern ins Stadtzentrum. Dann hatten sich die ersten Hunnen drinnen zu den Toren vorgekämpft, stießen sie auf - und die Barbaren überfluteten die Stadt. In ihrer Wut über die lange Belagerung, in Mordgier, Habgier, Geilheit waren die Hunnen wild entschlossen, an Aquileja und seinen Bürgern ein grausiges Exempel zu statuieren.
Zerkon war bald am Hafentor. Noch huschten vereinzelt Soldaten und Bürger durch die Straßen. Noch hatte nicht jeder sein hoffnungsloses Versteck gefunden. Bei den Kais stieß Zerkon auf zwei ältliche COT-magister, die sich erst jetzt, mitsamt ihren Familien und Habseligkeiten in einem flachen Ruderboot davonmachten. Der Leichtsinn verschlug ihm den Atem.
„Versteckt euch lieber!“ riet er, nachdem er ihnen das Siegel gezeigt hatte. „Ihr schafft es nicht mehr rasch und weit genug vom Ufer fort. Sie bringen euch mit Pfeilen zur Strecke. Lebt Childericus noch? Nein. Dracontius? Wo finde ich das Hauptquartier? Ich war niemals zuvor in dieser Stadt.“
Sie ignorierten seinen Rat, wiesen ihm aber zumindest den Weg. Sogar für das ziemlich kleine Pony, das er ritt, hatte Zerkon zu kurze Beine. Reiten war ihm Schwerstarbeit. Doch immerhin kam der Zwerg auf dem Pony schneller voran, als zufuß. Der Cardo Aquilejas verlief vom Hafen zum Nordtor, während der Decumanus Maximus dem innerstädtischen Verlauf der Via Postumia folgte. Angewidert trabte Zerkon durch das Grauen rechts und links am Straßenrand. Heute überwog die Zerstörungswut der Hunnen ihre Habgier. Vor offensichtlich reichen Häusern wurden die Besitzer ermordet, ohne daß man auch nur versuchsweise nach vergrabenem Bargeld und Silbergeschirr gefragt hätte. Mitten auf der Straße knieten vier Hunnen auf Armen und Beinen eines höchstens zehnjährigen Mädchens, während ein fünfter sie vergewaltigte - mit einem geschlängelten Kris, der bis zum Heft in dem schreienden Kind steckte. Zerkon zügelte sein Pony. Saß ab. Die Hunnenkrieger musterten ihn, hin und her gerissen zwischen Spott auf den schwarzen Zwerg und Ehrfurcht vor seiner Tracht. Zuguterletzt warfen sie sich aufs Straßenpflaster, weil er die Hoftracht trug, den Pelz und die Seide jener Männer, die unmittelbar Zutritt zum König hatten. Zerkon bückte sich. Die grausame Waffe hatte von innen die Bauchdecke durchstoßen. Saurer Magensaft versickerte im Staub. Begütigend strich Zerkon dem Mädchen den Schweiß aus der Stirn. Dann schnitt er ihr die Kehle durch.
Im Archiv der Gründer, wohin sich Zerkon mit Gebrüll und Peitschenhieben seinen Weg durch versprengte Wolfsmänner bahnte, herrschte ein unbeschreiblicher Tumult. Der junge Mann, der dort - umzingelt von vierzig oder fünfzig Hunnen - seine Gegner einen nach dem anderen niederstreckte, hatte inzwischen beide Schwerter verloren. Statt dessen jonglierte er mit Wurfmessern, fing sie aus der Luft, und stieß sie dem nächsten Angreifer ins Herz. Ein Dutzend Hunnen hatte er so erledigt. Doch nun hatten die Wolfsmänner der Leibwache genug vom Kampf Mann gegen Mann. Die Bogenschützen legten an.
„Dracontius?“ überschrie Zerkon das Getümmel.
Der Stellvertreter nickte zwischen zwei Dolchstößen. Zwei weitere Hunnen stürzten, und Zerkon konnte gerade noch zwischen die Schützen und den Stellvertreter springen, bevor die Bögen sangen.
„Tastet den Hofnarren nicht an!“ schrie Zerkon, hinter dem Dracontius kniend Deckung suchte. „Ich beanspruche diesen Sklaven für mich!“ Fluchend nahmen die Hunnen ihre Pfeile von den Sehnen. Doch da die Leibwache nun einmal die Leibwache war, hatten etliche Wolfsmänner erlebt, daß Attila den schwarzen Zwerg nicht wirklich mochte. Diese Männer zogen nun Schwerter und drangen auf Zerkon und seinen Schützling ein. „Ihr verpaßt die Plünderung der reichsten Häuser“, schrie Zerkon. „Euch kommt noch irgendein Gepide oder Ostgote zuvor! Was wollt ihr eigentlich von diesem Mann?“
Der Hundertschaftsführer gebot Einhalt. Umständlich befestigte er seinen im Kampf verrutschten Wolfsschädel auf dem Helm und fragte: „Und du, Hofnarr? Was willst du von ihm? Wir wollen sein Blut. Doch laß uns Attilas Urteil anrufen!“
Flucht war undenkbar, also kam Zerkon mit dem Haufen erboster Wolfsmänner.
Kaum die Hälfte der Hunnen am Forum plünderte Tavernen und Geschäfte. Manche schlangen Seidenbahnen um Kaiserbilder und zerrten, bis die Statuen umstürzten und barsten, woran die Hunnen ihre helle Freude hatten, obwohl nun auch die kostbare Seide hin war. Mit Feuer waren die Barbaren vorsichtig - das machte ihre Pferde scheu. Trotzdem sah Zerkon brennende Dachstühle. Verstohlen flüsterte er Dracontius zu:
„Wenn die nicht aufpassen, verbrennen sie ihre Beute.“
Den stärksten Eindruck machte ein Trupp Hunnen, dem es irgendwie gelungen war, doch noch eine schwere Ramme in die Stadt zu schaffen. Auf dem Straßenpflaster rollte die Maschine ganz passabel. Die Hunnen hatten mit ihr das westliche Aquädukt eingerissen. Nun rauschte im hohen Bogen eisiges Bergwasser aus der klaffenden Leitung und verwandelte ganze Straßenzüge in eine Pferdetränke.
Unter den Hunnen dort hieß es, Attila habe sein Quartier in den öffentlichen Thermen aufgeschlagen. Das leuchtete Zerkon ein, denn der König badete gern - eine der wenigen zivilisierten Angewohnheiten, die er aus seiner Geiselhaft in Ravenna mitgebracht hatte. Bei den Thermen jedoch war Attilas Königsbanner nirgends zu finden. Sie betraten die Gebäude von der Rückseite, durch einen Sklaveneingang, wo das Gedränge weniger dicht war. Hinter den Öfen, im unerträglich heißen Laconicum, war der Boden bedeckt von zwei Lagen verschnürter Patrizier, die irgendwer hier gestapelt hatte. Ein Hornbläser ahmte die Tonlage der Schreie nach, wenn in kurzen Abständen Heizersklaven Eimer mit kochendem Wasser über die Gefesselten kippten.
Nebenan im Caldarium trieb Rugila, einer der vielen Schwiegerväter Attilas, sein auskeilendes Pferd über den glitschigen Marmor immer um das Becken herum, in dem ein abgehackter Arm, ein Kopf und Pferdeäpfel schwammen.
„Zerkon, du schwarzer Wurm“, brüllte er fröhlich. „Die Schweine nebenan wollen ihren vergrabenen Schatz nicht preisgeben! Kannst du nicht machen, daß sie ihn vor lauter Lachen ausspucken?“
„Das, oh Herr, übersteigt meine bescheidene Kraft“, erwiderte Zerkon mit feinem Lächeln. „Ich suche den König. Wißt Ihr, wo er steckt?“
Angeblich hielt Attila im Palast des Cnaeus Melessaeus Aper Hof. Zerkon hatte keine Ahnung, wo das war. Dracontius kannte zwar den Weg, aber die Wolfsmänner mißtrauten ihm. Sie argwöhnten, er wolle sie in eine Falle locken. Also erfragten sie mühsam ihren Weg durch die sterbende Stadt.
Am Hafen vergnügten sich die Hunnen bei der Jagd auf Flüchtlingsboote. Sie töteten die Ruderer nicht gleich mit dem ersten Pfeilhagel, sondern ließen sie ein Weilchen pullen, bevor sie sie dann mit Pfeilschüssen vor den Bug wieder in die Gegenrichtung trieben. Sein natürliches Ende fand das Auf und Ab, sobald die Ruderer ihre letzte Kraft verausgabt hatten und nicht mehr vom Fleck kamen. Dann starben sie, relativ schnell und ohne weitere Qualen. Die Leibwächter schütteten sich vor Lachen, während Dracontius und Zerkon den Atem anhielten, denn beide hatten das Boot mit den leichtsinnigen magistern bemerkt, das nun unübersehbar langsamer wurde.
„Ich hab sie noch gewarnt“, flüsterte Zerkon.
„Ja glaubst du denn, ich nicht?“ zischte Dracontius zurück.
Dracontius von Utica war fünfundzwanzig Jahre und stammte aus dem verlandeten Hafen bei Karthago, dessen Namen er trug. Sein Vater war legat der Gründer gewesen, und da der Knabe sich bereits in zartem Alter gewitzt anstellte, nahm ihn ein alexandrinischer magister in die Lehre. In Konstantinopel vervollständigten sie seine Ausbildung. Mit siebzehn erledigte Dracontius bravourös den ersten eigenen Auftrag am Hof des Bischofs von Rom. Mit neunzehn kam er nach Köln, an Agrippas Archiv. Er persönlich schaffte etliche Hunnenfürsten aus dem Weg, die Attila besonders nahe standen. Im Jahr 449 leitete Dracontius die Vermittlungskommission, die den Kompetenzstreit zwischen dem byzantinischen und dem ravennatischen Zweig des Rates gütlich beilegte. 450 wurde er persönlicher Sekretär von princeps Zosimus. 451, nachdem Dracontius maßgeblich am Zustandekommen der römisch-westgotischen Allianz mitgewirkt hatte, ernannte ihn der neue princeps Childericus zu seinem Stellvertreter - nicht ganz nach dem Buchstaben der Verfassung, doch es hatte sich kein anderer Kandidat gemeldet.
Nun trug der vielversprechende Stellvertreter des toten princeps um den Hals einen Strick, dessen loses Ende Zerkon hielt. Sie hatten wieder nach dem Weg gefragt und waren endlich auf jener Straße, die Dracontius von Anfang an empfohlen hatte. Nicht, daß sie offenkundig bewacht wurden - das traute sich die Leibgarde denn doch nicht gegenüber Zerkon. Aber wie zufällig waren Zerkon und Dracontius in eine mittlere Position geraten, zwischen Vor- und Nachhut, Zerkon auf seinem Pony, Dracontius zufuß - was den Vorteil hatte, daß sie auf Augenhöhe miteinander flüsterten.
„Beim Orkus!“ fluchte Zerkon, dem plötzlich aufging, daß sie im Begriff standen, eine Riesendummheit zu machen. „Kannst du die Finger rühren?“
„Ein bißchen“, flüsterte Dracontius. „Aber sie sind taub.“
„Dein Siegelring, Attila darf ihn nicht sehen! Streif ihn ab und laß ihn fallen.“
„Besser, du nimmst ihn“, flüsterte Dracontius.
„Wenn ich ihn nehme, schaut dabei die Nachhut zu.“
„Wenn ich ihn fallen lasse etwa nicht?“ fragte Dracontius. „Na schön ... ein Glück, daß nach den Hungerwochen meine Finger klapperdürr sind!“ Auf Länge eines Häuserblocks herrschte Schweigen, dann seufzte Dracontius: „Geschafft!“
„Ist dir eigentlich klar, was bei Attila auf dich zukommt?“ fragte Zerkon.
„Ich spiele überall mit, vorausgesetzt, du hast einen Plan.“
„Einen Scheißplan“, flüsterte Zerkon. „Aber wer konnte denn auch sowas ahnen?“
Cnaeus Melessaeus Aper hatte trotzig abgelehnt, vor der Belagerung zu fliehen. Nun lag sein Leichnam mit ausgekugelten Gelenken vor seinem Haus unter Attilas Banner. Diensttuende Hundertschaften der Leibwache standen Schulter an Schulter Posten und drängten sich auch im Inneren des Hauses. Sie begrüßten, fand Zerkon, ihre Kameraden nicht gerade überschwänglich, waren erbost, weil sie keine Gelegenheit zum Plündern hatten. Schmähreden flogen. Besser konnte es aus Zerkons Sicht nicht laufen. Ungehindert betrat der Hofnarr - Dracontius am Strick und den argwöhnischen Hauptmann im Schlepptau - die Exedra. Gemeinsam durchquerten sie Tablinum und Atrium. Erst am Durchgang zum Peristyl wurden sie aufgehalten.
„Der König darf nicht gestört werden“, flüsterte der Zehntausendschaftsführer, der hier das Kommando hatte. Tut mir leid, Hofnarr!“
Zerkon erinnerte sich an das Gelage, wo er dem Mann eine Ohrfeige versetzt und das Leben gerettet hatte. Attila wollte ihn erschlagen - für einen mißglückten Trinkspruch. Als Zerkon aber wie ein junger Hund an dem General hoch hopste, um ihm die Backpfeife zu verpassen, hatte der König jede ernstere Strafe erlassen. Die Hunnen, dachte Zerkon, haben den Ehrbegriff von Ratten und das Gedächtnis von Hühnern. Derselbe General, dem er vor Dutzenden hochrangiger Zeugen ins Gesicht geschlagen hatte, erwies ihm hier Respekt und Dankbarkeit. Und Attila vertraute diesem General, den er mit dem Tode bedroht hatte, bevor er sich an seiner Demütigung labte - vertraute ihm das Kommando an über den innersten Kreis der Leibwächter. In einer Pause zwischen zwei Kurieren warf Zerkon sich zu Boden, und quiekte: „Erhabener König, Herr und Gebieter!“
„Ich will dich jetzt nicht sehen“, rief Attila und ließ sich die nächste Depesche vorlesen.
„Erhabener König, mein Herr“, wiederholte Zerkon dreist. Auf dem Bauch kroch er näher und zerrte Dracontius hinter sich her. „Hier bringe ich aber doch die wunderbarste Attraktion für deine große Siegesfeier! Das Gelächter wird die Zeltbahn davonwehen! Davon sprechen Eure Gäste noch in hundert Jahren.“
„Was - Attraktion?“ knurrte Attila. „Etwa deine Kriegsbeute dort? Ich finde diesen Sklaven überhaupt nicht lustig. Das Schwein wagt, im Angesicht des Königs der Hunnen - aufrecht zu stehen!“
Beflissen sprang der wachhabende General vor und trat Dracontius die Beine weg, so daß er unsanft auf den Mosaikfußboden klatschte.
„Verzeiht, mein König“, flehte Zerkon. „Er ist doch nur ein dummer Römer! Dafür aber der beste Jongleur, den ich je gesehen habe. Ein Künstler mit fliegenden Dolchen! Mindestens zwölf Wolfsmänner hat er getötet.“
„So!“ sagte Attila trocken, „dann möchte er jetzt also mit seinen Augäpfeln jonglieren, um den Schaden wieder gut zu machen?“
Der Hauptmann drückte sich noch immer am Eingang zum Peristyl herum, im Schatten des Atriums, einen Schritt hinter dem General. Nun glaubte er seine Stunde gekommen: „Erhabener König“, rief er, „das Schwein verdient zu sterben!“ Er warf sich zu Boden und kroch auf allen Vieren näher.„Wir hatten ihn schon umzingelt - da tauchte Euer Hofnarr auf und wollte ihn für sich ...“
„... und du, Hauptmann, hast ihn ausgeliefert?“ fragte Attila.
Der Hauptmann nickte, zum Reden plötzlich zu kleinlaut.
„So einen Hauptmann kann ich nicht brauchen. Geh zum Kommandanten der Leibwache. Laß dir eine neue Hundertschaft zuweisen. Aber nicht als Hauptmann“, befahl der König, „sondern als einfacher Krieger.“
Der Hunne verdrückte sich, bevor es Attila vielleicht noch einfiel, die Strafe zu verschärfen.
„Und du, Schwein, bringst mich jetzt zum Lachen!“ befahl der König.
Zerkon half Dracontius auf die Füße und wies fragend auf die Stricke an den Handgelenken. Der Ring des Stellvertreters war glücklicherweise ab. Attila nickte gewährend. Ein Leibwächter durchschnitt die Fessel. Der König hatte seinen Thron mitten in das sonnige Peristyl stellen lassen, so wie er es liebte - auf einen Berg von Pelzen und Seidenballen. Zu seinen Füßen lümmelte sich die Handvoll Generäle. An Attilas Schulter knabberten Lieblingspferde. Ihre Zügel waren um eine Statuette verknotet - um den Marmorhals des wehrlosen Großvaters von Cnaeus Melessaeus Aper.
„Womit soll er jonglieren, Gebieter?“ fragte Zerkon. „In der Stadt hat er mit Dolchen ...“
„Das könnte dir so passen!“ lachte Attila. „Wenn er mit Dolchen kann, dann kann er auch mit ...“, suchend blickte der König sich um, „ ... diesem Geschmeide hier!“ Ein Häufchen Beutegut hatte unbeachtet im Kies gelegen. Nun glitt der König behende vom Thron - die erschreckten Lieblingspferde schnaubten - und wühlte mit beiden Händen in Schmuck und Goldmünzen. „Damit jongliert er“, rief Attila und warf Dracontius eine schwere, edelsteinbesetzte Halskette zu. „Und damit ... und damit ... und damit!“ Der Halskette folgten ein Goldpokal, eine Haarnadel und ein Lederbeutel voller Münzen. „Und jetzt bring mich zum Lachen, Schwein!“ Dracontius wog die unterschiedlich schweren und geformten Gegenstände prüfend in der Hand. Dann begann er, sie zu jonglieren, jonglierte um sein Leben und - hielt die Bälle in der Luft. Er schaffte sogar einen zusätzlichen Weinbecher, den Attila ihm unversehens zuwarf. „Knie nieder!“ befahl Attila.
Auch das ging noch verhältnismäßig gut, nur daß der spitze Kies höllisch an den Knien schmerzte. Erst als ein General das hohe Beispiel seines Königs nachahmte und auch seinen Becher noch ins Spiel warf, wurde es zuviel, und das sechsteilige Allerlei purzelte zu Boden.
Großes Gelächter. Attila wiegte säuerlich den Kopf. Das Lachen der Generäle und Wolfmänner erstarb. Der König trat zum knienden Dracontius und packte ihn am Ohr. Sehr grob, aber, wie Zerkon wohl bemerkte, auch sehr wachsam, denn während Attila mit links das Ohrläppchen packte, hatte er die Rechte am Dolchknauf. Attila riß jetzt an dem Ohr. Ein dünner Blutfaden floß über Dracontius‘ Wange.
„Das Schwein schaut immer noch unverschämt. Es blutet, aber es schaut unverschämt! Sei demütig! Schau demütig! Küß mir die Stiefel, Sklave!“ Dracontius zögerte. Attila schüttelte in geheuchelter Trauer den Kopf. Dann versetze er Dracontius eine schallende Ohrfeige, die ihn fast von den Knien riß. „Ja“, seufzte Attila, „ich weiß es doch genau, solch renitente Schweine wie dich kann man nicht zähmen. Ich kann mir nur aussuchen, ob ich dich töte, oder am Leben lasse. Und jetzt küß mir gefälligst die Stiefel, Römerschwein! Meine Generäle würden nicht verstehen, wenn du davonkämst, ohne mir diesen bescheidenen Wunsch zu erfüllen.“ Mit versteinerter Miene bückte sich Dracontius. Seine Lippen berührten die staubverkrusteten Stiefel. „Ich weiß nicht, Zerkon ... mir mißfällt es, zwei von deiner Sorte um mich zu dulden“, sagte Attila. „Ob das gut geht?“
Mit plötzlichem Ruck zog Attila seinen rechten Stiefel unter dem Mund von Dracontius hervor und setzte ihm den Fuß in den Nacken.
Genickbruch! Zerkon kniff fest die Augen zu. Die Fliegen summten. Abgesehen davon war es totenstill. Attilas Generäle und Leibgarden, Zerkon und Dracontius, dessen Gesicht vom Fuß des Königs in den Kies gestoßen wurde - alles bangte entweder oder hoffte, daß Attila fest zutrat.
„Du kannst jetzt deine Kulleraugen wieder öffnen, Narr“, sagte Attila höhnisch. „Ich schlachte das Schwein nicht. Nicht heute. Doch fehlt dem Sklaven noch der Halsring.“
Eine halbe Stunde später trug Dracontius einen zwar klobigen, aber zum Glück ausreichend weiten Halsring, für den sich Zerkon noch einmal ins Zeug hatte legen müssen: „Erhabener König, dieser Sklave soll jonglieren. Dabei muß er seinen Kopf in den
Nacken legen. Das kann er nicht - mit diesem engen Halsring!“
„Du brütest irgendeine Schurkerei aus, kleiner Zerkon“, sagte Attila.
Trotz seines Argwohns hatte der König nachgegeben. Der Schmied kramte eine gelochte Metallscheibe aus seinem Werkzeugsack und schob sie zwischen die Verschlußbacken des Halsrings, bevor er den glühenden Eisendorn durch die Löcher steckte und an den überstehenden Enden breit klopfte.
Auf der Straße drängten sie sich durch einen Auflauf von Vasallenkönigen, Generälen und Häuptlingen. Erst als Zerkon und Dracontius am Leichnam des Cnaeus Melessaeus Aper vorbei waren, der immer noch wie eine verrenkte Gliederpuppe in der Gosse lag, erlaubte Zerkon sich ein winziges, triumphierendes Lächeln. Während im Peristyl alles gebannt auf die funkenstiebenden Hammerschläge des Schmieds gestarrt hatte, war es ihm gelungen, einen königlichen Wimpel zu stehlen. Der konnte gute Dienste leisten.
„Ich werde mit seinen Hoden jonglieren“, schäumte Dracontius, als sie hinter der nächsten Ecke in Sicherheit waren vor zudringlichen Blicken.
„Löblicher Vorsatz“, sagte Zerkon. „Es ist aber nicht einfach, an Attilas Weichteile heranzukommen, sonst hätten Totila und ich sie längst. Sei du einstweilen froh, daß du am Leben bist! Er hat dich nichtmal angepißt - das macht er sonst gern mit neuen Sklaven. Du wolltest überleben - bitteschön, hier sind wir. Kannst du mir nun erklären, warum ihr in der Stadt geblieben seid, als die Belagerung anfing?“
Dracontius fand den frechen Ton Zerkons unpassend. Doch immerhin verdankte er dem Hofnarren sein Leben. Und Zerkon war der einzige legat am Hunnenhof.
„Danke!“ sagte Dracontius.
„Schon gut“, sagte Zerkon. „Es wäre halt nur beinahe schiefgegangen. Ihr wart so verdammt leichtsinnig!“
„Waren wir nicht“, brauste Dracontius auf. „Wir waren nur zu spät. Wir warteten noch auf Kuriere. Das hat drei Tage gekostet. Plötzlich war der Belagerungsring dicht.“ Dracontius lotste Zerkon durch ein Gewirr von Gäßchen im Armenviertel, wo deutlich weniger Hunnen streunten. Schließlich zog er ihn auf den Hof eines Steinmetzen. Zielstrebig schritt Dracontius zu drei weißen Marmorplatten, die zwischen einem Porphyrblock und der bröckelnden Ziegelwand lehnten. Er kippte die Platten von der Mauer weg gegen den Block. Hinter der letzten Marmorplatte tat sich eine Luke auf. „Da rein“, sagte Dracontius. „Dein Pony muß draußen bleiben.“
Während sie in den Bauch der Stadt krochen, wohin kein Hunne ihnen folgen konnte, wuchs Zerkons Sorge. Seine Tarnung wurde immer fadenscheiniger. Nun wollte Dracontius auch noch versteckte Ratsherren mitnehmen, wenn er sich in die Lagune absetzte. Zerkon, der sich schon bei den magistern am Hafen zu erkennen gegeben hatte, wäre lieber anonym geblieben. Am Hunnenhof herrschte wahrlich kein Überfluß an schwarzen Zwergen. Genau genommen gab es nur Zerkon. Er war elend leicht zu identifizieren. Wenn er nun einer Gruppe von magistern, legaten und sogar ihren Familien vorgestellt wurde, lief er beträchtliches Risiko. Nur ein einziger Verräter, ein Satz in einem abgefangenen Brief, ein Mann, der sich vor seinem Kind verplapperte oder auf der Folter schrie: wir haben am Hunnenhof einen schwarzen Zwerg, der soll für uns Attila töten - und Zerkon war erledigt.
„Muß das wirklich sein ...“, brummte er. „... daß ich mich da zur Schau stelle?“
„Ich brauche dich“, sagte Dracontius. „Childericus ist gefallen, aber das heißt nicht, daß sie mich als Nachfolger akzeptieren. Ich brauche deine Fürsprache. Das Wort unseres legaten am Hunnenhof hat Gewicht. Ich will, daß du für mich Partei ergreifst!“
"Und dafür setzt du meine Mission aufs Spiel?“
„Ja“, sagte Dracontius, ohne Zögern. „Aber ich biete dir eine Gegenleistung. Ich weiß doch, wie mein Vorgänger euch abgespeist hat. Ihr hattet euren Auftrag, du und Totila, aber Hilfe - die bekamt ihr nicht.“
Zerkon nickte. „Nur ein paar Reiter in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern“, gab er zu.
„Eben! Sobald du mir geholfen hast, princeps zu werden, verfügst du über alle freien Einkünfte des Westens. Totila wird seiner übrigen Pflichten entbunden und widmet sich allein eurer Mission. Mit dem Gold knüpft er bei Attilas ostgotischen Vasallen ein Netz aus Spitzeln und Attentätern, ohne daß du überhaupt in Erscheinung zu treten brauchst. Du koordinierst alles aus geschlossener Deckung heraus. Da müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn du der Bestie nicht den Garaus machtest.“
„Die Sache hat nur den Haken“, sagte Zerkon, „daß ein Haufen Leute mich zu sehen kriegt. Wenn das Gerücht von einem schwarzen Zwerg in Umlauf kommt, der an Attilas Hof ...“
„Ich sorge dafür, daß das nicht passiert“, sagte Dracontius.
„Und welche Garantie habe ich?“
„Attilas Stiefel in meinem Nacken.“
Im Keller einer Hafenspelunke, inmitten von Wein- und Ölamphoren, erwarteten drei Ratsherren, zwei mit ihren Ehefrauen, den Stellvertreter beim Schein einer Funzel. Zuerst nur erstaunt, als Dracontius ihnen Zerkon vorstellte, konnten sie ihn schon bald nicht hoch genug rühmen für seine Tapferkeit am Hunnenhof und das kalte Blut, das er bei der Rettung des Stellvertreters bewiesen hatte. Zerkon jedoch besaß ein feines Gespür für Menschen, die seinen Körperbau verachteten - und alle fünf gehörten eindeutig zu dieser Sorte. Fast bereute er sein Kommen. Aber dann fiel ihm auf, mit welcher Umsicht sie ihre Flucht vorbereitet hatten. Alle trugen schäbige Lumpen. Arme, Beine, Gesicht starrten vor Schmutz. Die Frauen hatten jedes Fältchen mit Ruß betont und jede hatte mindestens einen falschen faulen Zahn im Mund. Die Lumpen stanken nach Erbrochenem. Kein Hunne würde diese Jammergestalten durchsuchen.
Die Räte hatten Dokumente, die nicht rechtzeitig evakuiert worden waren, in ihre Lumpen genäht. Dracontius überflog ihre Bestandsliste, nickte und half dann, die restlichen Truhen ausleeren und mit Öl zu tränken. Über ihnen zog die Belagerungsramme, nur so zum Vergnügen, krachend und dröhnend eine Schneise durchs Hafenviertel. Das Kellergewölbe erzitterte. Mörtel rieselte von der Decke, als Dracontius eine Schriftrolle entzündete, sie über den Berg öliger Papiere hob, noch einmal in die Runde schaute - und alles in Brand setzte.
Sie flohen vor dem Rauch in einen abschüssigen, baufälligen Gang, der an der Hafenmauer endete, direkt bei ihrem Boot. Inzwischen neigte sich der Tag dem Ende zu. Es war dunkel, so daß sie sich auf ihrem Boot ins Hafenbecken wagten. Dracontius und seine Räte ruderten. Eine der beiden Frauen nahm das Steuer. Die beiden anderen setzten das kleine Segel, sobald die Hafenmole hinter ihnen lag. Nur Zerkon kauerte nutzlos im Heck. Am nächsten Morgen jedoch war er plötzlich wieder sehr gefragt, denn da sie dicht unter Land durch die sieben Meere navigierten, wurden sie oft von Hunnenpatrouillen bedroht. Zerkon beruhigte die Verfolger an der Küste dann, indem er jedes Mal den königlichen Wimpel schwenkte. Abends waren sie in Sicherheit.
Ihr Refugium war ein Archipel kleiner und kleinster Inseln, der halbwegs zwischen Aquileja und Ravenna lag, ziemlich genau auf Höhe der Brentamünde, durch drei sandige Lidi vom Meer getrennt. Zu jedem Haus gehörte hier ein Bootssteg, denn die Kanäle zwischen den Inseln dienten zugleich als Straßen des Gemeinwesens. Viele Bewohner waren Fischer, einige Händler, wieder andere zogen schwere Rollen durch Salzbassins, um den Boden zu festigen, denn Salz war, abgesehen vom Glas, der einzige Exportartikel dieser Gegend. Wer ein Haus errichtete, baute entweder auf einer Inselkuppe einen leichten Holzschuppen. Oder er war genötigt, zunächst seinen eigenen Baugrund zu erschaffen aus Tausenden junger Eichenstämme, dicht an dicht in den Untergrund getrieben. Darauf kamen mehrere Lagen Bruchstein. Und dieses Fundament trug dann problemlos Mauerwerk.
„Wir suchen allerdings noch eine Lösung für die Keller. Vielleicht kann man ja auf eine tiefere Lage von Eichenstämmen wasserdichtes Mauerwerk setzen, mitten in die Hauptlage hinein“, sagte Dracontius, als sie, zwei Tage später, vor dem Bootsschuppen standen, wo sich nach und nach die anwesenden Räte und legaten zur Wahl versammelten. Es war windstill. Fern am Ufer standen kerzengerade Rauchsäulen über den brennenden Dörfern.
„Keller?“ fragte Zerkon entgeistert.
„Keller! Wir fallen ohnehin schon aus dem Rahmen mit unseren großen Steinhäusern“, erklärte Dracontius. „Wenn wir nun das gesamte Archiv hierher verlagern und Waffenarsenale anlegen - das geht nicht in oberirdischen Räumen, das braucht zu viel Platz.“
„Ich bin ja kein Baumeister“, lachte Zerkon. „Der einzige Bau, der mich je interessiert hat, war eine kleine Therme. Aber was ist mit dem Hochwasser? Wenn es die Erdgeschosse überflutet, laufen doch auch die Keller voll. So kannst du keine Waffen lagern, geschweige denn Archivbestände!“
Dracontius lächelte ein wenig selbstgefällig. „Recht hast du - solange die Kellertreppe im Erdgeschoß endet. Aber führe sie durch einen brunnenähnlichen Schacht zum ersten oder gar zweiten Stock empor ...“
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Geh lieber rein und laß dich endlich wählen“, sagte Zerkon. „Ich muß heute noch aufs Festland. Attila ist bestimmt nicht erfreut, wenn ich ohne meinen Sklaven heimkehre.“
Unwillkürlich strich Dracontius sich über den Hals, wo noch vorgestern der Eisenring gescheuert hatte.
Drinnen saßen auf zwei Reihen umgekippter Boote, auf einem Haufen Fischernetze und einem leeren Pechkessel rund vierzig Räte und legaten. Die Tagesordnung bestand aus dem einzigen Punkt: Wahl des neuen princeps. Einziger Kandidat war Dracontius, der schon Stellvertreter von Childericus gewesen war. Allerdings zog eine Minderheit die Wahlbefugnis der Versammlung in Zweifel. Rufos, Grieche aus Alexandria, sprang auf eine Taurolle. Lautstark verwies er darauf, daß unter den obwaltenden Umständen der byzantinische Zweig des Rates keine Stimme abgeben könne. Daher sei jede Wahl von vornherein ungültig.
Zerkon hatte mittlerweile begriffen, daß sein Wort hier tatsächlich besonderes Gewicht besaß. „So gesehen muß“, rief er ins Stimmengewirr, „auch das wieder aufstrebende kölnische Archiv
befragt werden, bester Rufos. Und da du so überaus besorgt bist um das Recht der Räte von Konstantinopel - was ist mit den Horrealeuten aus deiner Heimat Alexandria? Ich selber stamme, wie du weißt, noch weiter aus dem Süden Ägyptens. Auch dort gibt es legaten. Wollten wir jeden befragen, dessen Meinung von Belang ist, dann stimmen wir frühestens in vier Monaten ab. Das ist zu spät. Wir leben unter der Geißel Attilas. Wir hier in diesem Raum, nicht unsere Kollegen in Alexandria, Konstantinopel, Köln, Rom oder Utica müssen standhalten. Wir müssen handlungsfähig bleiben. Dazu bedarf es eines Anführers. Und ich wüßte keinen besseren als Dracontius. Wir alle kennen sein Organisationstalent und seinen strategischen Weitblick. Ich selber habe ihn kämpfen sehen. Mehr noch, ich habe gesehen, wie er gefesselt Attilas Zorn überlebte. Eine bessere Empfehlung gibt es nicht. Ich rate daher: sprecht ein Gebet für Childericus. Wählt Dracontius zum Nachfolger. Und dann an die Arbeit!“
Nach Zerkon sprach Dracontius. Nach Dracontius niemand mehr. Lepidus, ein Stadtrömer, der als Ältester die Versammlung leitete, hatte jedem Wahlberechtigten, ob magister oder legat, je eine schwarze und eine weiße Glasperle überreicht. Die Frage lautete: soll Dracontius von Utica, Stellvertreter des Franken Childericus, neuer princeps aller Gründer werden bis zu seinem Tod? Die Männer traten vor. Einer nach dem anderen versenkte seine Faust in der Wahlurne und ließ seine Glasperle fallen. Weiß hieß: Ja.
Dracontius und Zerkon, die als erste abgestimmt hatten, traten vor die Tür. Ein Mückenschwarm überfiel sie, doch das war hier so alltäglich, daß man sich kaum zur Wehr setzte. Auf dem Festland kippten die Rauchsäulen inzwischen leicht nach Süden.
„Wenn ich nur wüßte“, sagte Zerkon, „wo Totila steckt.“
Als Lepidus die Glasperlen zählte, fand er genau vier schwarze - nur vier Stimmen gegen Dracontius. Wenn jetzt noch die Archive von Köln, Alexandria und Konstantinopel dem neuen princeps huldigten, stand der Regentschaft nichts im Weg. In rascher Folge diktierte Dracontius Befehle, band Rufos ein, dem er auftrug, an die Räte im Osten zu schreiben, deutete Zerkon die Erfüllung seines Wahlversprechens an, indem er einen Kassensturz über alle freien Mittel der Gründer von der iberischen Halbinsel bis Italien veranlaßte. Dann war Abend, und der neue princeps bestieg mit seinem legaten Zerkon und drei Leibwächtern das Boot. Im Schutz der Dunkelheit ruderten sie zur Brentamündung. Beim Abschied nahm Zerkon den princeps beiseite. Verlegen druckste er herum, bevor er bat:
„Machst du es selber?“
„Muß das sein?“ fragte Dracontius.
Zerkon nickte. „Ich muß Attila beides erklären - meinen langen Ausflug und dein Verschwinden. Da muß ich was vorweisen. Mach schon!“
Dracontius holte aus und versetzte Zerkon einen Kinnhaken, der den kleinen Mann ohnmächtig rittlings ins Schilf schickte. Dort kniete sich der princeps über ihn und schlug systematisch ins Gesicht, auf Schultern, Brust und Oberarme, bevor er mehrfach in Zerkons Halsmuskulatur kniff, um Würgemale vorzutäuschen. Dann befahl er, Wein zu bringen.
„Ich werde mich besaufen müssen“, stöhnte Zerkon, nachdem er den ersten Becher auf einen Zug geleert hatte. „Die Fahrt nach Norden reicht gerade aus, um mich gründlich zu besaufen und wieder auszunüchtern. Verdammt - !“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht betastete er seinen Hals.
An die Bootsfahrt konnte Zerkon sich später nur schemenhaft erinnern. Der Mond verschwand hinter ablandig jagenden Wolken. Segeltuch knatterte im Wind. Gleichmäßig pullten die Männer. Der ganze Körper Schmerz. Von der Küste drohendes Hunnengeschrei. Und sehr viel Wein.
Zwei Ruderer hatten ihn nach Norden geschafft und westlich Aquilejas abgesetzt. Dann war Zerkon allein. Er watete ins Wasser und tauchte unter. Prustend kam er wieder hoch und richtig zu Bewußtsein. Der Schmerz war zwar nur noch ein dumpfes Pochen, aber allgegenwärtig. Er betastete die Prellungen im Gesicht und schaute an seinen Armen hinunter. Dracontius hatte ganze Arbeit geleistet.
Als Zerkon sich nach Aquileja hinein schleppte, mit einem Stück Treibholz als Krücke, war von der Stadt schon fast nichts mehr übrig. In solchen Furor steigerten sich die Hunnen selten. Sie hoben Gruben aus, nur um sie mit abgetragenen Ziegeln zu füllen. Sie räumten die Trümmer der Stadt in den Keller. Sie tilgten die Stadt vom Erdboden, so gründlich, daß eine Generation später kaum noch jemand die Ruinen Aquilejas kannte.
Die Stadtmauer war geschleift. Das Forum gab es nicht mehr. Ebensowenig die Thermen, wo Attilas Schwiegervater gefesselte Patrizier mit kochendem Wasser gefoltert hatte. Einsam inmitten der buckligen Steinwüste erhob sich das Haus des Cnaeus Melessaeus Aper. Dort hielt der Hunnenkönig immer noch hof, umgeben von den Zelten seiner Vasallen. Zerkon wurde gleich vorgelassen, was nicht verwunderlich war, da der König seit Tagen brütend auf seinem Thron lag, aß, trank und sich zwischendurch das Bad anheizen ließ. Er wußte nicht mehr, was er wollte. Zerkons Rückkehr war ihm willkommene Abwechslung. Als er seinen Hofnarren ins Peristyl humpeln sah, das inzwischen mit blauer Zeltbahn überspannt war, brach Attila in herzliches Gelächter aus.
„Bist du der römischen Armee über den Weg gelaufen? Beim Wind der Steppe - dich haben sie aber zugerichtet!“
Zerkon druckste kleinlaut herum und rückte erst spät, als Attila immer giftiger nachhakte, mit der Geschichte von Dracontius‘ Flucht heraus, die er sich zurecht gelegt hatte. Er schloß: „Und da lag ich nun unter ihm. Seine Hände umklammerten meinen Hals und die Luft ging mir aus. Es flimmerte vor meinen Augen. Ich wand mich unter ihm, um loszukommen. Dabei kriegte ich den Stein in die Finger und schlug zu, so hart ich konnte. Mir schwanden die Sinne. Ich muß etliche Zeit im Schilf gelegen haben. Und als ich erwachte, da lag der tote Sklave neben mir und Möwen pickten an seinen Augen.“
Attila beugte sich zu ihm hinab und musterte ihn eindringlich.
„Im Schilf gelegen?“ fagte er. „Mückenstiche genug hast du dafür. Im Schilf hast du also gelegen?“
„Jawohl, verzeiht, mein König“, stammelte Zerkon.
„Dann hast du wohl nichts mit jener merkwürdigen Gestalt zu tun, von der Patrouillen berichten? Sie saß in einem Boot, war ziemlich klein und winkte mit dem königlichen Wimpel, als meine treuen Bogenschützen anlegten.“
„Mein König, davon weiß ich nichts.“
„Und das soll ich glauben?“
„Wenn ich fliehen wollte, König Attila, und schon so weit geflohen wäre - warum sollte ich wieder umkehren?“
„Genau das frage ich mich auch“, sagte Attila mit tückischer Nachdenklichkeit. „Die Antworten mißfallen mir samt und sonders. Du weichst nicht mehr von meiner Seite ab sofort, doch hüte dich - die Leibwache hat ihre Befehle, und sobald du dich auf Schwertlänge näherst, bist du ein toter Zwerg!“
Zerkon verfaßte also seine Berichte an Dracontius und Totila quasi unter den Augen des Königs. Verglichen mit dieser neuen Herausforderung schrumpfte die Beförderung der Post plötzlich zur Bagatelle. Totilas Verwandtschaft, besonders der Onkel, der Attila noch immer nicht die Kreuzigung seines Bruders verziehen hatte, war stets zu Botendiensten bereit. Doch nun sah der König schon beim Schreiben zu. Einmal erwischte Attila den Hofnarren und stellte ihn zur Rede. Zerkon jedoch fragte mit dreistem Lächeln: „Glaubt Ihr, Herr König, jedes Wort meiner allabendlich wechselnden Vorträge entstünde aus dem Kopf und bliebe darin erhalten? Nein, Herr, ich brauche ab und zu Notizen!“
Inzwischen waren die Hunnen mit Aquileja fertig und der Königshof wieder auf Reisen. Die Lombardei wurde systematisch verwüstet. Altinum und Padua wurden eingeäschert. Vicenza, Bergamo und Verona wurden geplündert. In Pavia stieß Zerkon erstmals auf das segensreiche Wirken von Dracontius. Der neue princeps hatte die heillos unterlegene Bürgerschaft überredet, sich Attila zu ergeben und ihm alles Hab und Gut auszuliefern. Bequemer konnte man es den Hunnen nicht machen. Sie feierten, begrapschten ihre neue Beute und schikanierten verängstigte Bürger, wobei sich Zerkon sehr hervortat, was ihm von Seiten des Königs große Anerkennung eintrug. Aber zumindest blieben Pavias Bürger am Leben. Die Grausamkeit der Hunnen schien erschlafft.
Desgleichen Mailand - auch hier gefiel sich Attila in ungewohnter Milde, nachdem die Patrizier der Stadt ihn vor den Toren auf dem Bauch begrüßt hatten. Im Heer kam diesmal sogar Unmut auf. Viele Hunnen hätten lieber auf klassische Weise geplündert. Sie vermißten die schreienden, rennenden Menschen. Aber der König duldete keinen Widerspruch. Er selber nahm Quartier im alten Kaiserpalast. Seine Vasallen bewohnten die umliegenden Paläste und Häuser. Das Gros des Heers kampierte vor den Mauern.
Im einstigen Thronsaal häufte sich Königsbeute. Dort badeten Attila und seine Gäste allabendlich ihre Hände in Edelsteinen, während im Nebensaal das mindere Gefolge tafelte. Eines Morgens, das Gelage war zuende und die Sonne ging schon auf, fand Zerkon den König im Thronsaal auf einem Haufen Denare aus der guten alten Zeit, als der Silbergehalt noch stimmte. Reglos lag Attila unter dem Wandgemälde an der Stirnseite des Saals. Seine Augen leuchteten blutrot. Seine Faust hielt immer noch den Holzbecher umklammert, aus dem er trank, um seine kernige Bescheidenheit zur Schau zu stellen. Einen Augenblick glaubte Zerkon, Attila sei tot. Dann hörte er den nächsten, röchelnden Atemzug des Königs. War das die unverhoffte Chance? Seit Jahren wartete Zerkon auf so eine Gelegenheit. Er war nur halb so groß wie Attila, nicht ein Drittel so behende und besaß kaum ein Viertel von Attilas Kraft. Doch so ... der König ausgestreckt, keine Wachen, wehrlos preisgegeben ... der Kehlkopf, überlegte Zerkon. Er schlich auf leisen Sohlen, hob seinen schweren Silberbecher - da schlug Attila die Augen auf und platt geschliffenen Rubine kullerten von seinen Lidern.
„Wolltest du deinen König morden, Zwerg?“
„Ich wollte meinem König zu trinken bringen“, erwiderte Zerkon geistesgegenwärtig. Zum Glück befand sich noch ein wenig Wein in seinem Becher. Gierig trank Attila. Er stützte sich auf den Ellbogen und zeigte hinauf.
„Was sagst du zu dem Fresko, Zerkon“, fragte er.
Attila meinte das Wandgemälde, das im Thronsaal die obere Hälfte der Konche einnahm. Es stellte eine Gruppe skythischer Fürsten dar, die unterwürfig dem römischen Kaiser huldigten und ihm Tribut darbrachten.
„Hm“, sagte Zerkon.
„Geht das ein bißchen deutlicher?“
„Ich weiß, nicht, Herr, wie weit sich Euer Sinn für Ironie entwickelt hat“, sagte Zerkon. „Aber ist es nicht zum Brüllen komisch, daß in Wahrheit hier unten der Tribut der Römer an den Pferdefürsten liegt, während oben hoch die prahlhansigen Römerlein ein ganz anderes Gemälde malen, wo die Pferdefürsten dem Kaiser Tribut zollen ...“
„Hm“, sagte Attila. „Vielleicht sollte das große Gelage heute Abend hier in der Halle stattfinden. Und du, Hofnarr, erklärst meinen Getreuen, was du da gerade ausgedacht hast.“ Zerkon nickte. „Gut!“, sagte Attila. „Geh, bring mir Stutenmilch, aber keine vergorene! Ich muß zu Sinnen kommen.“ Sprachs, wandte sich von Zerkon ab und kotzte auf die Silberdenare.
Mittags, Zerkon hatte gerade in den ersten Schlaf gefunden, weckte Totilas Onkel ihn mit einem Brief.
Aus Epistulae variae:
Zerkon, mein Freund! Glück und Gesundheit vorab! Ich hoffe, es sind alle Wunden ausgeheilt, die unser neuer princeps Dracontius dir im Schilf schlug. Was macht die hunnische Bestie? Schmerzt dich die Geißel unter der du lebst? Mein Freund, ich schreibe dir, weil ich mehr Zeit benötige. Der sogenannte weströmische Kaiser ist eine taube Nuß. Auch der Oberpriester der Christen will uns nur unter bestimmten Bedingungen helfen. Ich fürchte, wenn Attila sich mit seinen Hunnen zum katholischen Glauben bekehrte, wäre Papst Leo bereit, unser Anliegen zu opfern. Aber das ist es nicht, was uns aufhält. Du hast geraten, Attila mit Mummenschanz zu foppen. Nun gut - wir haben mit Stelzengehern geübt und mit griechischem Feuer, doch die Nummer, die uns vorschwebt, will und will nicht gelingen. Wir brauchen mehr Zeit für Proben. Dann brauchen wir Zeit für den Weg nach Norden. Mehr als die Hälfte Italiens werden wir kaum retten. Halt du ihn auf, den Hunnenkönig, verschaffe uns die Zeit, die wir benötigen!
Aus den Res gestae contra Attilam:
Lange vor Sonnenuntergang kochte die Stimmung der Hunnen auf einem ersten Siedepunkt. Forellen im Zimtmantel schmeckten den Gästen besonders gut - und dazu ein frischer junger Rotwein von den Südhängen der Alpen. Mag sein, der Wein moussierte noch ein wenig. Mag auch sein, er floß in Strömen und vermischt mit vergorener Stutenmilch. Jedenfalls spielten die ersten Hunnen verrückt, während die sinkende Sonne noch die Konche des Thronsaals beschien. Das Grölen erreichte Lautpegel, die sonst erst zwei, drei Stunden später üblich waren.
Als Zerkon in den Saal torkelte, wurde es ein schlagartig still. Daß der Zwerg so früh schon heillos besoffen war, das hatte es noch nie gegeben, das mußte was bedeuten. Der Hofnarr trug Skythentracht und um den Aufzug noch lächerlicher zu gestalten, hatte er in sein Kraushaar eine Mantelspange geflochten. Die Gästeschar lachte glucksend. Zerkon griff rechts und links in die Schätze und schleuderte die Mailänder Beute mit vollen Händen unter die Tafelnden.
„Greift zu, ihr Herren!“ lallte er. „Sammelt euren Raub ein! Rafft, was ihr könnt - sonst sieht es noch so aus, als zollten die Hunnen, wie auf dem Bild dort droben, einem Römer Tribut ...“
Attila hatte auf seinen Fellen gedöst. Da die Gäste sich aber nun ernstlich über den königlichen Beuteanteil hermachten, war er plötzlich hellwach und köpfte zwei der Gierigsten. „Unter welch gemeiner Einflüsterung tafeln wir hier?“ hetzte Zerkon. „Was ist das für ein böses Bild? Ist es vielleicht recht, daß je ein Römerkaiser von Skythen Tribut empfing?“
„Nein!“ brüllten die Gäste wie ein Mann.
Attila nickte beifällig und winkte den ostgotischen Waffenmeister zu sich, einen Mann, der nichtmal beim Gelage seine Streitaxt aus der Hand gab. Auf dessen Schultern klomm er und hackte das römische Fresko mit der Axt aus dem Verputz.
„Wir werden dieses Bild neu malen lassen“, verkündete der König. „Bald werden auf der Wand römische Kaiser auf dem Bauch kriechen. Vor einem Skythenkrieger. Und Rom zollt uns Tribut, uns ... mir, dem Herrn Italiens!“
Am nächsten Tag begann die Ausführung. Drei Wochen kostete die Neugestaltung der Konche, ganze drei Wochen, von denen Totila jeden einzelnen Tag bitter benötigte. Sie klopften die letzten Farbflecke aus dem Verputz. Sie trugen neuen, frischen Verputz auf. Fünf Tage suchte Attila vergeblich nach fähigen Handwerkern - sie meldeten sich angstschlotternd, erst als die Belohnung in königliche Höhen stieg. Anfangs fehlte gipsfreier Kalk. Dann die Farben. Schließlich entpuppte sich ein Maler als einfacher Anstreicher, worauf Attila ihn pfählen ließ. Und während dieser ganzen Zeit, in der Totila fieberhaft den großen Mummenschanz probte, freute sich Zerkon der hunnischen Manipulierbarkeit.
Doch auch diese Gnadenfrist verging, und ausnahmsweise fällte Attilas Kriegsrat Entscheidungen. Das neue Fresko - römischer Kaiser zollt kniefällig dem Hunnenkönig Tribut - war halb fertig, da befahl Attila, das Heer möge sich zum Abmarsch rüsten. Rom solle erobert werden, noch in diesjähriger Kampagne. Der pflichtschuldigste Jubel der Vasallenkönige, Häuptlinge und Zehntausendschaftsführer verstummte rasch, denn sie, nicht Attila, sollten die murrende Truppe auf Linie bringen. Rom, die Stadt selber, war als Ziel unpopulär. Viele Barbaren erinnerten sich noch des Westgotenkönigs Alarich, der nach Erstürmung Roms gestorben war. Der alten Reichshauptstadt haftete etwas Numinoses an, dessen Bannkreis man besser nicht verletzte. Folgte Attila noch seinem guten Stern? Der geringste seiner Krieger zweifelte inzwischen daran, und Totilas Sippe half der Kriegsmüdigkeit durch immer neue Schauermärchen nach. Es gab jedoch auch objektive Schwierigkeiten.
Die Hunnen - besonders die Hunnen, denn ihre ostgotischen Vasallen hatten andere Eßgewohnheiten - litten an Italien. Sogar die Pferde litten. Gewöhnt an das harte, scharfe Gras der Steppe, verursachten ihnen die fetten Samenstände italienischer Halme aufgetriebene Bäuche, bis hin zu Koliken. Und die Männer? Nicht die Höflinge, sondern die Masse einfacher Krieger? Sie waren an halb rohes Fleisch gewöhnt. An Stutenmilch. Zur Not an das frische, heiße Blut ihrer Pferde. Das Gemüse jedoch und die süßen Früchte Italiens waren auf Dauer unbekömmlich. Auch das Brot, an dem sie sich zuerst nicht hatten sattfressen können. Und der Wein, den sie zunehmend schlechter vertrugen. Gar nicht zu reden von gebratenem und gesottenem Fleisch! Schlaff und bleich, mit steifen Gelenken schlurften sie durch die geplünderten Städte Oberitaliens und versäumten es, ihre Pferde ausreichend zu bewegen. Seuchen brachen aus. Disziplinlosigkeit. Italien war für die Hunnen einfach des Guten zuviel.
In diesen Wochen krönte Aetius sein Lebenswerk durch hinhaltenden Widerstand, den er, halbwegs in Kenntnis der hunnischen Schwierigkeiten, ihrem Marsch auf Rom entgegensetzte. Er war allein mit seinen römischen Kerntruppen. Hunnischen Vorhuten konnte er sich im Verhältnis eins zu eins stellen, doch schon, wenn er der ersten hunnischen Marschsäule begegnete, war er drei oder vier zu eins unterlegen. An eine Schlacht war nicht zu denken.
Wäre Kaiser Valentinian auch nur den Dreck unter seinem Fingernagel wert gewesen, hätte er sich an seinem Patricius Aetius ein Beispiel genommen. Doch der Enkel des Theodosius war schon zu Kriegsbeginn aus der uneinnehmbaren Festung Ravenna nach Rom geflüchtet - mit unverhohlener Absicht, Italien zu verlassen, sobald sein kostbares Leben Gefahr lief.
Immerhin war er nach endlosen Beratungen einverstanden, eine feierliche Gesandtschaft an Attila zu schicken. Avienus, gewesener Konsul und Führer des römischen Senats, hatte den Mut zu gehen. Mit ihm gingen Trigetius, der die italienische Prätorianerpräfektur innegehabt hatte und Papst Leo, der Bischof von Rom.
Die Gesandtschaft traf bei Mantua auf die Hunnen. Attila ließ sie warten, nicht so sehr, um sie zu kränken - vielmehr weil nun, da alles zur Entscheidung drängte, hastig ein Kriegsrat anberaumt wurde. Erst jetzt begriff der Hunnenkönig richtig, daß seine Reiter, denen er die Zerstörung der berühmten Landgüter von Catull und Vergil wärmstens ans Herz gelegt hatte, viel lieber nach Hause wollten. Was war denn auch die Alternative? Man war krank und hatte sich an Wein und Blut satt gesoffen - sollte man in dem Zustand etwa die fette Beute erst in den Süden Italiens schleppen, das gefährliche Rom erobern, und dann die ganze Beute wieder in den Norden bringen, durch abgegrastes, geplündertes Land? So breit waren die Küstenstreifen nicht. Und ins Gebirge mit der Reiterei? Ausgeschlossen! Abgesehen davon kursierten Gerüchte über ein oströmisches Heer, das die heimatlichen Weidegründe angriff. Ein Hauch von Meuterei lag in der Luft.
Schließlich wurde die Gesandtschaft doch noch vorgelassen. Avienus, Trigetius und Leo. Totila als Leibdiener Leos. Und, zu Zerkons grenzenlosem Staunen, Dracontius, der jetzt einen Vollbart trug und sein Haar bis zur Unkenntlichkeit gebleicht hatte. Er trat als Gehilfe der Stadtrömer auf. Warum Attila diese Stadtrömer haßte, wußte er vielleicht selber nicht, doch stürzte er sich voller Wut auf Avienus und Trigetius.
„So, ihr vertretet also hier den Frauenräuber Valentinian“, grollte er. Attila sagte ‚Frauenräuber‘, weil die Kaisertochter Honoria, die sich ihm in hochverräterischer Absicht als Gemahlin angedient hatte, immer noch eingemauert war. An der Frau selber war er denkbar uninteressiert, nur ihre Mitgift, die hatte es in sich. Sie betrug - laut Attilas großzügiger Rechnung - Gallien und Italien.
„Wir vertreten ...“, wandte Avienus ein.
Draußen knallte es zweimal dumpf. Erschreckte Rufe wurden laut. „Mich vertretet ihr“, schrie Attila. „Mir gehört Italien. Nur eurer dreckigen Mißwirtschaft ist geschuldet, daß der Straßenköter Aetius mir um die Beine strolcht. Nur eure fehlende Proviantlieferung ist dafür verantwortlich, daß wir noch nicht in Rom sind, um unsere rechtmäßige Herrschaft anzutreten. Hinaus, ihr seid entlassen ...!“
Wenigstens beschimpft er sie nicht als schamloses Vieh, dachte Zerkon, denn auch das hatte er schon erlebt. Leibwächter knüppelten die römischen Beamten aus dem Zelt. Dracontius folgte. Totila hielt beflissen die Zeltbahn auf. Von draußen zog Weihrauch herein. Totila fächelte.
„Und wen vertrittst du?“ fragte Attila den Papst.
Leo war in Totilas Mummenschanz eingeweiht - bei einem anständigen Wunder war die Mitwirkung des Papstes nicht zu verachten.
„Folgt mir, Herr König“, sagte Leo. „Ich stehe nicht für Rom und nicht für einen Kaiser, ich stehe nur für ...“ Wenn er jetzt ‚meine Kirche‘ sagt, dachte Zerkon, oder so etwas ähnliches, dann sind wir erledigt. „... ich stehe für Gott“, sagte der Papst.
„Und was will Gott? Was kann er überhaupt, dein Gott?“ fragte der König.
„Mehr jedenfalls als die Schamanen, die vor der großen Schlacht letztes Jahr Bäuche aufschlitzten“, sagte Leo.
„Woher weißt du ...?“
„Ich sehe weit und tief, wenn auch nicht so weit und tief wie die Apostel.“
„Gefasel!“
„Folgt mir, Herr König“, wiederholte Leo.
Draußen warf der Papst sich vor den Apostelfürsten zu Boden, zwei weihrauchdünstenden Riesen in einem Kranz verbrannter Erde. Sie waren doppelt mannshoch, entsprechend breitschultrig und trugen imposante Bärte, Paulus schwarz bis zum Brustbein - Petrus weiß bis zum Bauchnabel. Unter den wallenden Gewändern bestand jeder Apostel aus drei Akrobaten, die Blut und Wasser schwitzten.
„Wo kommen die her“, erkundigte sich Attila.
„Aus dem Nichts. Es tat einen Knall, und sie erschienen“, sagte der Hauptmann der Leibwache ehrfürchtig.
Tatsächlich waren die Apostelfürsten mit Blitz und dumpfem Knall und Rauch spontan am Zelt erschienen - der Teil der Nummer, der die längsten Proben erfordert hatte.
„Weiche, Pferdekönig“, grollte Petrus. „Kommst du nach Rom, wird Gott dich schlagen. Mit Mann und Roß und Wagen.“
Attila trat an den Rand der verkohlten Erde. Hinein in den Ring trat er nicht. „Wer sind die ... sind das Menschen?“ brummte er. „Sie dünsten Weihrauch ...“
„Herr König - die Apostelfürsten“, stellte Leo vor. „Sie haben mir versprochen, dich zu warnen. Rom bedeutet für dein Heer den Untergang.“
Bei der Leibwache, den Hofschranzen und Offizieren Attilas wurden erschreckte Ohhhs und Ahhhs laut.
Kurzum - das Wunder geschah. Attila ließ die Gesandtschaft in Frieden, schaute nicht unter die Gewänder der Apostelfürsten, fand nicht die kleinen Weihrauchbecken - sondern ließ sie gehen. Wir werden nie erfahren, ob er an die Erscheinung glaubte, oder ob er den Mummenschanz als willkommenen Vorwand ergriff, um den Rückzug seines kriegsmüden Heers zu befehlen. Zwar tobte er noch, er ziehe ab, da ihm Italien ja ohnedies gehöre. Warum solle er überhaupt die Städte seines Reiches zerstören, wenn ihm durch Steuereinkünfte weit mehr gedient sei? Dann stapfte er - nach knapper Verbeugung gegen die Apostelfürsten, ins Zelt.
Die Hunnen brachten ihre Cholerakranken um. Verteilten deren Beuteanteil. Packten alles auf die kleinen Pferde. Und machten sich nach Ungarn davon.
Dracontius von Utica kehrte aus dem Zeltlager in die Lagune heim und mobilisierte das Geld, das es Zerkon und Totila im nächsten Jahr ermöglichte, Attila zu liquidieren. Zerkon spielte weiter den Hofnarren. Totila baute mit dem Geld sein ostgotisches Agentennetz aus und arbeitete Zerkon zu. Im Jahr darauf erstickte Attila an seinem eigenen Blut, in seiner Hochzeitsnacht mit der Germanin Childiko. Nach seinem Tod brach die hunnische Bedrohung in sich zusammen. Bald darauf endete auch das weströmische Kaisertum. Übrig blieben Ostrom und die ostgotischen Verbündeten der Hunnen. Damit begann ein neuer Kampf um Rom.
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