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collection widerwort

Sie lesen hier eine Sammlung von Interviews, die ich zwischen Januar 2005 und August 2008 mit Richard Lank geführt habe. "F" kürzt Frank ab und meint mich. "L" kürzt Lank ab und meint ihn.
Köln, im Februar  2009
Stefan Frank


Das erste widerwort (Köln, 28. Januar 2005)


F: Magst du dich selber vorstellen?

L: Lank. Richard. Oder so.

F: Oder so?

L: Wir heißen nicht, wie uns die Website nennt.

F: Mit "wir" meinst du die Gründer?

L: Auch andere Räte.

F: Wie gerät man unter die Gründer?

L: Klingt wie “Wie fällt man unter die Räuber?“

F: Also bitte - wie?

L: Man fällt auf, wird gefragt, stimmt zu. Bewerben kannst du dich nicht.

F: Wie Karl Bucholtz auffiel, wissen wir. Und du?

L: Ha!

F: Zu indiskret?

L: Ach, halb so wild ... wir wurden sehr ... anders rekrutiert, Karl und ich - zuerst ich, obwohl wir vorher dieselbe Schule besuchten im selben Jahrgang - nur verschiedene Klassen. Wir hatten uns aber völlig aus den Augen verloren, bis Rotterdam. Karl war freier legat. Und ausgerechnet mich schickte De Kempenaer, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Tränen haben wir gelacht. Wodurch ich auffiel? Durch ein Buchmanuskript, das nie veröffentlicht wurde. Ein Verleger war freier legat der Gründer. Er gab meinen Namen weiter. Sie traten an mich heran.

F: Ähnlich, wie bei Matthias Geldern.

L: Kann man so sagen. Aber nicht, dass du mich jetzt gleich konspirativer Fraktionsbildung in der Nachfolge Gelderns bezichtigst!

F: Was für ein Manuskript?

L: Sag ich nicht. Ich hatte es mehreren Verlagen angeboten. Muss ja nicht sein, dass sich dort wer an mich erinnert.

F: Nur das Thema ... grobe Richtung ... ?

L: Imkerei auf Rügen unter besonderer Berücksichtigung des Kreide-Terroirs für die Aromen von Wildkräuterhonig

F: Danke, sehr freundlich, so gewinnst du die Sympathie deiner Leser.

L: Gern.

F: Also ... die Tarnnamen ... Siau Chou ... war das bereits sein korrekter Tarnname aus dem I-Ching?

L: Richtig. Obwohl "Tarnname" nicht ganz korrekt ist. Die Orakelnamen sind eher eine Rollenbeschreibung. Den bürgerlichen Namen Siau Chous werde ich nicht nennen. Analog gilt das für Herrn Dsien.

F: Aber Ho Lung? Die anderen Chinesen? Ich habe recherchiert - das sind keine I-Ching-Zeichen ...

L: ... sondern bürgerliche Tarnnamen. Stimmt.

F: Was soll die Uneinheitlichkeit der Nomenklatur?

L: Wenn Außenstehende wüssten, auf welcher Position in der Hierarchie der Vierundsechzig gerade welches Orakelzeichen sitzt, könnten bestimmte Rückschlüsse gezogen werden über die Strukturen in der Gelben Pagode.

F: Was hält der Orakelrat vom Tod des früheren KP-Generalsekretärs Zhao Ziyang?

L: Frag den Orakelrat.

F: Mal abgesehen davon, dass China derzeit paranoide Nachrichtensperren verhängt ... es ist doch kein Geheimnis, dass ihr und der Orakelrat, damals geführt von Sampaio, Deng Xiaoping favorisiert habt und sein Panzergemetzel auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Und seither stand Zhao Ziyang unter Hausarrest, weil er für eine friedliche Lösung plädiert hatte.

L: Du verdrehst den Sachverhalt ziemlich bösartig. Niemand hat das Gemetzel favorisiert, nicht einmal Deng. Aber er hatte zu wählen zwischen dem Gemetzel und einem unregierbaren Land mit einer Milliarde Menschen. Er hat sich für die kleinere Anzahl von Toten entschieden.

F: Das sehe ich anders.

L: Warum fragst du dann mich?

F: Zurück zu den Namen! Wenn die Zuordnung der Orakelnamen in der Gelben Pagode so geheim ist - warum gilt das nicht für Siau Chou und Herrn Dsien?

L: Na, die sind ... beziehungsweise waren ... bei uns. Da wir nicht nach der Tradition des I-Ching leben, sind ihre Orakelzeichen in unserer Hierarchie bedeutungslos. Außerdem - so unheimlich geheim sind unsere richtigen Namen ja auch nicht. Alle möglichen Leute könnten sie verraten, zum Beispiel du. Aber damit hätten Gegner ja nur Namen, die wir mal getragen haben. Sie wüßten nicht, wie wir heute aussehen, wie wir heute heißen, wo wir heute sind. Aber sogar das könnte, sagen wir mal, der Präsident der USA herausfinden. Die meisten Regierungen weltweit verfügen über die erforderlichen Kapazitäten. Es geht bei unserer Diskretion also mehr darum, nicht in jeder Flughafencafeteria per Handschlag begrüßt zu werden.

F Also könnten sie die Namen doch publik machen.

L: Wer?

F: Regierungen.

L: Ja - das wäre sowas wie ein Erstschlag. Bleiben wir in der Terminologie des Kalten Kriegs, in dem wir beide aufgewachsen sind - und sagen wir: Die Gründer verfügen über nahezu unbegrenzte Zweitschlagkapazitäten. Das dürfte deine Frage beantworten. Solange rationale Menschen an der Macht sind, passiert nichts. Schlimm wird es, wenn, sagen wir im Weißen Haus, ein echter, ein pathologischer Irrer regiert. Oder ein Fanatiker, dem alles außer seinem Ziel egal ist. Dann wird es schlimm.

F: So einer wie Bush?

L: Das hab ich nicht gesagt. Aber wenn ein Präsident schon einmal, im Irak, von der Pentagon-Intelligence belogen worden ist - dahinter stehen ja bekanntlich die Strategen des neuen amerikanischen Jahrhunderts, Wolfowitz, Perle, et cetera ... die sagen ja ganz offen "wir brauchen keine Fakten, Amerika ist groß genug, um sich seine eigene Wirklichkeit zu erschaffen" ... aber egal! Wenn dieser selbe Präsident nun zum zweitenmal die CIA aus dem Entscheidungsprozess ausbootet und allein das Militär im Iran Beweise fälschen und Ziele suchen läßt, dann kommt man schon ins Grübeln über den geistigen Zustand des Herrn. Vielleicht ein um Jahre verspätetes Delirium tremens? Ich weiß nicht. Vielleicht läßt er demnächst Venedig umgraben, um uns dingfest zu machen.
(Schon im September bewertet Richard Lank die amerikanische Iranpolitik radikal anders. Anm. d. Hrsg.)

F: Und das hätte Erfolg?

L: (lacht) Nein. Aber zuzutrauen ist es ihm.

F: Denkt ihr, er will euch fertigmachen?

L: Keine Chance. Das heißt ... uns als Personen kann er, vorausgesetzt er hat uns erstmal, schneller zerquetschen als eine Laus. Aber als Konzept der Räte, als Organisation der Gründer, sind wir unzerstörbar, solange die handelnde Macht Kritik und Korrektur herausfordert. Wir sind ewig.

F: Soso - ewig! Siau Chou ist tot. Du sitzt im Rollstuhl. Karl ... wie viele Attentatsversuche waren es doch gleich?

L: Man wählt seine Ziele und nimmt die Risiken in kauf. Punkt. Soweit die Theorie. Im Leben sind Entscheidungen viel komplizierter. Warum machst du den Websitejob für uns - obwohl die Risiken dich durchaus beschäftigen?

F: Kein Kommentar.

L: Soll ich es dir sagen?

F: Kann ich dich dran hindern?

L: Schon. Wir würden die Publikation dieser Zeilen nicht gegen den Willen unseres Herausgebers erzwingen. Du weißt doch ... gib den Menschen keinen Grund, dich zu verraten! Soll ich?

F: Dafür habe ich dann eine ehrliche Antwort gut ... auf eine Frage meiner Wahl.

L: Thema und Zeitpunkt deiner Wahl. Einschränkung: Deine goldene Frage darf die Sicherheit nicht tangieren.

F: Das kannst du jederzeit behaupten.

L: Würde ich sowas tun?

F: Sag schon!

L: Du machst diesen Job für uns, weil du nicht gehorchen kannst. Weil sich aber jeder Mensch irgendwo einfügen möchte, abgesehen von den veritablen Genies, zu denen du eindeutig nicht zählst, hast du instinktiv in die Maschen unseres Netzes gegriffen, als es vorbeiwehte. Und weil Karl und ich dich kannten, ist dir dabei, sagen wir mal ... nichts zugestoßen.

F: Hm.

L: Zu indiskret?

F: Ich kann damit leben.

L: Hätte mich auch gewundert, wo dir das Dialogische doch so liegt. Übrigens will ich mir das auch ausgebeten haben, denn, schau, ich sitz dir gegenüber ... das ist nicht gerade leicht. Gerade warst du so freundlich, mir den Sabber aus dem Mundwinkel zu wischen ... das Problem mit dem verdammten Knickstrohhalm, der meinen Rollstuhl lenkt ... aus irgendeinem Grund funktionieren die Chip-Implantate direkt ins Hirn bei mir nicht. Also machen wir es uns gemütlich, und du tupfst mir die Spucke vom Kinn. Indiskreter geht es kaum. Außerdem tun mir die Füße weh. Das ist natürlich pure Illusion, die mein Gehirn mir vorgaukelt! Du könntest sie mir vermutlich absägen, die Füße, ohne dass ich irgendwas merke, vorausgesetzt, ich schau gerade nicht hin. Aber Fakt ist nunmal: Mein Gehirn behauptet, die Füße tun weh. Mach da mal was gegen! Gar nichts machst du dagegen!
Was ich sagen will: Ich stehe dir für die Rubrik widerwort zur Verfügung. Aber ich will eine Gegenleistung: Das läuft nicht so, dass du als distanzierter Interviewer mich hier in vivo sezierst, sondern das wird ein Zwiegespräch. Oder gar keins.

F: Du willst mitsezieren? In vivo? Ist das der Deal?

L: Das ist der Deal.

F: Gut - woher kam das Attentat auf dich?

L: Vergiss nicht Siau Chou und Bucholtz, wenn du von Attentaten sprichst. Bucholtz - das war De Kempenaer. Siau Chou - die Täter kennen wir immer noch nicht. Über die Motive kann man endlos spekulieren, aber man kommt nie darum herum, dass in Europa etwas fundamental Neues entsteht, an dem wir maßgeblich beteiligt sind. Das stört Viele. Das störte De Kempenaers Gründeregoismus. Das stört global operierende Wirtschaftsunternehmen, die ihr staatliches Gegenüber gern möglichst schwach hätten. Das stört eine ganze Reihe krimineller Organisationen, denen wir gelegentlich in die Suppe spucken. Das stört die Sorte Friedensfreunde, die glauben, Sicherheit entstünde aus Freude und Eierkuchen - und nicht durch strategisches Handeln. Und es stört Halbmond wie Neuwelt. Da kann es denn durchaus auch einmal mich treffen, als Kärrner, der auf Malta Europas mäßigenden Einfluss im Nahen Osten zu vertreten hatte. Ausgesucht hatte ich mir den Einsatz nicht ...

F: ... das klingt, als hätte Bucholtz dich ins offene Messer laufen lassen.

L: Ich lief ins Museum, aber ... Blödsinn! Entscheidend war, den successor nicht zu beschädigen. Wir wussten zwar nichts von Attentatsplänen, aber wir wussten genau ... die wollen nicht ... also ... CLU und CNM. Den meisten anderen ist es egal oder sogar willkommen. Japan, Indien, Südamerika, Afrika - die beten darum, dass Europa anfängt, laut zu sprechen. Die Chinesen sind naturgemäß und durch Vertrag unsere Verbündeten. Aber der Halbmond und die Neuwelt - die können einfach nicht anders, als dem erstarkenden Europa skeptisch gegenüberzustehen. Europa, so wie wir es wollen, wäre die neue Pax Romana, von der zugleich jeder wüsste, dass dieses Europa sich nirgends einmischt, außer seine vitalen Interessen sind bedroht. Da kann man sich persönlich noch so gut verstehen - nach amerikanischem Verständnis wird eine solche Geschichte ausgeschossen, was Karl natürlich sehr viel diplomatischer formuliert - aber der sitzt auch nicht im Rollstuhl.

F: Hab ich richtig gehört: nach amerikanischem Verständnis? Du sprachst nicht von Alexandria?

L: Naja, die Islamisten verhängen gerne schon mal Fatwas. Gelegentlich hat so ein Rechtsgutachten tödliche Folgen. Das kennen wir geraume Zeit. Und natürlich war einiges von dem, was ich auf Malta zu erledigen hatte, extrem unislamisch.

F: Man schießt also auf euch, um eure Politik zu sabotieren?

L: Seit zweitausend Jahren. Zunächst natürlich nur mit Pfeil und Bogen, später dann ...

F: Wer hat auf dich geschossen?

L: Ich habe sechsunddreißig Stunden totale Amnesie. Ich kann nichtmal sagen, welche Rolle meine Leibwächter gespielt haben. Ich erinnere mich nicht. Man hat mir Fotos gezeigt. Videos. Aber ich verbinde mit den Leuten keinerlei Erinnerung. Das kann in der nächsten Sekunde zurückkommen. Oder nie.

F: Aber auf Malta, das waren Schüsse und nicht, beispielsweise, ein Hirnschlag.

L: Schüsse.

F: Kannst du  was über deine Monate im Koma sagen?

L: Will ich nicht ... außer ... Dank allen, die in dieser Zeit ins Leere gesprochen haben an meinem Bett! Ich hab bestimmt nicht jeden Satz verstanden, aber die Zuwendung konnte ich immer spüren, wenn sie da war.

F: Ihr wirkt neuerdings recht munter. Nicht mehr so verschlossen, wie früher. Du sprudelst geradezu vor  ...

L: Spucke?

F: ... Auskünften. Ist COT inzwischen wieder sicher, nachdem Gerrit Daniel de Kempenaer und Cosgrave tot sind?

L: Soweit ich weiß - ja. Aber natürlich können wir täglich eines Besseren belehrt werden, den nächsten Maulwurf entdecken. Oder es gibt neue Anschläge ... ganz sicher bist du nie ...

F: Wer ist Zett?

L: Der Mann, der im November 2003 meinen umgekippten Rollstuhl wieder gerade setzte. Und mich.

F: Das geht genauer.

L: Ja.

F: Also?

L: Kein Kommentar!

F: Ihr beauftragt mich, dauernd Anspielungen auf Zett zu machen - und wenn ich die Auflösung bringen will - kein Kommentar?

L: Stell deine goldene Frage!

F: Ich denk ja nicht dran! Aber das merke ich mir. Themenwechsel: Was hältst du vom Update des Jahres 2005? Und was kannst du uns über Benizelos Miaulis erzählen?

L: Ich finde das ganz putzig, dass wir den Delegierten der Bruderräte ein solches Unterhaltungsprogramm bieten, während ein beträchtliches Stück Zukunft auf dem Spiel steht. Ich finde es auch putzig, dass Webcams und Satelliten versuchen werden, die Delegierten aus dem Strom der Touristen herauszufiltern. Was den magister archivorum angeht ... der ist absolut kompetent. Trotzdem habe ich einen sachlichen Einwand. Wir kennen den Entwurf für columnae ja beide. Und ich bin gespannt, ob Miaulis nach meiner Kritik was ändert. Was haben wir eben, bevor das Band lief, übereinstimmend gesagt? San Marco und San Teodoro fehlen. Die großen Monolithe. Dass Miaulis drauf verzichtet, diesen Bogen nachzuzeichnen, von der Eckgruppe Salomon vor dessen Tempel zwei Säulen standen, über die zwei Säulen auf der Piazzetta zu den zwei Säulen an der Stirnwand freimaurerischer Zusammenkünfte, wo die Tempelarbeit stattfindet - leuchtet mir nicht ein. Wenn er sich schon auf die Quattuor Coronati und Calendarios Adepten einlässt, bitte, warum dann nicht konsequent?
(Es stellt sich heraus, dass Miaulis von seinem ursprünglichen Konzept abweicht und die von Lank genannte Thematik integriert. Anm. d. Hrsg.)

F: Benizelos Miaulis hat zehn Monate Gelegenheit, Stellung zu nehmen. Was hältst du von der Ukraine?

L: Die Lage ist noch unter Kontrolle. Aber in den Gebieten mit mehrheitlich russischer Bevölkerung brodelt es heftig.

F: Wäre euch der andere Kandidat, der russenfreundlichere, lieber gewesen?

L: Die Ukraine hat jetzt einen demokratisch legitimierten Präsidenten. Ob das, um meine Formulierung von vorhin aufzugreifen, die Lösung mit der kleineren Anzahl Toter ist, bleibt abzuwarten.

F: Trügt mein Eindruck, dass ihr in der Ukraine ziemlich vorgeführt worden seid?

L: Wir sind nunmal nicht allmächtig. Betrachte uns als klassische Großmacht. Groß genug, um niemals unterzugehen und immer mitzumischen. Aber zu klein, um immer zu gewinnen.

F: Der Nahe Osten?

L: Schau TV! Jedes Wort, das einer von uns derzeit öffentlich zu diesem Thema sagt, kann Schaden anrichten.

F: Wir haben heute, fast wahllos, viele Themen gestreift. Interessiert dich das Thema unseres nächsten Treffens?

L: Weiß nicht. Sags mir!

F: Verschwörungstheorien.

L: Ach Gott, die letzte Zuflucht der Kretins!

F: Danke für das Gespräch.

Das zweite widerwort (Köln, 25.02.05)


F: Heute ein architekturhistorischer Beitrag?

L: Suchst du Streit? Als wär es nicht peinlich genug ... meine Bemerkung zu den beiden Säulen auf der Piazzetta und ihrer angeblichen Beziehung zu den zwei Säulen im Versammlungsraum der Freimaurer! Es gibt diese Beziehung nicht. Miaulis hat nichts versäumt, einfach, weil die zwei Säulen von Venedig ursprünglich drei waren. Der dritte Monolith ging beim Ausladen verloren und versackte unrettbar im Schlick. Magister Miaulis war so freundlich, darauf hinzuweisen, ich könne das in jedem Reiseführer nachlesen. So sind sie, die Archivmagister! Schwamm drüber!

F: Unser Thema sind Verschwörungstheorien ...

L: ... nur unter Protest! Karl Popper meint sinngemäß, der verschwörungstheoretische Blick auf die Gesellschaft komme daher, dass man zuerst Gott abschafft und dann jemand sucht, der an seine Stelle tritt. Da ist viel Wahres dran. Das alles ist zumeist sehr breit getretener Quark. Die Mondlandung hat stattgefunden. In Area 51 wurde nie ein Alien seziert. Zum Attentat auf Kennedy darf ich ohnehin nichts sagen. Gewisse Hinweise zum 11. September 2001 soll gefälligst jedermann in der entsprechenden Akte nachlesen ...

F: Merkwürdig ist allerdings schon, dass so viele Verschwörungstheorien an Bauwerke geknüpft sind: Salomons Tempel, Turm von Babel, die Pyramide mit dem Auge, Agrippas Pantheon ...

L: ... Hadrians Pantheon!

F: Wie auch immer. Den Ursprungsbau entwarf Agrippa. Äußert sich da ein Bedürfnis nach Substanz, danach, sich an etwas Solides anzulehnen, sogar bei den überhaupt nicht geheimnisvollen oder verschwörerischen, sondern philanthropisch ausgerichteten Bünden. Warum heißen sie Freimaurer statt Freibauern, Freihändler, Freipriester oder meinethalben Freidenker?

L: Manche Verschwörungstheorie stützt sich auf Bausubstanz. Nicht alle, vor allem nicht die jüngeren aus Zeiten, wo man schon getrost nach Hause tragen konnte, was man schwarz auf weiß besaß ...

F: ... wo also Schriftquellen als Beleg genügten.

L: Es mussten ja gar nicht mal echte Quellen sein. Es brauchte nur geschrieben sein. Den antisemitischen Schmierfinken der russischen Geheimpolizei genügte es, ein einziges widerwärtiges Traktätchen zu fälschen - seither geistert unausrottbar die Mär der angeblichen Protokolle der Weisen von Zion durch die Welt.

F: Fangen wir mit den Illuminaten an!

L: Ganz banal: Weishaupts ingolstädtische Gründung. Später haben sich die Überreste ein historisches Schwänzchen zugelegt, um bedeutsam zu wedeln.

F: Schwänzchen?

L: Naja, die rosenkreuzerische Traditionslinie bis runter zu Christian Rosenkreutz ...

F: ... der unter Calendario an den Portikuskapitellen des Dogenpalastes mitgewirkt hat?

L: Ja. Ein ungewöhnlich begabter Steinmetz. Außerdem leider ein philosophischer Wirrkopf. Er hatte, dank Calendarios Wichtigtuerei, mehr von unserer Existenz aufgeschnappt, als er verdauen konnte und wanderte, aus Venedig ausgewiesen, kreuz und quer durch Europa ... erzählte hier dies, dort das, und was er nicht wusste, ergänzte er durch Ahnung, und wo auch die nicht mehr reichte, erfand er munter hinzu. Und zwar immer dort, wo er gesellschaftlich hingehörte, im Milieu der Bauhütten. Mach dir klar, die Gotik geht gerade erst zuende. Die Steinmetze und Konstrukteure der Kathedralen, die abends beim Umtrunk sitzen, bilden die technologische Elite ihres Zeitalters. Von der politischen Macht sind sie trotzdem völlig abgeschnitten. Die können lesen, schreiben, ausrechnen, wie dick unten ein Stein sein muss, um in hundert Metern Höhe ein Kreuzrippengewölbe zu tragen. Und trotzdem werden sie kujoniert und mit Verachtung behandelt von jedem x-beliebigen adeligen Schläger. Es ist doch zwangsläufig, dass diese gebildeten Handwerker sich ihren eigenen Mythos basteln, der ihre Bedeutung ein bisschen freundlicher widergespiegelt. Da haben sie dann halt schon am Tempel Salomonis mitgebaut und an den Pyramiden.

F: Oder am Pantheon.

L: Das Pantheon lass außen vor! Die Gründer hatten mit den Maurern nie ein Problem. Ebenso wenig die Maurer mit uns.

F: Zurück zu Rosenkreutz. Er stößt eine kollektive Erzählung an, die zunächst versickert. Auch von ihm selbst hört man lange nichts, bevor er, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, Jahrhunderte später wieder auftaucht, als "unser geliebter Vater R.C."

L: In Johann Valentin Andreaes Confessio, der Fama Fraternitatis beziehungsweise General Reformation von 1614. Und dann natürlich in Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz aus 1616. Das war halt Pansophie, Alchimie, der Versuch, in einem bislang ungekannten Wissensumsturz Theologie, Philosophie und die aufkommende moderne Wissenschaft miteinander zu versöhnen, und sei es nur auf symbolischer Ebene. Da haben wir durchaus mitgemischt, unter anderem durch das so genannte Bacon-Manuskript, das wir Kaiser Rudolf II. unterjubelten.

F: Mein Favorit unter den heilig römisch deutschen Kaisern.

L: Deshalb passt du ja so gut zu uns. Aber Scherz beiseite, das ist natürlich alles sehr wirres Zeug, was auch gar nicht ausbleibt, wenn man redet, aber im Kern nichts zu sagen hat. Die innerste Zelle des Tempels ist immer leer, nicht nur in Jerusalem. Andreae jedenfalls hilft sich rotzfrech aus der Patsche, indem er nachlegt: "wirf Perlen nicht den Schweinen vor und streu dem Esel keine Rosen vor die Hufe". Also: Ich hab zwar was zu sagen, aber euch sag ich's nicht, ihr seid's nicht wert.

F: Was eine ziemlich effektive Methode darstellt, das Publikum richtig heiß zu machen. Ich höre oft den Vorwurf, agrippas mund wäre nach dieser Methode gestrickt.

L: Für jemand, der's nicht besser weiß, ist das eine völlig legitime Aussage. Aber war Nota Agrippae in 2004 nicht deutlich genug? Wie auch immer, mach dir keinen Kopf, du hast nichts davon geschrieben ...

F: ... aber ein paar Mal meine bescheidene Interpretation nachgereicht. Ob die sich allerdings mit eurer Intention gedeckt ...

L: ... hat sie nicht, soviel sei verraten. Die Menschen, die agrippas mund anging und -geht, die verstehen ihn. Punkt.

F: Und die Freimaurer?

L: Überwiegend nette, anständige Leute. Honoratioren. Gute Gesellschaft.

F: Die Templer?

L: Hatten mit den Freimaurern nichts zu tun. Schon aus den oben erwähnten Gründen nicht. Fleißige, gebildete Handwerker und adelige Schläger - das passte einfach nicht, sozial, mental, in keiner Hinsicht.

F: Aber die Templer waren eure Gründung?

L: Ja, ohne Bernhard von Clairvaux nahe zu treten. Allerdings erfanden wir, dem Namen nach, nicht Templer, sondern die "Miliz der Armen Ritter Christi" und versorgten sie mit ersten Stiftungen. Die Schenkung Radulf des Dicken ging noch ausdrücklich "an Christus und seine Ritter in der Heiligen Stadt", keine Rede von Templern. Auch die Ordensregel, die 1128 in Troyes verabschiedet wird, spricht noch von den neuen "Rittern Christi". Zwei Jahre später verfasst Bernhard von Clairvaux das Lob der neuen Miliz. Immer noch keine Rede vom Tempel - obwohl König Balduin II. Hugo von Payns und seinen Rittern die Al-Aksa-Moschee längst geschenkt hatte. Dort hatte zuvor Balduin selber gewohnt, der nun in den neuen Königspalast umzog. Der Komplex galt Kreuzfahrern als "Tempel Salomons", weil ja tatsächlich in Zügen der Grundriss des wahren Tempels Salomons dort erhalten war, teils auch des Nachfolgebaus von Herodes dem Großen, jenes Tempels also, der bei der Wiedereroberung Jerusalems durch die Römer zugrunde ging, bis auf die Klagemauer ...

F: ... in einem Krieg, der auf Geheiß der Gründer geführt wurde. Wie die Kreuzzüge.

L: Ja.

F: Was hattet ihr gegen den Tempel Salomons? Gab es bei euch antisemitische Unterströmungen?

L: Quatsch! Vespasian und Titus erwehrten sich eines, in ihren wie unseren Augen überflüssigen Aufstands in der Provinz. Der Tempel allerdings wurde auf Titus' persönlichen Befehl zerstört, zweifellos ein Schandfleck auf seinem Bild. Ansonsten war Rom, waren die Gründer religiös indifferent.

F: Tacitus zum Beispiel, euer zeitgenössischer Großhistoriker, erweist sich in Buch V seiner Historien als übler Antisemit.

L: Auch das gab es.

F: Darf man fragen, wieso es überhaupt Zentrum und Provinz gab? Welches Recht hatte Rom an der jüdischen Provinz, außer dem Recht des Stärkeren? Befürwortet ihr heute noch kritiklos den römischen Imperialismus?

L: Oh Gott ... so eine Frage kann nur in Deutschland gestellt werden!

F: Dann gib eine kosmopolitische Antwort!

L: Ja ... nein ... ich meine natürlich, nicht kritiklos, aber doch, wir befürworten die Idee des Orbis nach wie vor, obwohl wir sie heutzutage nicht mehr kriegerisch umsetzen.

F: Doch Roms Imperialismus war grundsätzlich berechtigt? All die Toten ... all die Sklaven ...?

L: Die Frage ist mir zu blöd.

F: Oder ist dir die Antwort zu unbequem?

L: Du misst das erste Jahrhundert mit Maßstäben des einundzwanzigsten. Das führt zu nichts. Du kannst ... ein Vergleich ... du kannst natürlich sagen: Wir haben heute modernste Observatorien - gemessen daran war Stonehenge ein primitiver, vermutlich in Sklavenarbeit errichteter Steinhaufen. Doch ohne den Steinhaufen gäbe es unser modernes Observatorium nicht. Er war die unvermeidliche Entwicklungsstufe.
Heute sind ein friedliches Europa, Frieden in Russland, im Nahen Osten, rund um das Mittelmeer unsere Ziele. Rom war die unvermeidliche Entwicklungsstufe. Wir hielten es damals für den besten, den heiligsten Besitz der westlichen Menschheit. Jedenfalls glaubten wir, das jüdische Volk müsse sich dem unterordnen und seinen Freiheitsdrang opfern. Wir wurden durch den Aufstand kalt erwischt, glaubten uns im Recht, waren im Vollbesitz der Macht und handelten. Heute würden wir nicht mehr so handeln.
Um deine Frage nach dem Antisemitismus abschließend zu beantworten: Die Gründer hatten ungezählte jüdische legaten, dutzende Juden als Mitglieder der Dreiunddreißig und immerhin vier principes. Unser letzter jüdischer princeps war Abraham Sander, 1861 bis 1872. Reicht das?

F: Warum so gereizt?

L: Ich habe mich auf einer Konferenz über die Sicherheit Israels zum Krüppel schießen lassen - da nerven deine antisemitischen Unterstellungen ein bisschen. Womit haben wir es denn verdient, dass du uns mit diesem ultimativen Totschlagargument kommst?

F: Ihr seid die Geschichte Europas. Warum habt ihr das antisemitische Gift ungehindert wirken lassen durch die Jahrhunderte?

L: Ungehindert ja? Das weißt du positiv? Gar nichts weißt du über den zähen Kampf gegen Bosheit und Dummheit, den wir geführt und verloren haben. Wir sind weder allmächtig noch die besseren Menschen. Bei uns gab es, wie überall sonst, Idioten, unfähiges Pack und Verbrecher. Wir haben auch die Verbrechen der katholischen Inquisition nicht verhindert. Wir haben auch die Mordorgien in den Kolonien nicht verhindert. Wir haben auch den Verkauf unzähliger schwarzer Sklaven nach den beiden Amerika nicht verhindert. Jetzt kommt sicher gleich das zweite Totschlagargument: Richard Lank relativiert den Holocaust ...

F: Ich hab nichts gesagt.

L: Natürlich mißbrauchen Neonazis den Vergleich der Verbrechen, um das Verbrechen Nazideutschlands klein zu lügen, indem sie es in vermeintlich passende Kontexte stellen. Und dann so Dummschwätzer wie der Kölner Kardinal ... Holocaust und Abtreibung ... aber die rituelle Empörung unterschlägt, dass der Vergleich auch eine Methode sein kann, sich dem Unfaßbaren zu nähern. Fang doch mal an, ernsthaft zu vergleichen! Setze dich dem doch einmal aus! So kommst du rasch an den Punkt,  wo du die Einzigartigkeit der Schoah nicht länger verkrampft zu behaupten brauchst, weil du sie nämlich nachweisen kannst. Und wenn du diesen Punkt erstmal erreicht hast, fault dir auch eher die Zunge im Maul, bevor du noch einmal irgendeinen simplen, dir unsympathischen Zeitgenossen in die Reihe dieser Täter stellst. Frau Exministerin Däubler-Gmelin: Bush ist nicht Hitler! Kölner Eminenz und Heiliger Vater: Eine Frau, die darüber bestimmt, was in ihrem Bauch wächst oder nicht, ist nicht Eichmann. Cavaliere Silvio Berlusconi: Ihre Kritiker sind keine KZ-Kapos. Sogar Prinz Harry ist einfach nur ein dummer Junge mit extrem geschmacklosem Humor, aber nicht: "Harry the Nazi."

F: Wie oft wurden die Juden aus eurer Stadt Venedig vertrieben?

L: Ich weiß es nicht, editor. Ich muss das nachlesen. Du unterschlägst, dass wir nur ein ziemlich kleines Bröckchen Hefe in einem ziemlich großen Trog voll Mehl sind.

F: Widmen wir unser nächstes Gespräch Nazideutschland?

L: Meinetwegen.

F: Dann für heute zurück zu den Templern! In ihrer Anfangszeit, 1120 bis zum Konzil von Troyes 1129 - damals schrieben die Menschen alten Kalenders noch das Jahr 1128, was die Überlieferung ziemlich verwirrt hat - sollen sie zu neunt neun Jahre lang unter dem Tempel Salomons gegraben haben, nach was auch immer. Hattet ihr sie zu diesem Zweck, wie du sagst, "erfunden".

L: Nein. Neun Jahre stimmt. Neun Ritter stimmt auch. Doch bei der vermeintlichen Schatzsuche handelte es sich um schlichte Umbaumaßnahmen. Du erwähntest Tacitus. Er spricht von einem Tempel unermesslichen Reichtums, aber das war alles längst geplündert, schon in römischer Zeit, wie du den Reliefs am Titusbogen entnehmen kannst. Tatsächlich arbeiteten die Ritter bloß die Felsenkeller zu "Stallungen Salomons" um, und der Königspalast obendrüber wurde den Bedürfnissen eines Ordens angepasst. Die Ritter meißelten und mauerten, in aller Demut, mit eigener Hand, wenn sie nicht gerade christlichen Pilgergruppen Geleit gaben. 1119 war es zwischen Jordan und Jerusalem zu jenem Massaker an Pilgern gekommen, das der Chronist Albert von Aachen festhält. Die Hospitaliter bzw. Johanniter, also die späteren Malteserritter, waren aufgrund ihres Krankenhausbetriebs personell überfordert, die Pilger auch noch auf den Landstraßen zu beschützen. Es mussten also neue Kräfte her. Wehrhafte Leute, also Ritter. Andererseits durften es nicht die üblichen Raubritter sein, die wir mittels der Kreuzzüge ins Heilige Land lockten, mit der Hoffnung, dort eine eigene Baronie zu erringen und ihr Glück zu machen ...

F: Geht das genauer?

L: Die Kreuzzüge fanden aus vielen Gründen statt. Viele Teilnehmer nahmen in ehrlicher religiöser Inbrunst teil. Wir, die Gründer, betrachteten die Sache zunächst strategisch. Seit einem halben Jahrtausend litten wir unter dem Zweifrontenkrieg, den der Islam uns aufzwang ... ach editor, in diesen Stunden, während wir dies Gespräch führen, ringt nach seiner Operation der Papst mit dem Tode, ein Papst, der sich für die Kreuzzüge entschuldigt hat. Ich respektiere den Mann, gerade ich in meiner desolaten körperlichen Verfassung. Er war und ist sehr tapfer. Aber besagte Entschuldigung war Schwachsinn, Auswuchs christlicher Schuldhuberei. Bitte berücksichtige das: Unser Orbis, die römisch-christliche Welt hat nicht den Islam angegriffen - nein, der Islam griff uns an. Wir wehrten uns. Nun gab es für uns eine Verschnaufpause, sowohl in Spanien, wie auch im Vorderen Orient. Was lag da näher, als die Verschnaufpause zum Gegenangriff zu benutzen: die Kreuzzüge ...

F: ... was islamische Historiker sicher ganz anders sehen.

L: Kommt drauf an. Unter ihnen gibt es viele kluge Fachleute, die ausgewogen urteilen. Aber es gibt natürlich schon auch noch dies bequeme Weltbild, nach dem der Angriff des Islam Gottes Werk ist und der Widerstand der Opfer Teufelswerk. Und weh und ach erst, wenn die ursprünglich angegriffene christliche Welt dem Islam einen Teil seines Raubs wieder abjagt! Spanien! Den Nahen Osten! Das traumatisiert den Islam ...

F: ... die Templer!

L: Ja, bleiben wir beim Thema. Dritter Grund für die Kreuzzüge war, dass wir mit Europas Raubritterunwesen aufräumen wollten. Wir wollten den Abschaum der Strauchdiebe von Europas Straßen weglocken und auf ein sinnvolles Ziel lenken. Nur, für die humanitäre Mission auf den Straßen Palästinas kam dieses Gelump natürlich nicht infrage. Die Hospitaliter andererseits waren bereits überlastet. Also nutzten wir die Gelegenheit, einen zweiten mönchischen Ritterorden im Heiligen Land zu gründen. Er machte seine Sache gut. Diese und viele andere Sachen.

F: Wieso "Templer" und "Schatz"?

L: Ist das nicht offensichtlich? Der Tempel Salomons - ist das nicht eine tief im Mythischen verwurzelte Traditionslinie? Die Templer fanden sie bald unwiderstehlich und strickten selber an ihrem Mythos.
Was macht mehr her? Wir hauen Pferdeboxen aus dem Fels - oder: Wir schürfen nach vergrabenen Schätzen?
Was macht mehr her? Wir wohnen in der ehemaligen Al-Aksa-Moschee, einem Gotteshaus unserer Feinde, das wir geschändet und zweckentfremdet haben - oder: Wir wohnen im ehemaligen Tempel Salomons?
Was denkst du, womit wirbst du mehr neue Mitglieder und Spenden? Das brauchte nichtmal explizit behauptet zu werden. Es genügte schon, dass in späteren Jahrhunderten jede Komturei des Ordens, die was auf sich hielt, landauf landab "Tempel" genannt wurde. Inzwischen hatten sich die Templer zu mächtigen Bankiers entwickelt - nicht ohne unser Zutun. Die Assoziation von Tempel bis Tempelschatz ist nun wirklich nicht schwer nachzuvollziehen. Und schwups sind wir bei den Phantastereien über die Bundeslade, beim Heiligen Gral, beim Siebenarmigen Leuchter oder wo immer du willst ... Selbstbedienungsladen der Traditionen, darum geht es doch! Es geht um die Okkupation von Traditionslinien, darum, wer Herr ist über den geschichtlichen Diskurs. Bleiben wir einfach mal beim so genannten Gral. Es gab das apokryphe Nikodemusevangelium, in dem von einem Gefäß mit dem Blut Christi die Rede ist. Dann gab es den keltischen Sagenkreis um Artus und die Tafelrunde. Und dann gab es 1185 plötzlich den Perceval des Chrétien von Troyes, der Rittertum und Gral erzählerisch verwebt. Warum? Warum war die Zeit reif, gerade jetzt?
Ganz einfach! Der Feudalismus war noch immer nicht stabil. In der Oberschicht vegetierten, neben Klerus und landbesitzendem Adel viele, viele Tausend Männer ohne Land aber mit Waffen. Zum Kämpfen ausgebildet. Leer ausgegangen bei der Erbschaft. Ohne Lehnsherrn. Zur Arbeit zu faul. Raubritter. Wenn nun diese Streuner ein Nachtquartier gefunden hatten und ihren Fußlappen am Kaminfeuer trockneten ... wenn sie verzweifelt überlegten, was sie dem bodenständigen Gastgeber erzählen sollten aus der großen, weiten Welt - als Dankeschön fürs Abendessen ... was haben sie da erzählt? Gestern erschlug ich einen wehrlosen Bauern, weil sein frisch gebackener Brotlaib so wohl duftete? Vorgestern stach ich einen Kesselflicker ab, im Hohlweg vor der letzten Burg?
Nein. Sie schwadronierten vom heiligen Gral und ihrer hingebungsvollen, opfermutigen Suche. Und manch billiger Schläger wird sich dabei selber geglaubt und sich den Templern, der Blüte seines ritterlichen Standes, eng verwandt gefühlt haben.
Der Gral, dass ich nicht lache! Sicher - das Motiv kam aus der Hochkultur und ging später wieder in die Hochkultur ein. Teils in unendlich sublimer Verfeinerung. Dazwischen aber durchlief es die Mühlen des Raubritter-Pop, sonst wäre es heute nicht so allgegenwärtig.
Ähnlich das Minnelied. Stell dir den armen Teufel vor, den die Familie gerade auf die Straße jagt. Ins Kloster will er nicht. Aber der ältere Bruder kriegt nunmal das ganze Land. Für unseren armen Teufel bleiben, wenn's hochkommt, ein Schwert und ein Pferd. Eine Frau seines Standes kann er vermutlich nie heiraten. Adlige Frauen lungern nämlich nicht auf der Straße herum, sondern werden ins Kloster gesteckt, wenn sie nicht verheiratet oder von der Familie versorgt werden. Was macht der arme Teufel also? Er zieht herum, zupft am Schweinedarm und besingt von fern die angebetete Schöne.

F: Aber das Minnelied war doch nicht nur bewaffnete Bänkelsängerei. Es war Teil der höfischen Kultur.

L: Später. Davor lag eine Entwicklung. Irgendein älterer Bruder sitzt auf seinem Hof und frisst sich ein Wänstlein ... dann kommt dieser starke, wilde Kerl aus dem Busch und sülzt seine Frau an, die Schwester oder Tochter ... das finden die Frauen natürlich klasse. Der Hofherr weniger. Schlimmer noch, lass den Hofherrn abberufen werden zum Dienst bei seinem Lehnsherrn. Monate, Jahre gehen ins Land. Die Frauen allein zuhaus. Dann kommt er heim und muss sich anhören: Ach du, früher hast du immer nur von der Ernte geschwätzt und jetzt vom Wachestehn bei deinem blöden Herzog. Aber dieser ritterliche Sänger, Ottokar von Wasweißich, der hat inzwischen mit Drachen gekämpft, mit Riesen und fast einmal den heiligen Gral entdeckt ... und trotzdem singt er Lieder, ganz allein für mich ...
Ist doch klar, dass die etablierten Herren das Minnelied zähmten und in den Alltag ihrer Höfe integrierten.

F: Vom Minnelied zu Jesu Christi Liebschaft! Hatte er was mit Maria Magdalena?

L: Keine Ahnung. Hat uns nie interessiert.

F: Aber die Prieuré de Sion?

L: Bleibt mir denn gar nichts erspart? Jetzt auch noch Plantards Fälschung von 1954!

F: Unmöglich?

L: Was heißt unmöglich? Wir wissen, dass es gefälscht ist. Möglich gewesen ... bitte, möglich ist viel.
Gut, stellen wir uns vor, Jesus hätte mit Maria Magdalena Kinder gehabt. Nach der Kreuzigung flieht Maria Magdalena nach Gallien. Unmöglich ist das nicht, da gab es durchaus jüdische Gemeinden, besonders in Marseille.
Also weiter: Können die Nachkommen einer solchen Verbindung ins fränkische Königshaus der Merowinger eingeheiratet haben? Warum nicht? Der Adelsdünkel jener Zeit war erst sehr milde ausgeprägt. Freie und Adlige schlossen durchaus noch Ehen - anders als beispielsweise in der Zeit des Minnelieds, etliche hundert Jahre später. Unterstellen wir also eine solche Verbindung. Aber dann dürfen wir ja wohl auch untersuchen, welche Gene dieser Weltenretter und ach so menschliche Gottessohn mit denen Maria Magdalenas gemischt und weitergegeben hat, sodass sie schließlich in den merowingischen Genpool eingespeist wurden: Da wimmelte es von Eltern-, Geschwister- und Gattenmord. Es gab scheußlichste Verbrechen und zum Schluss eine Sippschaft von Irren, mit der ihre karolingischen Hausmeier kurzen Prozess machten. Das waren die Merowinger. Das soll Blut vom Blute Jesu Christi gewesen sein? Na, wem's gefällt, solche Geschichten in die Welt zu setzen, der wird schon seine Absichten damit verbinden!
Aber weiter: Selbstverständlich war der Kreuzfahrer Gottfried von Bouillon über tausend Ecken mit den Merowingern verwandt. Jeder ist mit jeder verwandt, wir sind ein einziges Geschlecht von Menschen. Überall Brüder und Schwestern - nur, dass wir uns nicht dementsprechend verhalten. Konzedieren wir folglich auch Gottfrieds Abstammung von den Merowingern. Er stürmt Jerusalem, gründet oder transferiert diese Prieuré de Sion - die bitte was genau machen? So eine Gruppe muss doch zu irgendwas gut sein. Aha, sie bewachen den Gral. Bitte wozu? Tolle Geschichte! Eine Schnapsidee stützt sich torkelnd auf die nächste ...
Weißt du, dass wir es mit einer Fälschung zu tun haben, ist ja völlig unstrittig. Was mich ärgert, ist die Dummheit dieser Fälschung. Sie ist beleidigend dumm. Sie beleidigt ihr Publikum ...

F: Aber Dan ...

L: ... sprich nicht den Namen dieses Mannes aus, der das templerische Tatzenkreuz mit dem Johanniterkreuz verwechselt, obwohl seine Frau als Kunsthistorikerin es besser weiß. Sprich ihn nicht aus ...

F: ... Brown hat damit Riesenerfolg.

L: Zeiten des Umbruchs sind Zeiten wilder Spekulation.

F: Wir erleben also Zeiten des Umbruchs. Das lassen wir heute als Schlusswort stehen - es sei denn, du möchtest noch was über den Untergang der Templer nachtragen.

L: Steht alles in der Akte Templer.

F: Dann bedanke ich mich für das Gespräch.


Das dritte widerwort (Köln, 27.03.05)


F: Wo wart ihr von 33 bis 45?

L: Drinnen im Widerstand. Draußen aufseiten der Alliierten gegen Hitler, Mussolini und Japan, teils in Allianz mit -, teils gegen Stalin. Wir ebneten Churchill und Tito den Weg. Wir hinderten das faschistische Spanien am Kriegseintritt. Wir stellten De Gaulle und den Exilregierungen unsere Strukturen zur Verfügung. Wir haben spioniert, finanziert, organisiert, was immer ging. Wir leisteten der polnischen Widerstandsarmee, der Résistance, der Resistenza, den Holländern, Norwegern, Dänen und Tschechen logistische Hilfe. Wir haben ein paar Leben gerettet. Unsere Bilanz ist: zu wenig, zu spät. Der Rest stand unter einem Unglücksstern, bis zu jenem Grad, dass Stalin uns den Angriff Hitlers auf die Sowjetunion nicht einmal dann glaubte, als der längst rollte.

F: Richard Sorge?

L: Auch Richard Sorge. Aber nichtmal, als Schukow persönlich ihm Meldung machte, hat er's geglaubt. Stalin war ein durch und durch rationales Monstrum. Er hat von sich selber auf Hitler geschlossen und konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Hitler den Zweifrontenkrieg riskierte.

F: Waren die Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg so enorm, dass eure Mittel gegen die Entstehung faschistischer und kommunistischer Diktaturen versagten?

L: Schlimmer: Von 1925 bis 1927 glaubte eine Fraktion der Gründer, man könnte in Italien mit Mussolini paktieren. Sicher hing das auch mit unserer prekären Lage in Venedig zusammen, aus der wir uns mühsam herauswinden mussten. Unverzeihlich war es trotzdem. Gelöst wurde das Problem mit Gift, politisch war es nicht zu lösen.
Du fragst nach Umbrüchen? Damals ging mit Demokratie nicht zwangsläufig Wohlstand einher, nicht einmal in Amerika. Für die allermeisten Menschen, die wählten, galt Brechts Satz, dass vor der Moral das Fressen kommt. Außerdem waren weite Bevölkerungsteile der Krieg führenden Mächte des Ersten Weltkriegs ... heute würde man sagen: traumatisiert. Als Überlebende der Schützengräben, als Schwerversehrte, als Hinterbliebene, Geplünderte, Vergewaltigte. Heute weiß man, dass solche Menschen sich schwer tun, im demokratischen Prozess mitzuwirken. Die etablierten westlichen Demokratien wurden mit dem Phänomen fertig. Deutschland, im Umbruch vom Kaiserreich zur Republik, nicht. Russland, nach Untergang des Zarentums, ebenso wenig.
Wir Gründer haben uns auf grässliche Weise verkalkuliert. Wir hatten ja durchaus Erfahrung mit Massenbewegungen. Völkerwanderung. Das Verhalten der Menschen in Pestzeiten oder Hungersnöten. Antisemitische Pogrome. Savonarola in Florenz. Nicht ausbezahlte Soldateska nach dem Dreißigjährigen Krieg. Der Terror der Französischen Revolution. Wir wussten durchaus, dass Massen außer Kontrolle sehr gefährlich werden können. Aber wir haben auf das demokratische Regelwerk gesetzt und auf die aufklärende Wirkung neuer Massenmedien. Leider enttäuschten uns die Demokraten und zeigten sich der Bedrohung erst im allerletzten Moment gewachsen. Und wir lernten, dass Massenmedien immer dem mit der klarsten Botschaft nutzen. Nicht dem Klügsten, dem Differenzierenden, dem Fairen - nein, so wie Clinton das für den letzten amerikanischen Wahlkampf formuliert hat: "wrong but strong". Der Eindeutige, scharf Profilierte gewinnt, egal, welchen Mist er erzählt.
Kurzum, 1923 beim Hitlerputsch in München ging es im letzten Augenblick noch einmal gut. Die Ordopraefectur plante, Hitler in der Landsberger Festungshaft zu liquidieren. Man mag es heute kaum aussprechen, aber die Dreiunddreißig verschoben die Operation wegen mangelnder Priorität. Dann schwenkte Hitler auf die Legalitätstaktik um. Wir schliefen. Und plötzlich war alles zu spät. Politisch konnten wir in Deutschland nichts mehr bewegen. Wir konnten nur noch Schwarze Hände schicken. Was meinst du, wer von den Attentätern hätte am besten zu uns gepasst?

F: Der Tischler. Georg Elser.

L: Ja. Nur - leider war dieser bewundernswerte, einsame Mann keiner von uns. Seine unglaubliche Tapferkeit! Absolut allein ... und dann hört Hitler im Bürgerbräukeller wenige Minuten vor Explosion der Bombe auf zu schwafeln. Da möchte man bei irgendeiner Religion um Erleuchtung flehen ... Hitlers unheimliches Glück. Wirklich unheimlich. Übrigens mehr Glück, als das populärwissenschaftliche Fernsehen uns dieser Tage erzählt. Er hat ja ein weiteres Attentat überlebt, Anfang 44 am Teehaus des Berghofs. Da war der Obersalzberg schon mit Tarnnetzen überspannt und die SS betrieb Nebelmaschinen, weil Tag und Nacht angloamerikanische Bomber drüber weg flogen - ohne einen einzigen nennenswerten Angriff. Wie unser Mann dort scheiterte, was er vielleicht noch gesagt hat, warum Hitler offenbar nicht einmal seinem engsten Gefolge je von der gefährlichen Begegnung erzählte - nichts davon wissen wir. Allerdings muss der Angriff unserer Schwarzen Hand Hitler Furcht eingeflößt haben. Der Gröfaz hielt den Berghof fortan nicht mehr für sicher. Seit er nach dem Scheitern der Ardennenoffensive Januar 45 ins ungeliebte Berlin zurückgeflogen war, gab es ja reichlich Versuche, ihn zur Flucht in die ziemlich starke Alpenfestung zu überreden. Aber nein - Hitler misstraute dem Berghof. Unser fehlgeschlagenes Attentat war der Grund, weshalb Hitler, entgegen früheren Absichten, zur Inszenierung seines Untergangs eben nicht in die Alpen flog, sondern in Berlin blieb. Als Kulisse für seine Höllenfahrt hätte der Theatraliker des Grauens ganz entschieden die mythische alpine Bergwelt bevorzugt, statt in der muffigen Betonschachtel zu krepieren. Aber er hat sich nicht mehr hingetraut.

F: Ihr habt ihm den Abgang vermasselt.

L: Stolz drauf sind wir nicht ... die Nebenwirkung war zu tragisch: Sicher wäre Berlin auch ohne Hitler irgendwann gefallen. Doch weil er unbedingt in Berlin sterben wollte, durchlitt Berlin diese schreckliche Agonie der Verteidigung bis an die Mauern des Reichstags. Sag was du willst, aber am zwölfjährigen Reich haftet noch bis in die letzte schmutzige Verästelung seiner Geschichte ein Gestank von absurdem Verhängnis.

F: Wie findest du Eichingers Untergang?

L: Der Film ärgert mich. Nicht weil Hitler hier als Mensch gezeigt wird. Natürlich war er Mensch. Das ist ja gerade die Herausforderung, der sich der bequeme Antifaschismus in Demokratien nicht stellt, wenn er brav aufsagt: "wir sind die Menschen - die Nazis waren die Unmenschen." Es ist Blödsinn zu hoffen, damit wäre das Phänomen geistig entsorgt. Ein Stückchen Hitler steckt in jedem Menschen und wächst umso ungehinderter, je hartnäckiger es geleugnet wird. Was mich am Film stört, ist die Darstellung des Todes. Eichinger zeigt jedes Opfer in der würdevollen Würdelosigkeit seiner jeweiligen Todesart - sogar Goebbels. Nur über den Haupttäter breitet er eine Wolldecke, als verdiente ausgerechnet der im Tod besondere Schonung. Okay, vielleicht wurde Hitler in einer Wolldecke aus dem Bunker getragen. Das ist dann historisch und soll auch so gezeigt werden. Aber warum folgt die Kamera nicht dem ersten Blick in das Zimmer, wo Adolf und Eva Hitler sich umgebracht haben? Wozu diese Schonung?  Nun ist Eichinger natürlich ein anständiger Mensch und nichts liegt ihm ferner, als ausgerechnet Hitler im Tod zu schonen. Nur - warum macht er es dann? Ist das künstlerisches Versagen oder künstlerische Absicht? Soll ausgedrückt werden: Die Opfer sind tot, bleiben aber sichtbar und aufgehoben in unserem Gedächtnis - Hitler jedoch nicht? Oder: Vorsicht Leute, der ist zwar tot, aber wir zeigen ihn nicht tot, weil sein Ungeist munter weiter wirkt? Keine Ahnung. Mir ist das zu kompliziert. Ich hätte das Schwein gern tot gesehen.

F: Der 20. Juli 1944?

L: Nicht unser Werk, obwohl Oster und Canaris uns auf dem Laufenden hielten.

F: Der Kreisauer Kreis?

L: Ach, sympathischer ist mir der organisierte Widerstand von links, obwohl der natürlich ineffektiv war. Noch sympathischer sind mir so individuelle Widerstände wie die der Gruppe Scholl. Aber Bürgertum und Militär ... selbst wenn wir vergessen, was die späteren Widerständler an der Ostfront für einen dreckigen Krieg geführt haben, als sie noch glaubten, er wäre zu gewinnen ... dem allen haftet ... ich will mal mit Henning von Tresckow anfangen, dem Kopf der Widerstandsbewegung. Der hat ungefähr gesagt, "der sittliche Wert eines Menschen fängt da an, wo er bereit ist, für seine Überzeugung zu sterben" ...

F: ... ich würde den sittlichen Wert eines Menschen deutlich früher ansetzen, zum Beispiel in dem Moment, wo einer merkt, "in der Wohnung nebenan wird jemand versteckt", aber die Klappe hält, anstatt zur Gestapo zu rennen. Als jedoch Generalmajor Tresckow vom Scheitern des Attentats erfährt, geht er ins Niemandsland zwischen den Fronten, gibt zwei Pistolenschüsse ab und zündet eine Handgranate, damit er nichts verraten kann, wenn die Gestapo kommt, um ihn zu foltern.

L: Natürlich. Die Widerständler waren ausnahmslos bereit zu sterben. Mehr als 5000 wurden vom Regime ermordet. Von Rommel, der auf Befehl Selbstmord begeht, um seine Familie zu retten, bis zu den Familienangehörigen weniger prominenter Widerständler, die vielleicht gar nicht explizit bereit waren, vielleicht das Risiko nicht einmal kannten. Aber das ist nicht mein Punkt. Wie soll man das bloß aussprechen ohne falschen Tonfall? Vielleicht haben wir ja gar kein Recht, solche Sätze zu sprechen, wir haben nie in einer totalitären Diktatur gelebt. Trotzdem will mir einfach nicht in den Kopf, wie lange und ausgiebig beispielsweise im Kreisauer Kreis über die Nachkriegsordnung für Deutschland und Europa diskutiert wird, als stünden solche Vorstellungen überhaupt noch zur Debatte! Und sogar Stauffenberg! Natürlich ist der Mann ein Held! Wer sind wir, über solche Leute zu urteilen!? Aber nun kommt er mit seiner Aktentasche voll Sprengstoff auf die Wolfsschanze - und wieder geht was schief, denn die Lagebesprechung findet nicht im Bunker statt, sondern in einer Baracke. Es ging ja immer was schief: Die Bombe, die Tresckow und Schlabrendorff im Laderaum von Hitlers Flugzeug platziert haben, zündet nicht. Gersdorff hat den Zeitzünder seiner Bombe schon aktiviert - da bricht Hitler die Führung im Zeughaus vorzeitig ab. Und so weiter, und so fort. Und jetzt geht auch wieder was schief: Baracke statt Bunker. Will sagen: In der Baracke wirkt Stauffenbergs Sprengsatz weitaus schwächer. Das weiß Stauffenberg natürlich. Trotzdem aktiviert er nur einen von zwei Sprengsätzen, die ihm zur Verfügung stehen. Trotzdem lässt er nur seine Aktentasche im Besprechungsraum, anstatt selber dazubleiben, damit sie möglichst dicht bei Hitler explodiert. Stauffenberg ist als Stabschef des Ersatzheers unverzichtbar beim Staatsstreich in Berlin. Also pokert er mit dem Teufel - und verspielt die Chance. Hoffen wir, dass wir nie in Sekunden Entscheidungen treffen müssen, die über Jahrhunderte bestimmen! Ich verbinde mit meiner Überlegung auch nicht die geringste Kritik. Aber Fakt bleibt doch: Wäre Stauffenberg im Raum geblieben, dann wäre seine Aktentasche eben nicht unter den Tisch hinter den mächtigen Holzfuß geraten, nein, dann hätte man Hitler wenig später von der Wand gekratzt. Stauffenberg ist eine tragische Figur.
Es ist dieser fatale Drang der Eliten, den zweiten Schritt vor dem ersten tun zu wollen ... und wenn ich damit dann die Einsamkeit und Konsequenz eines Georg Elser vergleiche, der, noch vor Kriegsbeginn,  ohne Kameraden, ohne Offiziersprivilegien, ohne Herrschaftswissen und unterstützendes Netzwerk, ganz allein mit seinem Gewissen entscheidet "das muss getan werden" ... ja, dann finde ich, dass die Bundesrepublik Deutschland ihr Gedenken ungerecht verteilt.

F: Deutschlands Ehrenrettung ...

L: ... ein Scheißdreck! Für die zwölf Jahre gibt es nichts zu retten! Für Deutschland so wenig, wie für die Gründer. Da ist die Ehre heillos durch den Gulli. Da geht es nur um den Nachweis: Es gab auch noch die Gegenkraft, wie schwach und jämmerlich auch immer.

F: Ihr habt den Antisemitismus unterschätzt, nachdem ihr ihn zweitausend Jahre lang beobachten konntet?

L: Ja.

F: Bleiben wir beim Begriff "Antisemitismus", obwohl die Wortschöpfung Wilhelm Marrs aus 1879 stammt und irreführend ist? Denn es geht ja speziell um Feindschaft gegen Juden - nicht allgemein gegen semitische Völker.

L: Ich möchte dabei bleiben. Das Unwort hat einen Bedeutungswandel durchgemacht und meint heute genau das, wovon wir sprechen.

F: Wohin der Antisemitismus führt, das wissen wir. Sag mir, woher er kommt!

L: Auf Deutsch ist das gefährlich. Du musst den antisemitischen Wahn in irgendeiner Form wiedergeben, ihn zitieren, ihn darstellen. Sobald du das tust, kommt in Deutschland zuverlässig ein schnellfertiger Gutmensch daher und hält das, was du darstellst, für das, was du selber meinst. Es gibt in Deutschland eine lange, ungute, teils auch bösartige Tradition der Verdrehung von Rollenprosa in Meinungsäußerung. Eine heillos verdorbene Diskussionskultur. Vielleicht gehört ja diese Sprach- und Denkverwirrung zu den Strafen, die Deutschland auferlegt sind als Sühne für die Schoah.

F: Eine Strafe, die wir an uns selber vollziehen.

L: Am Anfang betete ein kleines, stolzes Volk zu seinem Gott, seinem einzigen Gott, während alle Nachbarn viele Götter ehrten. Der Gott der Juden war unsichtbar, und deshalb all jenen ein Gräuel, die vor Bildern knieten. Das kleine, stolze Volk war außerdem noch tapfer und ließ sich nicht unterkriegen, so sehr es von Ägyptern und Babyloniern drangsaliert wurde. So macht man sich nicht beliebt. Goliath hasst es, wenn David sich wehrt. Im Exil hatten die Juden, um als Gemeinschaft zu überleben, ein umfassendes Gesetzeswerk entwickelt, das fast jeden Aspekt des Alltags regelte. Gesetze und Bücher mit Vorschriften, Geschichten über ihre Ahnen und ihren Gott. Die Strenge ihrer Regeln ging den Nachbarn auf die Nerven - obwohl die Juden nie einem Nachbarn Regeln aufzwangen. Die Juden glaubten, dachten und lebten nur halt fundamental anders, ganz für sich allein. Und das genügte zunächst. Du musst niemand zwingen, du brauchst keinen Vorwurf erheben, nein, es genügt, dass du anders bist, nicht so wie alle anderen - und die anderen verabscheuen dich. Sie nehmen dir übel, dass du nicht werden willst wie sie. Hass auf die stark ausgeprägte jüdische Identität - das war der Anfang des Antisemitismus.
Hinzu kam Furcht vor der Überzeugungskraft des Judentums. In Alexandria beispielsweise gab es so viele Übertritte von Nichtjuden zum Judentum, dass Griechen und Ägypter um ihre Vormachtstellung fürchteten.
Hinzu kam der Erfolg, der Neider schafft, denn die Juden waren tüchtige Kaufleute. Ägypter, Menschen vom Zweistromland, Syrer, vor allem jedoch die Griechen konnten ein Lied davon singen. Besonders Letztere sollten sich für die Juden als rufschädigend erweisen. Denn die Griechen als tragende Kraft des hellenistischen Systems aus Diadochenstaaten, das nach Alexander dem Großen übrig geblieben war, hatten die kulturelle Hegemonie im Mittelmeerraum inne. Die jüdische Identität bediente sich einer Sprache, die Hunderttausende sprachen. Die griechische üble Nachrede jedoch wurde von vielen Millionen verstanden. Und du weißt ja: Wenn dir ein Geschäft misslingt, dann war nicht einfach der Konkurrent gescheiter ... nein, viel besser kommt es, wenn du von dem üblen Zauber schwadronierst, den er am Sabbat gegen dich getrieben hat mit seinem unsichtbaren Gott, der gierig Schätze rafft im Tempel. Der Sabbat übrigens, der freie Tag pro Woche, regte die antiken Antisemiten furchtbar auf. Das war ein Thema für sie, fast so interessant wie die Frage, ob die Juden von Aussätzigen abstammten oder dem Schwein göttliche Ehren erwiesen.
Dann kam Rom, kultureller Erbe Griechenlands. Hatte Rom was gegen Juden? Nein. Es betete zwar griechische Vorurteile nach, das vielleicht. Es gibt einen Erlass von Kaiser Claudius, der den Juden verbietet, sich weiter um Privilegien zu bemühen, das wohl. Aber die Juden zahlten Steuern, die Juden ernährten die römische Garnison, die Juden stellten für Rom kein Problem dar - und in solchen Fällen war Rom großzügig: Die Kaiser ließen im Namen des Senates und des Volks von Rom dem Gott der Juden sogar Opfer darbringen. Ein Gott mehr oder weniger - das machte Rom nichts aus. Deshalb war Rom auch ziemlich desinteressiert, als sich die Juden über Jesus Christus aufregten. Wer war schon Jesus Christus? Messias? Sohn des unsichtbaren Gottes der Juden? König? Na wenn schon, es gab andere Könige der Juden, mit denen schloss man halt Verträge oder unterwarf sie militärisch - wozu die Aufregung? Aber genau hier, im Schnittpunkt heilig empörter jüdischer Religiosität und römischer Gleichgültigkeit in Religionsdingen, genau in diesem Kreuz wird Jesus Christus festgenagelt. Von wem? Von Rom! Darauf kann man nicht oft genug hinweisen, denn die Juden waren in ihrem eigenen Land nicht annähernd mächtig genug, eine solche Hinrichtung durchzuführen. Trotzdem gingen sie als so genannte "Gottesmörder" in die christliche Überlieferung ein, was mehr als alles andere den Antisemitismus über die Jahrtausende am Leben hielt. Lies Martin Luther: ein wüster antisemitischer Hetzer. Aber du bist katholischer Herkunft, nicht wahr? Dann sag doch mal, was 1965 passiert, zwanzig Jahre nach der Schoah! Keine Ahnung? Man wusste damals fast alles über den Mord an den Juden Europas, bis in die letzten grausigen Details. Man kannte das persönliche Versagen des Pacelli-Papstes Pius zwölf ...

F: ... der auch das Konkordat mit Hitler geschlossen hat ...

L: Ja. Und 1965 dann zieht Papst Paul VI. die vom Konzil bereits verabschiedete Erklärung über die Juden zurück, weil in dem Text auf die Anklage wegen "Gottesmordes" verzichtet wird. 1965! Die Kirchen waren unbelehrbar.
Aber wir sprachen vom Versagen der Gründer. Der ganze Gottesquatsch war Rom egal. Doch als dann die Juden Roms weltliche Herrschaft abschütteln wollten, da wurde Rom böse. Zerstörung des Tempels. Einschmelzung von Bundeslade und Siebenarmigem Leuchter. Strafsteuern. Versklavung weiter Bevölkerungsteile ... schau, das ist unsere Schuld am Antisemitismus. Jeder hat mal Probleme mit dem Nachbarn, auch Juden, die keine besseren oder schlechteren Menschen sind als irgendwer sonst. Doch Roms Rache versprengt die Juden nun über die ganze Welt und zwingt ihnen die undankbare Rolle auf, jedermanns Nachbar zu sein.

F: Rom als Katalysator des Antisemitismus?

L: Definitiv. Seit Rom gab es in jeder Siedlung jüdische Sklaven. Abgesehen vom späteren Übertritt der Chasaren zum jüdischen Glauben schuf Rom die Bevölkerungsstruktur, in der sich der inflationäre Antisemitismus des Mittelalters entwickelte.

F: Wollte man seine Schulden loswerden - schlug man den Juden tot, bei dem man sie hatte. Ungemein praktisch war dabei, dass das Christentum Zinsen als Wucher ablehnte und zugleich den Juden jeden "anständigen" Beruf versperrte, sodass ihnen, abseits vom Geld- und Handelsgeschäft, kaum etwas übrig blieb zum Lebensunterhalt. Hoch angesehen, weil sie wirklich was konnten, waren jüdische Ärzte - aber wenn der Patient trotz allem starb, war natürlich der Jude schuld. Fand man den Leichnam eines Kindes - beschuldigte man Juden, es geschlachtet zu haben. Fand man gar keinen Leichnam, sondern vermisste nur ein Kind - hatte der Jude es gefressen. Kam die Pest - beschuldigte man den Juden. Versiegte der Brunnen, ging Vieh ein - der Jude war als wehrloser Sündenbock stets zur Hand, überall in Europa. War man zu feig, als Kreuzfahrer ins Heilige Land zu ziehen - nun, dann schlug man eben daheim ein paar gottesmörderische Juden tot. Die durften keine Waffen tragen. Ungemein praktisch. Kein Vorwurf war je zu absurd, nicht einmal Unzucht mit geweihten Hostien.

L: Zwangsbekehrungen, Vertreibung der Juden aus Spanien, Gettoisierung, Pogrome, Shakespeares unendlich zwiespältiges Stück Merchant of Venice ...

F: Wie oft wurden die Juden aus eurer Stadt Venedig vertrieben?

L: Das weißt du doch selber: ein Mal. Ich hab aber die exakten Daten zum venezianischen Antisemitismus rausgesucht, den du so gern uns Gründern anlasten möchtest: Am 3. Mai 1395 wurde den Juden untersagt, sich in Venedig niederzulassen. Das betraf nur kleine Leute vom Festland, die in die Stadt strömten. Die großen, internationalen jüdischen Kaufleute blieben selbstverständlich in Venedig wohnen. Seit dem 5. Mai 1409 mussten Juden, die länger als zwei Wochen in der Stadt waren, ein aufgenähtes O auf der Kleidung tragen. Wer länger bleiben wollte, musste immer wieder eine neue Aufenthaltserlaubnis kaufen. Die in Mestre ansässigen mittelständischen bis armen Juden drängten aber infolge der Kriegswirren heftiger und heftiger ins sichere Venedig und wurden schließlich aufgenommen. Am 29. März 1516 wurde ihnen das Gelände der neuen Gießerei, das Ghetto Nuovo, als Wohnbezirk zugewiesen. Dort wurden sie über Nacht und an hohen christlichen Feiertagen eingeschlossen. Ab Mitte des Jahrhunderts ließen sich einige aus Spanien vertriebene Konvertiten in Venedig nieder. Ursprünglich jüdisch, waren sie unter dem Terror der spanischen Inquisition katholisch geworden - was man ihnen aber oft nicht recht abnahm. Das größte ihrer Handelshäuser, das Haus Mendes, eröffnete in Venedig eine Niederlassung. Sein Familienoberhaupt jedoch, Joseph Nasi, der spätere Herzog von Naxos, residierte in Konstantinopel. Nasi, auf allen Handelsplätzen scharfer Konkurrent Venedigs, Finanzier und Steuerpächter des Sultans, war auch maßgeblich an der Planung der türkischen Zyperninvasion beteiligt, die Venedig einen neuen Krieg aufzwang. Am 5. August 1571 fällt auf Zypern die venezianische Festung Famagusta, und die Türken ziehen dem Provveditore Marc'Antonio Bragadin bei lebendigem Leib die Haut ab. Nun gibt es rabiaten Antisemitismus in Venedig. Am 7. Oktober besiegen die vereinigten christlichen Flotten die türkische Flotte bei Lepanto. Der venezianische Antisemitismus kommt an den Kriegsgegner Joseph Nasi nicht heran und rächt  sich statt dessen an seinen unschuldigen Glaubensgenossen und den Konvertiten. Am 17. Dezember 1571 werden die Juden aus Venedig vertrieben. Am 7. Juli 1573 erklärt Venedig die Judenvertreibung für ungesetzlich und widerruft sie. Am 5. Juli 1739 wird den Juden zur Auflage gemacht, rote Hüte zu tragen. Bald schon wird das Gesetz gemildert und erlaubt ihnen außerhalb Venedigs schwarze Hüte. Am 17. August 1777 tobt eine heftige Debatte über die kaufmännischen Aktivitäten der Juden ... Diskriminierung satt, aber kein massenmörderischer Pöbel. Während die Konvertiten aus Venedig vertrieben wurden, wurden ein paar Kilometer südlich, auf päpstlichem Gebiet, mehr als zwanzig von ihnen lebendig verbrannt. Glaub mir, ich will in dieser Bilanz nichts schönreden, doch im internationalen Vergleich war Venedig für die Juden ein sicherer Hafen, eine Insel von Vernunft und Toleranz, während kreuz und quer durch Europa Dummheit und Bosheit ihre Spur zogen und ihnen weitaus schrecklicheres Leid zufügten ... denjenigen, die es jeweils traf. Die anderen, die ein gnädiger Zufall für diesmal verschont hatte, durchlebten Jahrhunderte der Angst. Dann endlich die Aufklärung. Baruch Spinoza. Lessing und Mendelssohn. Judenemanzipation. In Frankreich der Code Civil. In Preußen die Stein-Hardenbergschen Reformen: Auflösung der Gettos, freie Berufswahl, Wahlrecht, Niederlassungsrecht ...

F: ... und in Westeuropa konnte man sich einige Jahrzehnte lang wirklich einbilden, der antisemitische Irrsinn wäre von der Vernunft besiegt. Gut, da krakelt der peinliche Treitschke, aber nebenan ist in Ansehen und Frieden ein Mendelssohn Bartholdy alt geworden. Es wurde allerdings zu dieser Zeit die Saat gelegt für etwas, das erst später aufging: Antisemitismus und obskure Rassentheorien fanden ineinander wonnige Ergänzung.

L: Das hatte zuvor keine Rolle gespielt. Das fiel zunächst auch gar nicht auf. Im Rückblick, von Auschwitz her gesehen, erkennt man die Entwicklungslinie. Obwohl ... die zionistische Bewegung wird wohl nicht umsonst entstanden sein ... eine eigene Heimstatt für die Juden ... nächstes Jahr in Jerusalem! Trotzdem: Aus Sicht der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren all diese Arier und antisemitischen Rassisten Marktschreier, denen war jedes Mittel recht, ein kleines Publikum zu finden. Den Juden West- und Mitteleuropas ging es vergleichsweise sehr gut. Natürlich gab es Antisemitismus nach wie vor. Plump: siehe Dreyfusaffäre. Unendlich subtil: sieh die Erlebnisse Swanns in Marcel Prousts Recherche oder den Tag Leopold Blooms im Ulysses von Joyce. Doch die westeuropäischen Gesellschaften öffneten sich so weit für die Juden - und die Juden so sehr für die westeuropäischen Gesellschaften, dass den Bürger eben nur noch unterschied, ob er den Sabbat heiligte oder den Sonntag feierte ... bis antijüdische Pogrome in Russland eine Fluchtwelle auslösten. Und schon war der Antisemitismus in Westeuropa wieder höchst virulent, denn die Flüchtlinge traten natürlich am unteren Rand der Gesellschaft auch als Konkurrenten um billigen Wohnraum und schlecht bezahlte Arbeit in Erscheinung. Und den assimilierten Juden waren sie oft nur furchtbar peinlich.

F: Hier wirkt Antisemitismus wie eine frühe Form der Ausländerfeindlichkeit.

L: Das harmonierte immer schon, sieht man heutzutage am Gesinnungsmüll der Rechtsextremen.

F: Er war also zurück, der westeuropäische Antisemitismus. Er hatte sich als äußerst zählebig erwiesen. Wieso habt ihr ihn trotzdem unterschätzt, besonders, als nach der epochalen Katastrophe des Ersten Weltkriegs und den wirtschaftlichen Krisen wieder dringend ein Sündenbock gebraucht wurde?

L: Weil wir ihn für ein Randphänomen hielten. Einen gewissen Bodensatz von Dummheit und Bosheit in der Gesellschaft kriegst du einfach nicht wegerzogen. Alle haben den Antisemitismus unterschätzt, sogar die jüdischen Deutschen, noch als die Nazis schon regierten. Noch als die Synagogen gebrannt hatten. Man dachte: das ist jetzt wieder so eine Welle, wie wir sie seit Urzeiten erdulden müssen, das kommt, wir ducken uns, und das geht auch wieder vorbei.
Vorstellen, in welche Abgründe der methodische Antisemitismus der Nazis führen würde - konnten  sich die Wenigsten. Nicht vor Auschwitz.

F: Was hattet ihr zu tun mit den rechtskonservativen Kreisen, die Hitler die Steigbügel gehalten haben?

L: Hugenberg, Hindenburg und Konsorten? Definitiv nichts.

F: Und die andere Seite des europäischen Totalitarismus? Stalin?

L: Darüber können wir gern mal ein eigenes Gespräch führen. Aber hier vergleich das bitte nicht! Die andere Seite von was? Das waren zwei ganz unterschiedliche Phänomene, auch wenn sie eingebettet bleiben in die konkurrierenden Wahnsysteme Klassenhass kontra Rassenhass. Im persönlichen Ursprung jedoch, wenn wir die involvierten Schichten der Seele betrachten, war Stalins Terror eine rationale Sache, sogar der Personenkult. Hitlers Kern war zutiefst irrational, dieses Böse wurde aus Quellen gespeist, jenseits aller Vernunft. Wohlgemerkt - was die Motive Hitlers angeht. Die Handlanger sind viele Fälle für sich, mit ganz unterschiedlichen Motivstrukturen, vom überzeugten Anhänger über den opportunistischen Mitläufer bis hin zu dem, was Hannah Arendt "die Banalität des Bösen" nennt. Sie ist einfach da, die latente Bereitschaft zum Bösen. Sie ist Teil des Menschen. Sie steckt in dir, in mir, steckt überall, und die sicherste Methode, dem Bösen zur Herrschaft zu verhelfen ist, es zu leugnen.

F: Was ist so einzigartig an der Schoah, dass man sie nicht mit anderen Menschheitsverbrechen vergleichen darf?

L: Natürlich darfst du die Schoah vergleichen. Aber versuch es doch mal, ernsthaft und redlich, dann stellst du fest, dass du sie nicht vergleichen kannst.

F: Mir klingt der Satz oft reflexhaft: Dieses Verbrechen ist unvergleichlich, das darf man durch Vergleich nicht relativieren. Was unterscheidet es von den Verbrechen des stalinistischen Gulag oder der Verschleppung afrikanischer Sklaven nach Amerika, oder der Ausrottung der indianischen Ureinwohner in den beiden Amerika? Zumindest hier und im stalinistischen Terror gab es wahrscheinlich mehr Tote.

L: Der schreckliche Sklavenhandel war Handel - sein Motiv war schlicht Geldgier. Wahrscheinlich gab es in Amerika mehr Tote, aber, ich sage das jetzt mal sehr zynisch, verdünnt über mehrere Jahrhunderte und zahllose individuelle Verbrechen, motiviert auch durch die Tatsache, dass zwei Gruppen dasselbe Land wollten. Das ist barbarisch, aber es ist ein Motiv. Und in Russland? Der stalinistische Terror ermordete Menschen, um andere Menschen fügsam zu machen. Das Motiv ist dreckig, aber es ist nachvollziehbar ... wohingegen ... an der Ostfront ... ein rationales Monstrum Hitler hätte sich den Hass der Sowjetvölker auf das stalinistische Regime zunutze gemacht. Wahrscheinlich hätte Deutschland mit dieser Strategie sogar den Krieg im Osten gewonnen, aber nein, es gilt das Verdikt vom "rassisch minderwertigen Untermenschen". Zeig mir das Motiv! Oder ... da treffen sich an einem schönen Berliner See die Vertreter aller involvierten Ressorts ... man nascht vom Buffet ... zum Schluss genehmigt sich sogar der sonst so asketische Heydrich einen Cognac ... zeig mir hier das Motiv!

F: Wir sprachen von Vergleichbarkeit.

L: Ja ... Vergleichbarkeit ... auch den Aspekt des Völkermords finde ich noch vergleichbar ... nehmen wir die Hutu, die sich in einen kollektiven Blutrausch steigern, um das Volk der Tutsi auszurotten ... das meiste Unrecht auf der Welt wird Feinden zugefügt. Meist stehen die Opfer in dramatisch zugespitzter Konkurrenz zum Täter oder zumindest besitzen oder repräsentieren sie etwas, das der Täter unbedingt für sich selber begehrt. Nur - in diesem Sinne waren die Juden niemandes Feind. Sie waren einfach nur da, waren jedermanns Nachbar - bis die Nazis bei Bier und Schnittchen planten, sie auszurotten. Nicht das halbe Volk, um die andere Hälfte in willenlose Knechtschaft zu zwingen - so ein Einfall hätte Stalin kommen können. Hitler jedoch wollte das ganze Volk, oder, in anderer Lesart, die ganze Glaubensgemeinschaft inklusive längst nicht mehr jüdisch glaubender Nachfahren. Warum? Die Juden griffen Deutschland nicht an. Sie wehrten sich nicht, als man ihr Eigentum raubte. Sie fügten sich noch dem schikanösesten Verwaltungsakt und der öffentlichen Demütigung. Sie waren kein Feind - im Gegenteil, sie hatten die deutsche Kultur unendlich befruchtet und manche von ihnen hatten im Ersten Weltkrieg so tapfer für Deutschland gekämpft, dass sie mit hohen Orden heimkehrten. Viele waren assimiliert. Viele hielten sich nicht einmal selber für Juden, weil sie christlich glaubten oder gar keiner Religion mehr anhingen. Hier griff der Rassenwahn der Nazis und definierte die Opfer über deren Abstammung. Die Juden waren kein Feind. Punkt. Sie waren auch kein wirklich ergiebiges Ausbeutungsobjekt. Sicher wurden sie ausgebeutet, sicher wurde ihr Besitz arisiert, die SS vermietete ihre Arbeitsleistung, schmolz ihr Zahngold ein und all das - aber insgesamt war der wirtschaftliche Ertrag des Judenmords viel geringer als der Aufwand. Die Juden standen nicht einmal im Weg. Wir müssen der Tatsache ins Auge blicken, dass der Judenmord nicht aus alltäglich kriminellen Motiven geschah oder zum Zweck der Herrschaft durch Terror, sondern den Nazis eine Herzensangelegenheit gewesen ist. Die Juden waren einfach da. Das hat genügt ... Zigtausende sind erschossen worden, oder im Gedränge der Viehwaggons erstickt, oder verdurstet, verhungert, zu Tode getrampelt ... alles vergleichbar, wenn du unbedingt willst und Wert darauf legst. Nur - für die verbleibenden Millionen findest du keinen Vergleich ...

F: Du sprichst von "Vernichtung durch Arbeit"?

L: Die gab es auch für belgische Zwangsarbeiter in Deutschland. Die gab es auch in Stalins Gulag - betrachte nur den Bau des Ladoga-Kanals, das kannst du vergleichen, wenn du das brauchst. Nein, ich meine das System der Gaskammern und Öfen. Den industriellen Aspekt, wo von Millionen Menschen nichts weiter bleibt, als die Asche auf den Lagerstraßen und der Rauch, den unsere Eltern eingeatmet haben ... der Massenmord bleibt unsichtbar, solange die industrielle Körpervernichtung funktioniert. Erst als die Maschine klemmt, weil die Alliierten vorrücken, da erst liegen haufenweise ausgemergelte Leichen herum. Erst nach Zusammenbruch der perfekten Organisation bleiben Körper übrig und bezeugen, was und in welchem Ausmaß organisiert wurde ... eine Maschinerie, da tust du vorn lebendige Menschen rein, Millionen Menschen ... und wenn die Maschine mit ihnen fertig ist, bleiben leere Kleiderbündel übrig, herausgebrochene Zähne mit Goldkronen, Echthaarperücken, ein Lampenschirm aus Menschenhaut für Herrn Himmler, Asche und Qualm. Das war's. Das ist das Unvergleichliche an der Schoah. Das und die wahnsinnige Motivlosigkeit, denn im Kern des Antisemitismus haust ja kein irgend objektivierbares Motiv, keine noch so brutale, barbarische Logik, da regiert der schiere Wahn ...  der sich aber bei seiner Tat perfekter Organisation bedient. Und zwar nur bei dieser Tat! Das Irrationale ist so übermächtig, dass an allen Weltkriegsfronten der Nachschub stockt - aber um neue Opfer in die Konzentrationslager zu karren, dafür werden tagelang wichtige Gleisstrecken gesperrt, dafür gibt es genug Lokomotiven und Waggons, genug Kohle, genug Personal ...

F: Es gibt also in der Geschichte nichts, womit sich die Schoah vergleichen ließe?

L: Ich kenne nichts. Aber wenn es was gäbe ... niemand hat doch was dagegen, wenn du vergleichst, um zu verstehen. Nur - deswegen wird in den seltensten Fällen verglichen. Verglichen wird meist in dem erbärmlichen Versuch, zu relativieren, andere hätten Ähnliches verbrochen, wodurch das deutsche Verbrechen ein bisschen weniger schlimm würde.
Nimm nur mal die innige Anteilnahme vieler Deutscher am Leiden der Palästinenser. In Parenthese: Es gibt dieses Leid, Israel tut den Palästinensern Unrecht an, gar keine Frage. Aber dann frag doch mal dieselben Deutschen nach dem viel größeren Leiden viel größerer Bevölkerungsgruppen, sagen wir ... im Kongo. Fehlanzeige!
Das sind Entlastungsdiskussionen. Man will schlussfolgern: Die bösen Juden tun den armen Palästinensern Unrecht an, folglich brauchen sich die Juden nicht länger über das Unrecht der Deutschen zu beschweren. So soll das gedreht werden. Besonders perfide Entlaster betten ein zusätzliches Wörtchen in die vermeintliche Schlussfolgerung ein, das Wörtchen "angeblich". Das "angebliche Unrecht der Deutschen" heißt es dann ...

F: Jetzt wird es widersinnig!

L: Ja, ich bekomme auch immer Schluckauf, wenn ich mir das in Klartext übersetze. Im Klartext heißt es: "Wir haben zwar nichts getan, aber andere haben das Gleiche getan wie wir, und darum ist das, was wir getan haben weniger schlimm." Das sind so die Kern- und Merksätze spätarischer Geistesriesen.

F: Die sich an Israel knüpfende Entlastungsdiskussion geht vom Postulat aus, die Juden hätten nach der Hölle der Schoah gefälligst die besseren Menschen zu sein ...

L: ... und diskriminiert damit erneut, jetzt positiv. Der Jude als genauso guter oder schlechter Mensch wie jeder andere ist dem Antisemiten offenbar unerträglich. Vor der Schoah galt der Jude ihm als Untermensch. Nach der Schoah hat er gefälligst moralischer Übermensch zu sein. Und wenn er das nicht leistet, siehe Palästinensergebiete ... nun, dann fragt der Antisemit, ob man das mit dem "Untermensch" nicht doch, wenigstens ein klein bisschen ...

F: Das da oben ist Rollenprosa. Nur zur Sicherheit. Kommen wir zum innerdeutschen Zweig der Entlastungsdiskussion!

L: Bombennächte und Flüchtlingselend?

F: Ja.

L: Für mich ist der Bombenangriff auf Dresden ein Kriegsverbrechen. Punkt. Die Befreier waren keine moralischen Übermenschen. Stalin eh nicht. Aber auch nicht die Westalliierten. Deutschland hatte die Welt angegriffen - die Welt schlug zurück, im Falle Dresdens mit einer Härte, die nicht mehr nötig gewesen wäre. Aber was hatte Deutschland denn erwartet? Was hatte Deutschland denn verdient, zumal mit der extrem grausamen Kriegsführung im Osten? Oder mit den V-Waffen auf London? Heute verlangen Neonazis von den Alliierten eine Menschlichkeit, die Deutschland nie geübt hat. Auf Dresden sind die Briten selber ganz und gar nicht stolz. Bomber-Harris ist nicht annähernd so geehrt worden wie vergleichbare Dienstgrade. Aber was hätte Churchill denn nach dem Krieg sagen sollen? "Oh weh, wir haben den Deutschen in Dresden Unrecht zugefügt! Zur Sühne schenken wir ihnen jetzt den Frontverlauf vom November 42 und verzichten auf die Nürnberger Prozesse!" So ungefähr, liebe Neonazis? Ist es so recht? Nein, der eigentliche Skandal an Dresden ... abgesehen natürlich vom Leid unschuldiger Opfer ... ist doch die innerdeutsche Diskussion.

F: Das eisige Schweigen, das man in bestimmten Zirkeln auslöste, wenn man Dresden erwähnte.

L: Die deutsche Nachkriegslinke hat gedacht ... das sind ja alles hochdifferenzierte Persönlichkeiten, Leute mit Stil, die gucken nur konsterniert, aussprechen würden die sowas nie: "Pech gehabt. Die deutschen Bombenopfer sollen gefälligst unbeklagt tot sein. Die deutschen Flüchtlinge sollen gefälligst unbeklagt vertrieben sein. Das ist der Preis für Auschwitz. Schön, dass nicht wir ihn zahlen mussten."

F: Die deutsche Linke? Ich sag nur: Grass, Im Krebsgang.

L: Ach komm, den meine ich natürlich nicht. Du weißt doch selber gut, von welchem Studienratsmilieu ich spreche. Von dem Milieu, das bis eingangs der neunziger Jahre die Meinungsführerschaft in Deutschland innehatte - manchmal gar nicht so verkehrt. Aber in dem Punkt haben sie versagt. Sie haben deutsches Leid so heftig verdrängt, dass die Wahrheit sich weit rechts ein Ventil gesucht hat. Sie haben diesen Teil der Wahrheit den Neonazis überlassen. Als Grass dann literarisch gegensteuerte, war es bereits zu spät, was allerdings sein Buch nicht weniger verdienstvoll macht.

F: Was sagst du zum neusten NPD-Unwort, dem "Bomben-Holocaust"?

L: Genau die Art Vergleich, von der ich oben sprach. Viel mehr gibt's dazu nicht zu sagen. Hätte man der Toten von Dresden gedacht, wäre das in Ordnung gewesen ... nicht die Formulierung, nicht dass wir uns da missverstehen! Aber die Dumpfbacken haben den Landtag ja nicht verlassen, weil irgendwer sich dem Gedenken an Dresden verweigerte. Sie zogen aus, weil der anderen Toten gedacht wurde, der Juden, der Sinti, der Roma, der Schwulen, der Kommunisten, der Sozialdemokraten, Priester, Liberalen, Zeugen Jehovas, Gutsherren und Arbeiter,  der ernsten Widerständler und leichtsinnigen Witzeerzähler ... der Menschen, die einfach nur den Mund gehalten hatten, als sie merkten, nebenan wird jemand versteckt. Als an die erinnert werden sollte, da zogen die Dumpfbacken aus dem Landtag. Das sagt doch alles.

F: Ist die NPD gefährlich?

L: In einem so unpolitischen Land wie Deutschland, in Zeiten, wo die Wohlstandsgesellschaft immer mehr Globalisierungsverlierer erlebt - ja! Andererseits ist sie lange nicht so gefährlich, wie das rituelle Getöse der veröffentlichten Meinung glauben macht. Versteh mich nicht falsch, ich finde es gut, dass die deutschen Medien sensibel reagieren. Aber sie sollten mehr Strategiedebatte anbieten, weniger Milch der frommen Denkungsart.

F: Was ist eure Strategie gegen NPD, DVU und Republikaner?

L: Zu laufenden Operationen äußere ich mich nicht.

F: Was hältst du von der offiziellen deutschen Strategie gegen die NPD?

L: Die ist einfallslos aber zumindest konsequent. Die Verfassungsschützer haben sich für größtmögliche Unterwanderung entschieden, um immer zu wissen, was passiert. Der Preis dafür wurde auf dem juristischen Kriegsschauplatz bezahlt: Scheitern des Verbotsantrags. Ich persönlich würde eine andere Strategie verfolgen, ich würde sie jagen. Ich würde jede neue Organisationsstruktur systematisch zerschlagen, sobald sie juristisch angreifbar wird. Ginge es nach uns, dann wüssten die Typen heute nicht, ob die Partei, der sie gestern beigetreten sind, morgen noch existiert. Wenn man das staatlicherseits zehn Jahre durchhält, liegen bei denen die Nerven blank. Man verliert so vielleicht den verdeckten Ermittler A, der in der Organisation B im Vorstand sitzt, aber nicht notwendigerweise in die Nachfolgeorganisation C übernommen wird. Zweifellos ein Nachteil, aber den würde ich in Kauf nehmen. Doch, wer weiß, vielleicht haben die Verfassungsschützer ja ihre Motive, die wir nicht kennen.
Was mich richtig ankotzt, ist die Tatsache, dass Deutschlands Steuerzahler NPD und DVU die Wahlkämpfe finanzieren. Wozu gibt es eigentlich Bürokratie? Die öffentliche Hand hat doch keine Hemmung, Lieferanten, die in Vorleistung gehen, so lange nicht zu bezahlen, bis sie bankrott sind. Hochbau, Tiefbau, Büroausstattung, Lehrmittel, Putzfirmen ... die gehen doch reihenweise bankrott, weil Bund, Länder und Gemeinden die säumigsten Zahler der Republik sind. Das gibt dann neue Arbeitslose. Und um die zu verwalten, braucht es neue Beamte. Warum dehnt man dies erprobte Verfahren nicht auf die Wahlkampfkostenerstattung für NPD und DVU aus? Erst kommt der Antrag nicht an. Wenn die NPD ihn dann per Einschreiben mit Rückschein schickt, ist der zuständige Sachbearbeiter im Urlaub. Aus dem Urlaub zurück hat der Mensch seine Zuständigkeit verloren, weil die betreffende Abteilung reorganisiert wird. Die reorganisierte Abteilung entwirft zunächst einmal völlig neue Antragsformulare, die dann der NPD selbstverständlich zum frühestmöglichen Zeitpunkt zugeschickt werden. Wenn sie nicht auf dem Postweg verloren gehen ... verstehst du ... warum kann Bürokratie nicht einmal schlampig sein, wo's sinnvoll wäre?
Oder diese Dörfchen und Stadtviertelchen in Ostdeutschland, die so genannten "national befreiten Zonen". Ja was, da gehört doch jeweils ein Zeltlager von tausend Bundesgrenzschützern drum herum, und dann spielen wir vierundzwanzig Stunden am Tag allgemeine Personenkontrolle.
Da ist lange Jahre vieles lax gehandhabt worden, angefangen im Moment, wo bei der zentralen Feierstunde zur deutschen Einheit unmittelbar vor der Tribüne von Bundeskanzler und Bundespräsident die alte Reichskriegsflagge geschwenkt wurde, immer munter drauflos - und von aberhunderten Sicherheitsleuten greift sich keiner das Pack. Oder die Naziaufmärsche, wo jeder Fernsehzuschauer die Hakenkreuze an Kettchen und auf Stickern zählt - aber umsonst den polizeilichen Zugriff erwartet ...

F: Ziviler Ungehorsam von Bürokraten und harte Polizeimaßnahmen ... ist das alles?

L: Am wichtigsten wäre natürlich ein glaubwürdiges Politikangebot vonseiten der Demokraten. Erstens: Gegen Neonazis halten alle zusammen - da fällt auch kein Oppositionspolitiker aus der Rolle und bezichtigt die Regierung, Weimarer Verhältnisse zu fördern. Zweitens: Wer anderen den Gürtel enger schnallen muss, bedient sich nicht gleichzeitig selber aus der Kasse. Drittens: Weniger Jobgipfel, dafür mehr redliche Plackerei in der Ebene. Viertens: Was gemeinsam vereinbart wird, wird auch gemeinsam vertreten. Fünftens: Diskussionen raus aus den Talkshows und zurück in die Parlamente. Sechstens: Föderalismusreform. Siebtens: Arbeit. Achtens: Arbeit. Neuntens: Arbeit. Zehntens: Flächendeckende Angebote an Jugendliche im vorpolitischen Raum.

F: Wie geht das in Zeiten knapper Kassen?

L: Indem man im Zweifel lieber mal ein Stadttheater schließt und das Geld in die Jugendarbeit steckt.

F: Das wird die Bürger nicht freuen.

L: Nicht alle, aber vielen ist die Redundanz inzwischen aufgefallen: Im Stadttheater erzählen solche, die's wissen, solchen, die's ebenso gut wissen, was alle gemeinsam wissen. Eine Gesellschaft, die sich gegen Rechts verteidigt, muss aber an solche rankommen, die's eben noch nicht wissen.

F: Bist du optimistisch oder pessimistisch?

L: In Bezug auf Deutschland verhalten optimistisch. Ich war mit Karl gegen die Wiedervereinigung. Nicht als Strafe für Auschwitz, sondern weil die Mittellage einfach zu Fehlern verleitet. Die großen pragmatischen westlichen Demokratien, oder was man früher Flankenmächte nannte, sind so groß und pragmatisch auch deshalb, weil immer mindestens auf einer Seite das Meer sie schützt. Da kann man leicht gelassen sein. Zwei demokratische Deutschlands, Rücken an Rücken, hätten es zu dieser Art Gelassenheit bringen können. Nun ist es aber anders gekommen. Nun muss Deutschland unbedingt verstehen, dass Amerika nie mehr Retter vor dem Untergang sein wird.
Skandinavien, Frankreich, Italien, die iberische Halbinsel - da wird Antisemitismus immer ein sehr randständiges Phänomen bleiben. Großbritannien. Hm. In Belgien passiert etwas Verblüffendes: Die flämischen Rechtsaußen vom Vlaams Belang verbünden sich mit Antwerpens orthodoxen Juden gegen muslimische antisemitische Schlägerbanden. Das finde ich zwar unerfreulich, aber ich lasse das jetzt einfach mal so stehen. Im Osten Europas, auch in den östlichen EU-Ländern, da steckt heute das schlimmste antisemitische Potenzial. Mommsen hat mal gesagt, mit Vernunft könne man gegen Antisemitismus nichts ausrichten. Aber wenn alle vernünftig sind, können wir zumindest den Deckel auf diesem Topf halten. Was faschistoide Tendenzen und Kräfte angeht ... wir müssen immer dorthin schauen, wo gerade jemand sehr laut einfache Antworten gibt - auf komplizierte Fragen. Ich bin aber jetzt ziemlich müde. Können wir Schluss machen für heute?

F: Noch ein paar kurze Fragen: Kamen Befreier nach Deutschland oder Sieger?

L: Befreier ... die manchmal vergewaltigt und geplündert haben.

F: Sind Deutschlands Grenzen endgültig geklärt?

L: Ja.

F: Habt ihr euch verziehen?

L: editor, das ist eine unpolitische Frage. Keiner, der damals bei den Gründern aktiv war, ist es heute noch. Wenn überhaupt, müssten andere verzeihen. Aber wir schämen uns. Ist diese einfache menschliche Regung außerhalb des Großen Archivs unbekannt?

F: Muss man auch heute noch von deutscher Schuld sprechen oder ist die Zeit dafür abgelaufen?

L: Ist die Zeit für die Ermordeten abgelaufen? Sind sie irgendwann einmal nicht mehr ermordet? Viele deutsche Täter haben unverzeihliche Schuld auf sich geladen. Noch mehr Zuarbeiter haben große Schuld auf sich geladen. Über den Rest möchte ich nicht urteilen. Wir, die nie eine Diktatur erlebt haben, ahnen kaum, was es dort für Abstufungen von Mitlaufen, Nichtwissen, Nichtwissenwollen, Wissen aber schwach sein, angeekeltem, empörtem, aber letztlich tatenlosem Beiseitestehen gab. Wer ist schon Held unter den Bedingungen einer Diktatur? Und doch gab es auch kleine Helden, die ihrer Furcht stille, heute oft vergessene Taten passiven oder aktiven Widerstands abtrotzten. Und es gab Emigranten, die in einer solchen Heimat nicht mehr leben konnten. Und es gab die großen Helden. Derzeit ist Sophie Scholl populärer, aber mein Held ist nunmal Georg Elser. Nur ...

F: Ja?

L: ... sag mal, wer ist dein Held?

F: Weiß nicht ... Schindler?

L: Ja.

F: Warum ist dein Held Georg Elser - und nicht die Schwarze Hand vom Berghof? Gescheitert sind alle beide.

L: Ach ... die Ereignisse am Teehaus geben uns ein Rätsel auf. Wir wissen, dass unser Mann in Position war. Wir wissen, dass Hitler, ganz gegen seine Gewohnheit, allein auf das Teehaus zukam ... die Entourage saß schon drin. Sie müssen sich also allein gegenüber gestanden haben, mit allen Vorteilen bei unserer Schwarzen Hand ...

F: Warum verschweigst du den Namen des Mannes?

L: Weil die ganze Familie immer noch bei den Gründern ist. Es ist einfach nicht nachvollziehbar, wie Hitler davonkam. Eigentlich sollte er aus einer Distanz von etwa zehn Metern erschossen werden. Das ist aber offensichtlich nicht geschehen. Eine körperliche Auseinandersetzung hätte er nicht überlebt. Es kann also zu keiner Auseinandersetzung gekommen sein. Erlitt unser Mann einen Herzinfarkt, Schlaganfall oder was auch immer? Warum wurde dann nie etwas über seinen Leichnam bekannt? Hat Hitler geistesgegenwärtig eine Summe genannt, der unser Söldner nicht widerstehen konnte? Dagegen spricht, dass unser Mann schon in Prag den Fallschirmspringern der tschechischen Exilregierung logistische Hilfe geleistet hatte, die Heydrich liquidierten. Gewiss war er ein Söldner, aber ebenso gewiss hat er die Nazis gehasst. Und zuletzt bleibt noch die Botschaft einer Informantin, die wir im Küchenpersonal des Berghofs hatten. Zu ihr hatte unsere Schwarze Hand, definitiv nach seiner Begegnung mit Hitler, noch einen kurzen Kontakt. Und die Frau übermittelte uns: "Ich soll ausrichten, dass der Hitler nie mehr auf den Berghof kommt."

F: Wörtlich?

L: Blödmann! Sie hat natürlich nicht "Hitler" gesagt, sondern "Führer".

F: Sollen wir schlussmachen?

L: Nein.

F: Fehlt dir was?

L: Ja, eine ganz normale Vergangenheit. In Florenz auf dem Ponte Vecchio ... wir sind doch beide Pynchon-Fans ... möchtest du nicht einfach über der Balustrade lehnen, ohne dass hinten gerade die Volkshochschulgruppe erklärt kriegt, der Ponte Vecchio stehe nur noch, weil beim deutschen Rückzug ein mutiger Wehrmachtsoffizier die Sprengung im letzten Moment verhindert hat? Mir fehlt eine Vergangenheit, nach der man im Photoalbum blättert und erzählt, schau mal, das waren meine Eltern, das meine Großeltern, schau mal, wie nett, er da mit dem komischen Bärtchen unter der Nase - und niemand stellt Fragen. Ich hätte mir ein unbeschwerteres Leben gewünscht, in dem nicht jedes Mal die Köpfe von Venedigs orthodoxen Juden mit fliegenden Löckchen herumfahren, sobald sie mich Deutsch sprechen hören. Aber was zählt das schon gegen den umgekehrten Blick, wenn sie in ihren Photoalben Ermordete zählen ... und bestimmt würden sie ein koscheres Restaurant ohne Panzerglasfenster und Polizei vor der Tür bevorzugen.

F: Lass uns schlussmachen!

L: Steht zuverlässig an der Seite Israels! In kritischer, meinethalben streitlustiger Partnerschaft. Aber, wenn es drauf ankommt - zwischen Israel und dem Untergang. Seid wachsam gegenüber totalitären Strukturen, vielleicht ein bisschen wachsamer als Sizilianer, Schotten oder Schweden es sein müssen. Das genügt. Damit seid ihr eurer Verantwortung schon ledig. Mehr will niemand von euch. Und wenn jemand mehr von euch will, dann sagt ihr eben: nein, ich war's nicht.

F: Danke für das Gespräch.

Das vierte widerwort

F: Kommentierst du bitte die EU-Referenden in Frankreich und den Niederlanden?

L: Nein.

F: Weißt du, es ist ziemlich verdreht, dass ihr euch zu eurem Kernanliegen nicht äußert.

L: So sind wir.

F: Und die Leser?

L: Lesen halt nicht weiter, wo's nicht konveniert. Es geht nicht, dass immer nur geschrieben wird, was Leser lesen wollen.

F: Kompliment für den harmonischen Auftakt! Bist du so mies drauf, weil deine Kollegin Peeters, die dich mal samt Rollstuhl umgeschmissen hat ...

L: ... du kannst mich provozieren, wie du willst - ich sag kein Wort zu Zett.

F: Aber Frau Peeters war zwei Jahre lang weg vom Fenster. Dann nimmt praefect Manners aus persönlichen Gründen seinen Abschied, was an und für sich schon ungewöhnlich ist ...

L: Ungewöhnlich, aber hoch achtbar. Alle guten Wünsche des Rates begleiten ihn.

F: Jedenfalls zieht Peeters als krasse Außenseiterin vorbei an den bestens geeigneten magistern Boström und Rufos auf die Position des praefectus extra. Mich hat die Entscheidung überrascht, besonders nach Peeters' Querelen mit der Lebensgefährtin des successors, die ja nicht unerheblichen informellen Einfluss haben soll.

L: Frau Ricasoli übt inzwischen durchaus ganz formellen Einfluss aus. Aber sie arbeitet sehr exponiert, und weil verhindert werden muss, dass man sie identifiziert und über ihre Person den successor erpresst, sage ich hierzu kein Wort mehr. Was Monicas formellen Einfluss angeht, so ist der mindestens so groß, wie der von Peeters - und das ist auch gut so.

F: Du magst Frau Peeters nicht?

L: Kein Kommentar.

F: Man hat sich über deine Meinung hinweggesetzt?

L: Blödsinn, man hat mich nichtmal gefragt! Was glaubst du, wer ich bin? Nur eine ganz kleine Nummer.

F: Mag Bucholtz sie aus der Zeit, als sie sein majordomus war? Schwer vorstellbar. Hat sich der princeps also über seine Meinung hinweggesetzt?

L: Es gab einen begrenzten Konflikt. Peeters ist für ihre Illoyalität abgestraft worden. Nachdem das erledigt ist, bleiben offene Baustellen: Wir müssen den Rat verjüngen und wir brauchen wieder Frauen in der Führungsspitze. Da kann man eine Begabung wie Peeters nicht übergehen.

F: Jedenfalls ist sie die erste ... sagt man praefecta?

L: Nein. Und sie ist auch nicht die erste. Es gab sogar mal eine Frau als praefectus strategus. Leider sind diese Fälle, verteilt auf zweitausend Jahre, an fünf Fingern abzählbar.

F: Ich entnehme dem also erstens das Bemühen um Verjüngung und zweitens eine Art Frauenquote - ganz auf Höhe der Zeit seid ihr damit nicht.

L: Dein Urteilsvermögen leidet. Du brauchst Urlaub.

F: Kommen wir zur nächsten Personalie. Lao She schwebt mittlerweile irgendwo im Nirgendwo. Und gemäß eurem Vertrag mit COR ist William E. Douglas, früher euer praefectus extra, inzwischen designierter Nachfolger des mutmaßlichen successors. Korrekt?

L: Absolut.

F: Und die Chinesen fällen ihre Entscheidungen tatsächlich durch Befragung des Schafgarbenorakels?

L: Ja.

F: Und sie befolgen den Orakelspruch, der per Zufall beim rituellen Abzählen der Schafgarbenstengel rauskommt?

L: So nun auch nicht. Wie verläuft denn bei uns im Westen eine Diskussion? Es gibt ein Problem. Sagen wir, es besteht Einigkeit über Natur und Schwere des Problems. Aber dann argumentieren doch alle Diskutanten unmittelbar aus ihrer eigenen Position und tragen bestenfalls gute Argumente vor, schlimmstenfalls ihr egoistisches Interesse.
Eben das läuft im Orakelrat anders. Dort wird die Frage gestellt - analog unserem Problem. Dann spricht das Orakel. Und erst seine Antwort wird allgemein verbindliche Diskussionsgrundlage. Vierundsechzig Fälle, jeder mit etlichen Varianten, anwendbar auf jedes vorstellbare Problem. Manchmal kommt die Gelbe Pagode auch zu Ergebnissen, die dem Orakelspruch diametral entgegenstehen ... sagen wir, das Orakel sagt "handelt!", aber der Rat entscheidet nach reiflicher Diskussion "wir warten ab, halten still". Du siehst ... das Orakel bietet überhaupt keine vorfabrizierten Lösungen, sondern es strukturiert die Entscheidungsfindung. Es stellt Gemeinschaft her und hält den Anfang der Debatte frei von übertriebenem Individualismus. Das ist die chinesische Grundhaltung. Sie deckt sich nicht mit unserer - trotzdem ist das Konzept grandios.

F: Chinas stellvertretende Ministerpräsidentin Wu Yi hat am 23. Mai ein von ihr selber gewünschtes Gespräch mit dem japanischen Premier Koizumi platzen lassen und ihre Reise abgebrochen. Überhaupt war China im letzten halben Jahr spannend. Am 5. März legte der Volkskongress im Anti-Abspaltungs-Gesetz fest, eine taiwanesische Unabhängigkeitserklärung sei mit Krieg zu beantworten. Es tobten schlimme antijapanische Krawalle wegen eines Schulbuchs. Dann wurde der Chef der Guomindang, die zur Zeit auf Taiwan in Opposition steht, von Peking hofiert wie ein Staatsgast. Und China hat eine strategische Partnerschaft mit Indien vereinbart. Welcher Orakelspruch stand jeweils am Anfang der Diskussion?

L: Wenn ich das wüsste, wäre ich ein sehr mächtiger Mann. Aber im Ernst - in der Taiwanfrage wird nichts so heiß gegessen, wie gekocht. Wenn Japan immer noch seine Kriegsverbrecher und Folterknechte, die in China fürchterlich gewütet haben, am Totenschrein Yasukuni verehrt ...

F: ... Japan hat zwanzig Mal offiziell um Vergebung gebeten ...

L: ... aber Japan pilgert eben auch noch zu dem Schrein, weil man diesen Totenkult als Element der eigenen Kultur begreift. Kann man ja so sehen. Nur braucht man sich dann nicht zu wundern, dass Chinas Führung den nationalistischen Tiger reitet - immerhin hat sie gezeigt, dass sie auch wieder absteigen kann, ohne gefressen zu werden. Was war noch ... Indien ...

F: Kann es sein, dass Bucholtz da mitmischt? Seit 2003 Aussöhung Pakistan-Indien. Auf der Jahrfünftkonferenz Annäherung China-Indien? Wird das sein Hobby?

L: Wie kommst du auf so was?

F: Gelegentlich denk ich mir mein Teil.

L: Das muss man dir verbieten.

F: Ich interpretiere das als Zustimmung.

L: Die Regierungen zweier Länder mit gemeinsam über zweieinhalb Milliarden Menschen haben beschlossen, in Zunkunft nicht mehr gegeneinander zu kämpfen, sondern zu kooperieren. Ich kann daran nichts Schlimmes finden.

F: Findest du den Block nicht beängstigend?

L: Na, "Block" ist heftig übertrieben. Aber wer das beängstigend findet, der muss Europa stärken. Zum Glück bin ich nicht verpflichtet, mir über Japan Gedanken zu machen. Im Endeffekt verschweißt das Japan unauflöslich mit den USA. Ergo bleibt das japanische Geld in den USA. Ergo verschiebt sich das Datum zeitlich nach hinten, zu dem Amerikas chronische Unterfinanzierung sich politisch auswirkt. Wenn Bucholtz was damit zu tun hätte, hätte er im Grunde also den Amerikanern einen dicken Gefallen erwiesen.

F: Muss Europa, muss besonders Deutschland, die USA provozieren, indem es das Waffenembargo gegen China aufhebt? In gewisser Weise verstehe ich den Zorn im US-Kongress.

L: Fangen wir mal ganz klein an. Was ist ein Embargo? Ein Embargo ist ein Schlag ins Gesicht. Ein Embargo drückt aus: Du bist so ein Mistkerl, dass ich unter keinen Umständen mit dir irgendwelche Geschäfte mache. Dieses Embargo wurde nach dem Tienanmen-Massaker verhängt, das inzwischen 16 Jahre her ist. Einige Europäer denken nun, es sei an der Zeit, China nicht länger ins Gesicht zu schlagen ...

F: ...  trotz fortgesetzter Menschenrechtsverletzungen.

L: Ja, trotz Folter, Todesstrafe, korruptem Rechtssystem. Trotz alledem genießt ein unpolitischer Chinese heute größere individuelle Freiheit als jemals zuvor in Chinas Geschichte.
Aber was heißt es denn überhaupt, wenn das Embargo beendet wird? Das heißt doch nicht, das Europa Waffen an China liefert. Das heißt nur, es greifen die ganz normalen Ausfuhrbestimmungen für Waffen, die zum Beispiel nach deutschem Recht den Export in Krisengebiete verbieten. Das heißt nur, Europa hört auf, China fortgesetzt öffentlich zu ohrfeigen. Und das sehen nun die USA als Bedrohung und Bündnisbruch an? Tut mir Leid, mich rühren die Krokodilstränen des Kongresses nicht. Seit 1990 hat Amerika selber für 300 Millionen Dollar Satelliten und Verschlüsselungstechnik nach China geliefert - mal abgesehen von den 30 Milliarden Dollar, die nach Taiwan flossen.

F: Wer sagt das?

L: Das General Accounting Office, der US-Rechnungshof. Verstehst du, wenn Volksrepublik und Taiwan einander mit amerikanischen Waffen bekämpfen, findet der Kongress das völlig in Ordnung. Doch wehe, die Volksrepublik kauft möglicherweise europäische Waffen, dann greift Amerika lieber weit im Vorfeld ordnend in die Märkte ein. Weil sich aber diese protektionistische Wirtschaftspolitik schlecht mit den goldenen Regeln des globalen freien Wettbewerbs verträgt, tremoliert man im Kongress über teuflische europäische Waffen, die sich möglicherweise gegen arme amerikanische GIs richten könnten.

F: Da gibt es ja leider mehrere Beispiele. Globaler freier Wettbewerb ist gut, solange ...

L: Was heißt "gut"? Der ist so toll, den setzt Amerika notfalls mit Waffengewalt durch.

F: Der Wettbewerb war gut, solange die veraltete US-Stahlindustrie nicht litt. Kaum litt sie, zogen die freien Globalisierer Schutzzölle aus dem Hut. Konsequent ist das nicht. Amerikas Politik ist himmelschreiend unfair.
Stimmt es eigentlich, dass die USA beim neuen Papst schon wieder abgeblitzt sind?

L: Das ist eine gewagte Interpretation, nachdem Ratzingers erste Neuernennung den Erzbischof von San Francisco nach Rom holte!

F: Ich präzisiere - der Präsident ist abgeblitzt.

L: Korrekt.

F: Wie habt ihr mitgespielt?

L: Gar nicht. Czartoryski war in der Nacht vom 31. März auf den 1. April am Sterbebett seines alten Freundes, um Adieu zu sagen.

F: Doktrinäre unter sich!

L: Das ist jetzt aber auch unfair, ausgerechnet jetzt, nachdem Czartoryski dir für die Website den Rücken gestärkt hat. Doktrinär in dem Sinn, den du meinst, war keiner dieser Polen je. Schon wie sie miteinander umgingen - unser princeps, der Agnostiker und der felsenfest gläubige katholische Papst. Das funktioniert nicht unter Doktrinären. Wojtyla war der erste Papst, der eine Moschee und eine Synagoge betreten hat, der gemeinsam mit allen Weltreligionen für Frieden betete ... das kannst du nicht als doktrinär abtun.

F: Aber nach drinnen wurde schikaniert, was das Zeug hielt. Boff, Cardenal, die ganze Befreiungstheologie oder so harmlose Figuren wie Drewerman ... Wojtyla ließ sich im Papamobil chauffieren, Seit an Seit mit Opus-Dei-Leuten, die in die Ermordung Erzbischof Romeros verwickelt waren ...

 L: ... gewesen sein sollen! Opus Dei widert mich an, aber ob die besagte Querverbindung zu diesem speziellen Mord einer Prüfung standhielte, kann ich nicht sagen.

F: Schlimm genug!

L: Und ... ist Lateinamerika heute freier als vor fünfundzwanzig Jahren?

F: Natürlich, aber ...

L: ... die Umwege sind Dialektik. Der Papst hat niemand gezwungen, in die katholische Kirche zu kommen oder drinzubleiben. Er hat toleriert, ja geachtet, was nicht katholisch war. Aber er hat auch gesagt: Was katholisch ist, definiere ich. Das war nun mal sein Amt. Wer ernsthaft glaubt, Gottes persönlicher Stellvertreter auf Erden zu sein, kann wahrscheinlich gar nicht anders. Der bleibt dann stur, auch wenn ihm in Südamerika und Afrika Millionen Katholiken weglaufen zu den neuen evangelikalen Sekten. Und dann wiederum: So stur kann er nicht sein, wenn er im Gefängnis den Mann besucht, der ihn fast totgeschossen hat. Und zuguterletzt bewundere ich, wie dieser Papst unter gräßlichem Leiden Haltung bewahrte.

F: Du triefst ja förmlich von Verständnis!

L: Aber ich verwische doch nicht die Unterschiede. Die Kirchen dealen mit der gefährlichen Droge Unsterblichkeit, um noch einmal Ben Manners zu zitieren. Wir Gründer haben nur reelle Ware im Programm. Warum sollen wir nicht trotzdem versuchen, einander zu achten in unserer jeweiligen Bedingtheit?

F: Du bist sicher, die katholische Kirche sieht das umgekehrt genauso?

L: Bestimmt nicht. Aber wir sind älter, und, wenn es drauf ankommt, heutzutage wieder mächtiger. Da steht uns Großmut gut zu Gesicht.

F: Gut, also Czartoryski war am Sterbebett Johannes Pauls II.. Aber Wojtyla ist doch ins Amt gekommen, nachdem Gerrit Daniel de Kempenaer seinen Amtsvorgänger Albino Luciani hatte ermorden lassen?

L: Umso wichtiger, dass die beiden polnischen Patrioten einen Draht zueinander fanden. Wenn Czartoryski, seit 1980 als successor und seit 1998 als princeps, oft scheinbar unverständlicherweise seine schützende Hand über Gerrit Daniel de Kempenaer gehalten hat, dann würde ich die Antwort in der Person dieses Papstes suchen. Czartoryski wollte die Grundlagen dieser Partnerschaft nicht unterhöhlen lassen durch Fragen nach ihrem verbrecherischen Ursprung - an dem selbstverständlich Wojtyla keinerlei Anteil hatte, um das glasklar zu sagen.

F: Diesmal habt ihr keinen Einfluss genommen. Wann wusstet ihr, wer Papst wird?

L: Zwanzig Minuten, bevor der Rauch aufstieg und schwankte, ob er schwarz bleiben wollte oder weiß werden.

F: Also direkt aus dem Konklave?

L: Hm.

F: Wanzen?

L: Aber woher denn!

F: Wie viele Kardinäle sind bei den Gründern?

L: Das glaubst du doch wohl selber nicht!

F: Mehr als zehn?

L: Kein Kommentar.

F: Zweistellig?

L: Ja.

F: Weniger als Fünfzig?

L: Ja sicher! Mehr als neun und weniger als fünfzig. Aber damit ist jetzt Schluss!

F: Der Kölner Kardinal gehört wahrscheinlich nicht zu euch?

L: Sowas wie den nehmen wir nicht.

F: Springen wir nach Russland?

L: Das ist ja alles gut und schön, was sich da in der ehemals sowjetischen Peripherie demokratisiert, beziehungsweise ins Chaos rutscht. Georgien, Ukraine, Kirgistan. Wir sind ja durchaus für einen demokratischen Cordon Sanitaire zwischen EU und Russland. Aber so betreiben wir das nicht. Das sind amerikanische NGO's, allen voran Soros, und die US-Regierung. Wobei als Widerspruch auffällt, dass Soros innerhalb Amerikas Geld für Anti-Bush-Kampagnen bereitstellt, außerhalb Amerikas jedoch die Bush-Politik unterfüttert. Ich sage das mit großer Sorge: Sämtliche Amerikaner, die Intriganten und die ganz und gar Selbstlosen, inklusive der Naiven, kurz alle, die diese vermeintliche Demokratisierung betreiben, vergessen, dass das Russland, dem man so was antut, in zwanzig, dreißig Jahren wieder auf die Beine kommt. Jeder Nadelstich, den man Russland heute versetzt, wird dann zwanzig-, dreißigfach vergolten. Schon heute kann Russland die Welt in Schutt und Asche legen aus lauter Frustration. Was glaubst du, was in drei Jahrzehnten waffentechnisch möglich ist!
Sinnvoll ist diese Russland schröpfende und demütigende Politik also nur, wenn man die Rache vermeidet. Und die Rache vermeidet man nur, indem man Russland, in seiner derzeitigen Schwäche, radikal plattmacht, so dass es nie mehr aufsteht.
Ist das Amerikas Strategie? Unsere ist es jedenfalls nicht. Mal abgesehen davon, dass wir gern selber entscheiden, wer in unserem Raum plattgemacht wird, sollten die Amerikaner sorgfältig alle Konsequenzen analysieren. Russlands Handlungsunfähigkeit heißt zum Beispiel auch, dass China ungehindert Südsibirien und die Flussläufe besiedelt. Fällt das Amerikas Strategen gar nicht auf? Oder gehen sie dann mit Bodentruppen rein? Bilden die sich ein, nach den Prügeln, die sie in Korea und Vietnam bezogen haben, wäre so was möglich?
Die logische Konsequenz aus ihrem Handeln ist, entweder Russlands Wiedererstarken und Rache abzuwarten - oder Russland jetzt ein für allemal plattzumachen. Beides ist dumm. Amerika, das eins von beiden will, ist dumm. Sein strategischer Gegner ist China. Warum bewahrt Amerika nicht Russland dem Westen als Bündnispartner - Chinas Nordgrenze ist unendlich lang? Dumm, einfach nur kotzdumm!

F: So kotzdumm wie Putins Politik, der in Tschetschenien die letzten möglichen Verhandlungspartner abschlachten läßt. So kotzdumm wie die zehn Jahre Haft für Chodorkowski, so ...

L: Moment! Im ersten Punkt bin ich durchaus deiner Meinung, aber bei Chodorkowski ... sicher hatte der keinen rechtsstaatlichen Prozess. Rechtsstaatlich sind heutzutage übrigens immer noch die wenigsten Prozesse in Russland. Wir müssen überall mit dem Personal arbeiten, das wir haben - und nenn mir doch mal einen, der Putin ersetzen könnte, ohne dass das Land auseinanderfliegt.
Dieser Prozess war widerwärtig. Dieser Prozess um angebliche oder tatsächliche Steuerhinterziehung ist ja auch gar nicht um die Sache geführt worden, um die es eigentlich ging. Eigentlich ging es um die Macht in Russland. Auch die Kritik an dem Prozess, jedenfalls die amerikanische, meint eigentlich nicht den Prozess selber. Die Amerikaner sind nur wütend, weil ihnen die Chance genommen wurde, sich mithilfe Chodorkowskis mal eben die Hälfte des russischen Erdöls unter den Nagel zu reißen - und Chodorkowski anschließend als Präsident von Amerikas Gnaden zu installieren.
Was unsere hauptberuflichen Gutmenschen in Deutschland angeht, die den Prozess so vehement kritisieren ... ich möchte mal wissen ... sagen wir, Herr Ackermann hätte Pläne, das Ruhrgebiet für 25 Milliarden Dollar an US-Investoren zu verticken, um sich mit dem Geld dann im nächsten Bundestagswahlkampf ins Kanzleramt zu kaufen ... was würden die wohl dazu sagen? Zum Glück ist Russland ja weit weg, und man braucht sich mit so lästigen Analogien nicht zu plagen! Das sind alles Gesinnungsethiker ... kann man vertreten, den Standpunkt, doch auf lange Sicht hinterlassen Verantwortungsethiker weniger Tote.

F: Auch in Usbekistan?

L: Usbekistan haben wir, wie Karl Bucholtz es im letzten Jahr in Nota Agrippae angekündigt hatte, aus unserer Zuständigkeit entlassen. Theoretisch haben wir es an den Halbmondrat übergeben, aber dessen Zuständigkeit wird nun vom Neuweltrat bestritten. Deshalb läuft auch die Jahrfünftkonferenz in Venedig nicht gut und deshalb lass mich, bevor du hämisch nachfragst, sagen, dass ich zur Konferenz der Räte mich nicht äußern werde, bevor sie zuende ist.

F: Tagt ihr ununterbrochen?

L: Nein, nicht wie 2000 - ununterbrochen tagt nur eine Gruppe von Koordinatoren, die, zwei-, dreimal im Monat, zu Wochenendkonferenzen einlädt.

F: Amerika und CNM machen euch immer noch Sorgen? Das Verhältnis ist immer noch nicht bereinigt? Wirken sich die, inzwischen offiziell bestätigten, Koranschändungen auf eurer Konferenz aus?

L: Ja, verheerend. Das Klima zwischen CNM und Halbmondrat war noch nie so schlecht - es ist ja auch kein Wunder, dass tief gläubige Muslime nur noch Abscheu empfinden, wenn der Koran ins Klo gespült wird. Ist doch klar, dass die sich in jedem, den Westen abwertenden, Urteil und Vorurteil bestätigt fühlen. Interessanterweise ist ihre Wut über die Schändung des heiligen Buches viel größer als ihre Wut über die Folterung von Menschen.
Aber noch schlimmer ist die Entwicklung in Amerika selber. Analysieren wir mal, heute wo wir wissen, dass die Vorwürfe stimmen, den Ablauf der Geschichte um das Magazin Newsweek! Die sind doch keine Kaninchenzüchterpostille, die hatten früher Journalisten, die sagten dem mächtigsten Mann der Welt ungerührt ins Gesicht: "Herr Präsident, erzählen Sie nicht solchen Bullshit!"
Heutzutage berufen sie sich auf eine Regierungsquelle, die, als in Afghanistan Kugeln fliegen, enttarnt wird, dann stante pede widerruft, wodurch das Blatt sich zum Widerruf zwingen lässt, um sich zuletzt auch noch von einem Pressesprecherfuzzi verdonnern zu lassen, nach den ganzen bösen Vorwürfen doch bitte jetzt die US-Army ordentlich zu loben. Da macht sich ein solches Klima der Angst breit, der Zensur und vorauseilenden Selbstzensur, quer durch alle Medien ...

F: Was ist mit dem Templerfilm?

L: Entweder diese Hollywoodtypen haben nur Staub im Hirn, oder der Produzent hatte auf dem Konto ...

F: ... CNM-Geld?

L: Genau!

F: Tun wir mal so, als hätte Amerika einen Krieg angefangen, vor dem alle Welt warnte, inklusive der Gründer. Und nun erkennt Amerika, dass es sich hoffnungslos überhoben hat. Und alle Welt lacht Amerika aus und nennt es mitleidlos als einzig Schuldigen beim Namen ...

L: ... du meinst, dann käme man in Versuchung, Schuldverschiebungsfilme zu drehen?

F: Ja.

L: Nach dem Motto: Die bösen Templer, eine Gründung der Gründer, haben den Waffenstillstand mit Saladin gebrochen? Ungefähr so? Alle Beteiligten würden gern in Frieden miteinander leben - wenn es nur die räuberischen, kriegslüsternen Templer nicht gäbe, und ihre Inspiratoren, die Gründer? Mag sein.

F: Nach dem Motto: Unser Präsident hat zwar das Unwort "Kreuzzug" gesagt - vielleicht sogar bewusst ins Ohr seiner evangelikalen Wähler - aber verbrochen wurden die echten Kreuzzüge von bösen Europäern, während wir Amerikaner nur kommen, um den Nahen Osten zu demokratisieren.

L: Ja, ich zögere doch gar nicht, zuzugeben, dass die Kreuzzüge aus heutiger Sicht ein blutiger Schwachsinn waren - aber mit welchem Gegenüber soll ich das denn diskutieren? Ich kann doch nicht mit Leuten diskutieren, die die Kreuzzüge völlig zurecht als bigotte Schlächterei verdammen, aber im selben Atemzug die Eroberungspolitik des Islam als Werk Gottes preisen. Das ist doch kein vertretbarer Standpunkt! Die ursprünglichen Angreifer verübeln es den ursprünglichen Opfern, dass die sich zwischendurch mal zweihundert Jahre lang erfolgreich gewehrt haben. Mit so was diskutiere ich doch nicht. Wo ist denn die islamische Autorität, die sagte: "Wir haben seit dem Propheten Mohammed euch Christen angegriffen und furchtbares Unrecht zugefügt. Danach habt ihr Christen zurückgeschlagen und uns furchtbares Unrecht zugefügt. Nun lasst uns die Vergangenheit begraben und eine bessere Zukunft versuchen!" Wo ist denn diese islamische Autorität? Der einzelne aufgeklärte Schriftsteller? Die einzelne Professorin, die bei jedem freien Wort irgendeinen Wächterrat fürchten muss? Die chancenlose ägyptische Präsidentschaftskandidatin?
Ich sprach von Autorität. Willst du mit der Autorität philosophisch oder historisch ins Gespräch kommen - dann gib besser vorher deine Meinung und dein Wissen an der Garderobe ab!

F: Vielleicht sollten wir gar nicht mehr mit solchen Leuten reden und uns statt dessen ganz auf den Dialog mit dem europäischen Islam konzentrieren.

L: Klingt gut, aber die islamische Diaspora in Europa orientiert sich dafür viel zu stark am Islam der Herkunftsländer. Und wie sähe denn eine solche eingeleisige Strategie aus? Wir können schlecht sagen: Fresst euren Sand, sauft euer Öl, aber lasst uns ansonsten in Ruhe! Das Öl brauchen wir nun mal.
Europas Wirtschaften, Amerikas Ökonomie und, am allerdringendsten, Amerikas politische Klasse, ganz persönlich. Ohne das Öl funktioniert der Drehtüreffekt nicht. Wenn nicht die unermesslich reichen Herren des Nahen Ostens ihr Geld in amerikanische Fonds steckten, dann gäbe es keine Arbeitsplätze für zwischendurch mal ausgestiegene oder abgewählte amerikanische Politiker. Wenn die als Politiker brav waren im Sinne der Ölreichen, dürfen sie als Berater viel Geld verdienen, bei Carlyle und wie sie alle heißen. Und wenn sie das brav machen, dann dürfen sie irgendwann wieder in die Politik zurück, eine Etage höher.

F: Wie viele Mitglieder der Familie Bin Laden wurden nach 9/11von der US-Regierung heimlich außer Landes gebracht?

L: Über vierzig. Weißt du, jeder zweite Satz eines politisch interessierten Arabers besagt ja, dass Israels Lobby in den USA viel zu stark wäre, ja geradezu illegitim stark. Das sagen dieselben Araber, die sich mit Lobbyarbeit gar nicht erst aufhalten, sondern Amerikas Politiker gleich komplett kaufen. Dass die USA trotzdem eine proisraelische Politik machen, belegt im Grunde ja nur, dass sie sich trotz alledem eine gewisse innere Unabhängigkeit bewahren. Sie nehmen Israels Argumente, Arabiens Geld - und machen am Ende, was für Amerika gut ist. Oder eben nicht, wie wir im Moment erleben.

F: Kehren wir, auch wegen künftiger euro-russischer Pipelinetrassen, zur Ukraine zurück!

L: Sogar die ehemalige Sowjetunion ist stets allen Gas-Lieferverpflichtungen nachgekommen, ohne je politisch zu werden, ohne Erpressungsmanöver - seit dem Mannesmann-Röhrengeschäft, an das heute nicht mal mehr der Firmenname erinnert. Warum unterstellt man also Russland, es wollte mit Ölverträgen Erpressungsmasse aufbauen - wo doch glasklar ist, wie nötig es selber die Einkünfte braucht? Für mich sind das strategische Lügen. Die Ukraine? Ja, wunderbar - sie wird so oder so ein verlässliches Transitland für diese Lieferungen. Präsident Juschtschenko heimst international artigen Applaus ein, beim Grand Prix jubeln noch einmal die Revolutionäre in Orange. Während die Konjunktur einbricht, weil China weniger Stahl kauft, hebt die Regierung die Mindestlöhne an. Frau Timoschenko ist Covergirl von Elle und steht auf der russischen Fahndungsliste. Und was hat sich sonst noch geändert?
Juschtschenko ist kein ukrainischer Kennedy. Er ist ein ehrlicher, gerader Mann, dem man übel mitgespielt hat, aber beileibe nicht der kaltschnäuzige Manager postsowjetischen Irrsinns, den man hier bräuchte. Die Ministerpräsidentin ist eine Gewinnlerin, die jetzt den Deckel auf den Topf drückt, aus dem sie sich zuvor schamlos selber bedient hat. Die große russische Minderheit wird nicht mitgenommen und bleibt deshalb unberechenbar. Keine Idee gegen Korruption. Keine Idee gegen Schleusung und Menschenhandel. Keine Idee für sinnvolle Kooperation mit Russland und wirtschaftliche Perspektiven ... alles sehr fragil, viel instabiler als zuvor.
Sie haben gewonnen. Aber sie werden an den Verhältnissen scheitern. Und für die Menschen wäre es besser, irgendwer mit guten Kontakten zum großen russischen Bruder hätte inzwischen das Ruder gehabt.
In zwanzig, hoffentlich schon in zehn Jahren kann das völlig anders sein, aber heute verhält es sich leider genau, wie ich sage. Warten wir mal ab, was die Wahlen 2006 bringen ... ob es welche gibt? Warten wir mal ab, ob man die Mörder des Journalisten Gongadse findet und, wenn ja, bestrafen kann!

F: Euer Misstrauen gegenüber allen Veränderungen, die nicht von euch selber kommen, hat manchmal pathologische Züge.

L: Das hängt damit zusammen, dass die Menschen, für die wir arbeiten, bei Veränderungen nicht unbedingt nur gewinnen, sondern auch was zu verlieren haben. Wir sind nicht die USA. Für uns ist die Ukraine kein fernes geostrategisches Experimentierfeld, wo man irgendwas durchprobiert - wenn's klappt ist gut, wenn nicht, haben die Leute dort halt Pech gehabt.

F: Wann gibt es Wahlen im Weissrussland des hässlichen kleinen Diktators Lukaschenko?

L: 2006. Weißt du, warum wir ihn nicht längst erledigt haben?

F: Nach eurer Logik, weil Weissrussland das letzte verlässlich prorussische Land ist, das eine Landbrücke bis fast zur russischen Exklave Kaliningrad an der Ostsee bildet.

L: Seit Monaten trommelt Amerika für einen Machtwechsel dort, denn es will auch die Landverbindung kontrollieren zwischen Russland - und Russland. Amerika will Russland in den vorpretrinischen Raum zurückzwingen.

F: Und das Interesse der Amerikaner dabei - im Bündnis mit Polen und baltischen Staaten?

L: Also, zum Beispiel die Nachbarn der Ukraine wollen Amerika gegenüber Bündnistreue beweisen und rasch einen demokratischen Nachbarn. Zumindest Letzteres ist ein legitimes Motiv.
Amerika sind, behaupte ich mal, die Menschen der Ukraine und Weissrusslands egal. Es will einen Hebel unter die von ihm sonst nicht kontrollierbare Pipelinetrasse kriegen. Und Russland schwächen. Ich glaube, zwei falsche Kalküle, denn beide sparen die Gefahr aus, die ein aus Frustation faschistisch gewordenes Russland birgt. Uns Europäern, uns Gründern, die wir das dann auch noch auszubaden hätten, graust davor. Amerikaner denken anders: "Prima, noch ein Betätigungsfeld für unseren militärisch-industriellen Komplex. Das bringt Umsatz." Das sind nicht mehr die Amerikaner wie zwischen 1914 und 1989 - in ihrer Weisheit und machtvollen Demut!

F: Du kennst doch dieses blöde Ergänzungsspiel, wo der Interviewer einen Satz anfängt und der Interviewte ihn beendet.

L: Du willst blöde Spiele mit mir spielen?

F: Wer, wenn nicht ich?

L: Stimmt auch wieder.

F: Da das EU-Referendum tabu ist, frag ich gar nicht nach Frankreich, sondern frage: Kerneuropa?

L: Ist eine gute Sache und wird täglich wichtiger.

F: Globalisierung?

L: Ist prinzipiell eine gute Sache, hat aber viele scheußliche Nebenwirkungen, die wir nur dann stoppen, wenn Europa groß und mächtig ist.

F: Nordkoreas Atombomben?

L: Halten das verrückte Terrorregime am Leben.

F: Irans Atombomben?

L: Wird es nie geben, weil sie entweder auf dem Verhandlungsweg oder durch einen israelischen Militärschlag verhindert werden.

F: Die Menschen im Sudan?

L: Leiden und sterben weiter, weil China und Amerika dort um Öl pokern, weil der Westen ohnehin mehr gestemmt hat, als er tragen kann, und weil die großartige, bewundernswerte islamische Zivilisation bestimmt irgendwelche guten Gründe hat, warum sie so etwas wie koordinierte uneigennützige Nahrungsmittelhilfe oder Friedenseinsätze nicht auf die Beine bringt, nicht einmal im eigenen Kulturkreis. Schwarzafrika versucht es zumindest, wird aber scheitern.

F: Hoffnung?

L: Ist nur ein Wort, hält aber am Leben.

F: Der Balkan?

L: Ist heute besser dran als vor sechs Jahren. Aber immer noch Europas blutende Wunde.

F: Das Kosovo?

L: Braucht noch lange die Hilfe Europas und der internationalen Gemeinschaft.

F: Die Rolle des Kölner Archivs auf dem Weltjugendtag im August?

L: Ist mir nicht bekannt.

F: Türkische Polizisten, die auf Demonstrantinnen für Frauenrechte einprügeln?

L: Tun das vermummt und vor laufenden Kameras, um die europafreundliche Politik der Regierung Erdogan zu sabotieren.

F: Die Kontrolle über das Ölterminal Ceyhan, dessen Pipeline inzwischen volläuft?

L: War ein schöner Traum von Karl, geht aber nicht in Erfüllung, weil die Entwicklung im Irak verhindern wird, dass die Türkei der EU beitritt.

F: Kurdistan?

L: Ist in diesem Zusammenhang exakt das Problem.

F: Der Irak?

L: Auch wenn Tarik Haschimi von der sunnitischen Islamischen Partei neuerdings Mitwirkung im Verfassungsprozess ankündigt, auch wenn der Schiit Muqtada al-Sadr nationale Versöhnung predigt - das Land steuert auf den Bürgerkrieg zu.

F: Die USA?

L: Können dagegen nichts tun - sie richten Schaden an, wenn sie drin bleiben, aber noch größeren Schaden, wenn sie abziehen. Sie hätten es bleiben lassen sollen. Eine Enthauptungsoperation gegen den Saddam-Clan. Rein. Raus. Basta. Das wäre es gewesen.

F: Der militante Islamismus?

L: Wird täglich stärker, dank der strategischen Begabung unserer amerikanischen Freunde. Man schmeißt nicht den Koran ins Klo. Das macht man einfach nicht. Das bewegt sich auf dem Niveau von Nazibengels, die Bücher verbrennen. Man kann die Ideen des Koran teilen, man kann sie bewundern, ablehnen, auslachen, gleichgültig finden, gar nicht erst zur Kenntnis nehmen - aber man schmeißt das Buch nicht ins Klo. Diese Ebene der Auseinandersetzung ist einfach zu niedrig für die einzige verbliebene Supermacht.

F: Frau Sgrenas toter Beschützer vom italienischen Geheimdienst?

L: Starb definitiv bei einem Unfall.

F: Der Libanon?

L: Ist dank brillant koordinierter Zusammenarbeit von COT und CNM jetzt die syrischen Uniformträger los, aber noch lange nicht die syrischen Krawattenträger - und muss demnächst zeigen, ob er ohne die syrische Ordnungsmacht inneren Frieden hält. Das wird nicht leicht, da die Schiiten sich nach wie vor mit der Terror-Hisbollah identifizieren.

F: Israel und die Palästinenser?

L: Beide Seiten machen eine Zerreißprobe durch, aber sie gehen nach Arafats Tod winzige und immerzu gefährdete Schrittchen in Richtung eines besseren Verhandlungsklimas.

F: Der Tsunami?

L: Hat uns wieder mal gezeigt, dass spektakuläres Leid vor Kameras unendlich viel mehr Interesse und Hilfe mobilisiert, als hundertfach größeres unspektakuläres Leid - ohne Kameras.

F: Herr Barroso?

L: Sollte sich ins Privatleben zurückziehen.

F: Herr Juncker?

L: Hat sich vor Barrosos Posten gedrückt.

F: Die baskische ETA.

L: Ist irgendwann besiegt.

F: Tony Blair?

L: Bleibt höchstens noch zwei Jahre Premierminister, bevor er sich vom deutschen Papst katholisch taufen lässt und so die britische Yellow Press in  kollektive Raserei versetzt.

F: Der russische Präsident Putin?

L: Ist, wie krumm und verrostet auch immer, der einzige Notnagel, der aktuell an diesem Punkt der Welt hält. Er hält Russland - auf der Kippe zwischen Chaos und Faschismus.

F: Gerhard Schröder?

L: Ist ein Reformtragiker, der sich dem nach NRW erwarteten Gewürge entschlossen entzogen hat.

F: Angela Merkel?

L: Muss sehr gut sein, denn falls sie als Kanzlerin versagt, rutscht Deutschland in eine schwere Demokratiekrise.

F: George Bush?

L: Ist früher als erhofft auf dem Weg zur lahmen Ente.

F: Silvio Berlusconi?

L: Wer?

F: Dein Kommentar im und zum Schiller-Jahr?

L: "Laß es jetzt gut sein, Seni. Komm herab. Der Tag bricht an, und Mars regiert die Stunde. Es ist nicht gut mehr operieren. Komm! Wir wissen gnug." Das "e" fehlt übrigens wirklich im Text!

F: Klingt nach Wallenstein. Aber das hast du vorher heimlich auswendig gelernt.

L: Schon möglich.

F: Und jetzt das offizielle Gründerstatement zum Cervantes-Jahr?

L: Die beste Anleitung zum Frieden sind Ritterromane. Zumal die selbstironischen.

F: Danke für das Gespräch!

Das fünfte widerwort (Köln, 30.08.05)

F: Hattest du einen schönen Sommer?

L: Danke, inzwischen kann ich wieder schlucken, ohne dass es wehtut.

F: Salut dem eingebildeten Kranken!

L: Abgesehen von meiner Querschnittslähmung ... du bist ein fieser Hund!

F: Ich habe nie das Gegenteil behauptet. Doch wenn ich fieser Hund ein vereinbartes Gespräch nicht führen kann oder darf oder meinethalben auch nicht führen will, dann sage ich ordentlich ab, statt kränkliche Ausflüchte zu suchen. Und wenn ich schon Ausflüchte suche, dann lasse ich mich nicht auf die Seychellen fliegen, um dort meine eingebildeten Schluckbeschwerden zu kurieren. Wie fährt übrigens dein Rollstuhl auf dem Sandstrand? Kommt die Elektrik mit dem Salzwasser zurecht?

L: Du überspannst.

F: Nein - ihr habt den Bogen überspannt, als euer Projekt Europa in die Krise taumelte. Ihr wart plötzlich nicht zu sprechen, und ich musste mir Kommentare aus den Rippen leiern.

L: Ich lass mich nicht provozieren.

F: Abwarten! Ich hab gehört, princeps Czartoryski nähme Europas Schwächeanfall hin, um die Erweiterungsgeschwindigkeit zu senken, und letztlich die Türkei draußen zu halten?

L: Du glaubst doch selber nicht, dass Karl bei so was mitspielt!

F: Er ist nur der gewählte Nachfolger. Sofern ich eure Verfassung richtig interpretiere, verpflichtet sie ihn zum Gehorsam.

L: Hm.

F: Was - hm?

L: Europa geht fünf Schritt vor und stolpert viereinhalb zurück. Das ist unser Rhythmus ...

F: ... der auf der Ratskonferenz thematisiert wird?

L: Allseits respektierte Tradition sorgt dafür, dass die Belange des Gastgebers auf der Jahrfünftkonferenz nicht im Vordergrund stehen.

F: Wenn also ein Rat dem anderen richtig schaden will, dann wartet er tunlichst auf den Moment, wo die Gastgeberrolle sein Opfer knebelt?

L: Das kann man so sehen.

F: Der Glanz des Gastgebers wird erkauft durch Belastung, ja Risiko?

L: Deshalb losen wir ihn aus.

F: Wie manipuliert ihr das Los?

L: Kennst du die Wahlverfahren in Venedigs Großem Rat?

F: Ungefähr.

L: Gut, bei der Auslosung wird pro Rat eine Kugel in ein silbernes Alabastron gelegt ...

F: ... ein tropfenförmiges Gefäß ohne Hals, mit enger Öffnung.

L: Ja. Die Kugeln werden ordentlich geschüttelt. Dann beginnt die Auslosung. Der Gastgeber vom letzten Mal lost nicht mit, kann jedoch sehr wohl wieder ausgewählt werden - so ist es uns diesmal ergangen. Die übrigen Räte losen untereinander ihre Reihenfolge aus.

F: Wie?

L: Der Gastgeber vom letzten Mal trägt mit beiden Händen einen Stamnos, also einen bauchigen Krug mit Glastäfelchen, in die goldene Nummern eingegossen sind, so, dass man sie nicht ertasten kann. Er wird mit verbundenen Augen in den Kreis der Übrigen gestellt. Er dreht sich um die eigene Achse, wobei er laut von 33 rückwärts zählt. Dann tritt er vor und trifft dabei im Kreis auf einen Kollegen, den er vorher unmöglich bestimmen kann. Der zieht zuerst seine Nummer aus dem Gefäß, selbstverständlich blind. Dann wird im Uhrzeigersinn weiter gezogen, bis jede Position vergeben ist. In dieser Reihenfolge tritt nun jeweils ein Vertreter an das Alabastron mit den Ratskugeln, schüttelt es und lässt eine einzige Kugel herausrollen.

F: Die Öffnung solcher Gefäße ist zwar eng aber halslos. Rollen da nicht manchmal unbeabsichtigt zwei oder mehr Kugeln raus?

L: Das kommt zwar vor, gilt jedoch als extrem unelegant. In dem Fall beginnt das Losverfahren ganz von vorn. Läuft alles korrekt, dann scheidet der Rat aus, den die herausgerollte Kugel benennt. So geht es Kugel um Kugel. Zum Schluss, bei der letzten Ziehung, deren Ausübender anfangs völlig unkalkulierbar ist, sind noch zwei Kugeln im Alabastron. Eine lässt der Ausführende herausrollen. Die verbleibende Kugel bezeichnet den Rat, der zum Gastgeber wird. Das Verfahren ist also in hohem Maße sicher vor Manipulation.

F: Dann habt ihr einfach Pech gehabt?

L: Wenn du so willst. Andererseits beinhaltet die Rolle des Gastgebers natürlich den Vorsitz der Konferenz und damit, um nur ein Beispiel zu nennen, das Privileg, ein Problem so lange auf der Tagesordnung zu halten, bis die Lösung gefunden wird, und sei es nur, weil die Kontrahenten entnervt aufgeben.

F: Kündigt Miaulis deshalb in Columnae an, die Konferenz könnte sich über den Jahreswechsel 2005/2006 hinaus ziehen?

L: Das hast du gesagt.

F: An welchem Thema hängt es?

L: Ich sage nicht, unsere Konferenzleitung verfolgt diese Taktik. Ich stelle nur ganz allgemein Erwägungen an.

F: Hab dich nicht so! Die übrigen Räte merken doch als erste, was ihr spielt.

L: Du hast noch längst nicht alle Implikationen unserer Rolle verstanden. Wir können das Thema unserer Wahl in der Diskussion halten. Wir können aber auch beliebig lang verhindern, dass ein anderes Thema überhaupt diskutiert wird ... oder sogar eine Mehrzahl von Themen.

F: Es wäre also theoretisch denkbar, dass ihr jemand ziemlich heftig ärgert - und der zwingt euch dafür eine Kraftprobe auf, indem er die EU sabotiert.

L: Oder umgekehrt.

F: Jemand sabotiert die EU - und dafür ärgert ihr ...

L: Genau. Auch so rum.

F: Dieses Hickhack wirkt nicht besonders souverän.

L: Wir sind nicht souverän. Wir sind bedingte Menschen. Stark nur durch unsere Machtmittel, stark durch Zusammenhalt, am stärksten vielleicht durch organisierte Erfahrung. Jenseits dessen sind wir schwach und fehlbar. Wer was von Souveränität erzählt, der lügt.

F: Auch der Selbstmordattentäter?

L: Das gehört nun wirklich nicht hierhin.

F: Wer stellt die Fragen?

L: Dir ist aber schon klar, dass wir hier mit zwei unterschiedlichen Souveränitätsbegriffen operieren, die nur im Wortspiel zusammenpassen? Also gut - vielleicht ist der ganz und gar freiwillige Selbstmordattentäter souverän, aber die meisten von der Sorte sind Produkte ihres Umfelds, um nicht zu sagen ideologisch-religiöser Gehirnwäsche.

F: Wie sicher ist eure Konferenz vor ihnen?

L:  Absolut sicher vor Angriffen von draußen. Für die innere Sicherheit haben wir Geiseln ausgetauscht. Solange es unter den Teilnehmern keinen Verräter gibt ...

F: ... das zielt auf CLU!

L: Aber nie im Leben!

F: Wie beurteilt ihr die Initiativen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens, Irans Atomrüstung unter Kontrolle zu bringen?

L: Wir befassen uns damit, seitdem Iran sich Nickel 63 für Zünder und Tritium Targets beschafft hat ... nicht gerade klassisches Equipment für die friedliche Nutzung der Kernenergie ...

F: ... stand übrigens auch im deutschen Magazin DER SPIEGEL ...

L: ... das viele gute Quellen hat.

F: Kommt die iranische Atombombe?

L: Nein. Vorher schlägt Israel zu. Oder wir. Europa hat dem Iran eine sehr privilegierte Partnerschaft angeboten, wirtschaftlich und wissenschaftlich ... der einzige Preis war Irans Verzicht auf die waffentechnisch interessante Urananreicherung ... es kam in den Verhandlungen überhaupt nicht zur Sprache, wie unverschämt offen Iran sich schon heute im schiitischen Süden Iraks einmischt ...

F: Was ja eigentlich die natürliche und von euch selber prognostizierte Entwicklung nach der verfehlten US-Militäroperation ist.

L: Durchaus. Darüber haben die Europäer kein Wort verloren, nicht einmal die Briten, die rings um Basra nun wirklich schlimme Probleme mit den iranischen Geheimdiensten haben. Statt dessen boten sie enorme Privilegien als Gegenleistung für Irans Verzicht auf die Bombe - bis hin zur Hilfe bei der zivilen Nutzung. Aber Irans neuer Präsident Ahmadinedschad und seine Eiferer wollen keinen Deal. Schade - nun bekommen sie Konflikt. Und weil Amerika das jetzt nicht zusätzlich stemmen kann, kümmert sich jemand anders. In dieser Frage jedenfalls hält der alte Westen zusammen.

F: Während die Revolte europäischer Justizbehörden gegen die amerikanische Antiterrorpolitik schwelt?

L: Ja sicher! Wir sind strikt gegen Entführungen aus westeuropäischen Ländern in Richtung arabischer Foltergefängnisse, aber ebenso strikt gegen Irans Bombe.

F: Ist es nicht Irans gutes Recht, Atombomben zu besitzen oder zumindest die Atomenergie friedlich zu nutzen?

L: Warum sollte ein so mit Öl gesegnetes Land Atomkraftwerke bauen? Aber bitte, soll es welche bauen, das ist doch gar nicht unser Problem. Unser Problem beginnt, wenn Uran angereichert werden soll ... da frage ich mich: Ist die zivile Nutzung nur der Vorwand? Ein technologischer Einstieg? Der Reaktor Bushehr braucht kein schweres Wasser - warum wird in Arak schweres Wasser produziert? Und was die Bombe angeht - willst du mit einem Staat, dessen Führung gelegentlich eine komplette ausländische Botschaft in Geiselhaft nimmt, über den Atomwaffensperrvertrag diskutieren?

F: Iran braucht nur mit dem Finger zu schnipsen und die Lage im schiitischen Teil des Irak verkompliziert sich. Iran kann auch in Afghanistan dem Westen erheblichen Schaden zufügen. Es kann am Ölpreis drehen. Müsstet ihr mit diesem Land nicht höflicher umgehen?

L: Wie höflich denn noch? Die IAEA hat sich geduldig belügen lassen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien sind dem Iran sehr weit entgegengekommen. Teheran will offenbar keinen Deal, es will die Bombe. Wir haben lange genug zugewartet. Sollen wir hoffen, dass Irans Führer mit der Bombe so kühl und vergleichsweise verantwortungsbewusst umgehen, wie Russen und Amerikaner im Kalten Krieg?

F: Über Amerikas verantwortungsvolle Politik in Hiroshima und Nagasaki könnte man streiten.

L: Deshalb sprach ich ja vom Kalten Krieg, nicht vom Zweiten Weltkrieg. Jedenfalls ... hat Iran erst mal die Bombe, wird Hisbollah sie eines Tages gegen Israel einsetzen. Es ist schlimm genug, dass wir Atomwaffen berücksichtigen müssen, wo sie schon existieren, siehe Nordkorea. Wir brauchen wirklich nicht noch mehr davon. Nicht im Iran.

F: Eine doppelzüngige Strategie. Ziemlich unfair.

L: Ja, unfair gegenüber dem Terrorexporteur Iran, der mit der Bombe offensive Ziele in der Region verfolgt, zumal gegen Israel.

F: Will der Iran sich womöglich nur davor schützen, Iraks Schicksal zu erleiden? Eine einzige gut versteckte Atombombe - und die Amerikaner ließen die Mullahs zähneknirschend in Ruhe?

L: Die Amerikaner werden nicht auch noch in den Iran einmarschieren, so wahnsinnig sind sie nun doch nicht. Insofern dürfen die Mullahs sich absolut sicher fühlen. Ich sage dir - es geht gegen Israel.

F: Das selber Atommacht ist - und ihr habt keine Einwände?

L: Benutzt Israel die Bombe offensiv? Nein. Und ebendas kann man, bei allem Abscheu vor dem nordkoreanischen Mordregime, auch Pjöngjang nicht vorwerfen, dass es seine Bombe offensiv einsetzt. Es nutzt ihr Erpressungspotenzial, um das eigene Überleben zu sichern. Schlimm genug. Aber wen sollte Nordkorea mit der Bombe je offensiv bedrohen? Die Riesen Japan, China, Russland? Südkorea? Amerika? Nein, diese drei Bomben, die israelische, die nordkoreanische und die iranische, sind zwar von gleicher Zerstörungskraft, doch von ganz unterschiedlicher politischer Qualität. Die islamische Bombe ist die weitaus gefährlichste.

F: Wie passt das zu Bucholtz' Engagement für Pakistan, den schlimmsten Übeltäter bei der Proliferation atomaren Know How's?

L: Zunächst engagiert sich Karl für die indisch-pakistanische Aussöhnung, gerade um den Konflikt zweier Atommächte zu verhindern. Zweitens stehen wir dort vor vollendeten Tatsachen. Ob nun Abdul Qadir Khan zur Strafe einen Autounfall hat oder in Frieden senil werden darf - den Schaden hat er längst angerichtet. Und es ist wohl so, in gewissen Grenzen natürlich, dass Karl Präsident Musharraf als verlässlichen Partner schätzt, den er nicht durch symbolische Härte destabilisieren möchte, denn auch der pakistanische Präsident ist ja nur ein Mensch im Gestrüpp seiner Bedingungen ...

F: ... und muss seine mächtige islamistische Opposition bändigen ...

L: ... die überdies Teile des pakistanischen Geheimdienstes kontrolliert.

F: Verzeiht ihr Musharraf den unangekündigten Test von Marschflugkörpern, Reichweite 500 Kilometer?

L: Das nehmen wir zur Kenntnis ohne es zu kommentieren.

F: Und wenn sich Iran sicherheitspolitisch nach Osten ausrichtet, nach Indien und China?

L: Das diskutieren wir erst öffentlich, wenn es soweit gekommen ist.

F: Welche Rolle spielt CLU bei der Eindämmung atomarer Strategien in der islamischen Welt?

L: Öffentlich eine konstruktive. Insgeheim eine destruktive.

F: Du bist heute sonderbar undiplomatisch! Schadet die offene Sprache nicht dem Klima der Konferenz?

L: Welchem Klima?

F: So schlimm?

L: Die aktive Führungsgeneration erinnert nichts Schlimmeres.

F: Seit wann gibt es die Jahrfünftkonferenz der Räte?

L: In ihrer jetzigen Form seit 1895.

F: Wie bewertet ihr die chinesisch-pakistanische Allianz bei der UNO-Reform? Die Pakistani gegen Indiens Sicherheitsratssitz. Die Chinesen gegen Japans Sitz. Und beide damit zugleich gegen Deutschland.

L: Braucht Deutschland diesen Sitz im UN-Sicherheitsrat? Für was? Hat irgendjemand in Berlin mal durchgerechnet, was das kostet - und ich spreche jetzt gar nicht vom Geld? Der Sitz im UN-Sicherheitsrat verlangt von seinem Inhaber Kriegsführungsfähigkeit, den Willen, gegebenenfalls militärische Gewalt einzusetzen. Das heißt, Deutsche müssen irgendwo auf der Welt gezielt Menschen töten und es auszuhalten, wenn in Köln-Wahn die eigenen Soldaten im Zinksarg heimkommen. Ist Deutschland wirklich schon so weit? Sind wir schon wieder so normal? Ich glaube kaum.

F: Bucholtz hatte seit jeher Probleme mit den militärischen Implikationen der Wiedervereinigung.

L: Okay, wenn du die Frage personalisieren willst: Von dem polnischen Patrioten Czartoryski besonders eifrigen Einsatz für einen deutschen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erwarten, wäre ein bisschen viel verlangt. Hat Deutschland zur Zeit nicht genug nationale Probleme? Lebt es nicht international ganz komfortabel, so wie die Dinge liegen?

F: Du meinst, dass es zwar nichts entscheiden kann, aber weltweit zweitgrößter Truppensteller ist und bis zu einem Zehntel der UNO finanziert?

L: Ja, das ist eine Hälfte der Wahrheit. Die andere Wahrheit lautet: Deutschland kann nach Belieben ja oder nein sagen. Es kann tatsächlich selbstbestimmt handeln, ohne die Fesseln besonderer Verantwortlichkeit, die ihm ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat auferlegen würde. Heute kann Deutschland sich bitten lassen. Und erst, wenn es keinen Sitz bekommen hat ... überleg doch mal, was für eine Steilvorlage: "Nein. Wir? Warum sollten wir aktiv helfen? Uns wollte man nicht in der Runde der Entscheider - warum sollten wir jetzt finanzieren? Was gebt ihr uns dafür, wenn wir  trotzdem über unseren Schatten springen? " Das ist doch geradezu ideal!  Bitte - es ist kein Drama, wenn Deutschland den Sitz bekommt, aber wir forcieren das nicht, zumal es innereuropäisch Unfrieden stiftet ...

F: Du meinst den Cavaliere?

L: Den und auch die Spanier, die Briten und die Polen und die Österreicher und die Holländer, die allerdings viel diplomatischer auftreten.

F: Was ist an den italienischen Vorwürfen dran, Deutschland würde afrikanische Staaten mittels Entwicklungshilfe unter Druck setzen?

L: Na, wenn's doch nur so wäre! Wenn die deutsche Diplomatie sich dazu durchringen könnte, zu sagen: Wir geben euch seit Jahrzehnten Milliarden für eure Armen. Ihr baut mit den Milliarden Paläste für eure Reichen. Wir drücken beide Augen ganz fest zu, aber diesmal brauchen wir eure Hilfe und erwarten von euch, dass ihr uns nicht ins Gesicht spuckt. Aber das ist ja gar nicht so. Die Quelle bürgt doch zuverlässig für die Unwahrheit der Nachricht.

F: Bitte?

L: Ist doch wahr! Wenn Berlusconi behauptet, seine Furze stinken, dann geht man besser davon aus, dass er sie demnächst als Herrenduft vermarktet!

F: Wie ist eigentlich die Position des Elfenbeinrates auf der Konferenz?

L: Schwach. Arm. Uneins. Desavouiert von Brutalität. Der Kongo. Der Irre Chef Mugabe von Simbabwe. Südafrikas prekäre Lage, denk nur an die jüngsten Streiks in den Goldminen. Die neue Hungerkatastrophe im Niger - als die sich zum Jahreswechsel 2004/2005 anbahnte, war vermeintlich der Tsunami wichtiger. Jungfrauensex gegen Aids. Die sudanesische Provinz Darfur. Westafrikas failed states. Kindersoldaten und palavernde Männer neben Frauen, die sich auf dem Feld krummschuften  ...

F: ... der gierige, tödliche Einfluss von England, Frankreich, Amerika, China ...

L: ... ja, durchaus! Und die hausgemachte unvorstellbare Korruption. Und der Tribalismus, der immer neue Blüten von Völker- und Religionshass treibt. Und der Aberglaube ...

F: ... und der schreckliche Mangel an Schulen!

L: Ja, durchaus - aber auch die zigtausend Schulen, die einmal existiert haben und in den fünfzig Jahren seit der Entkolonialisierung zerschlagen worden und verrottet sind. Die funktionierenden Straßen und Eisenbahnen, die es einmal gab und jetzt nicht mehr gibt ... versteh mich nicht falsch! Afrika braucht unsere Hilfe. Aber viele seiner Probleme, die wir reflexhaft als Spätfolgen des Kolonialismus auf unsere Kappe nehmen, sind in Wahrheit hausgemacht. Wir brauchen eine viel unsentimentalere Sicht auf Afrika.

F: Nämlich?

L: Die Geber müssen endlich wirksam kontrollieren. Bislang geben sie aus Schuldkomplexen und humanitären Erwägungen heraus vielfach, ohne zu kontrollieren, weil durch wirksame Kontrolle angeblich die Staaten Afrikas in ihrer Ehre und Souveränität beeinträchtigt würden ...

F: ... aber auch, weil der Export der Geber so am ungehindertsten Geschäfte macht.

L: Natürlich! Im Ergebnis schaltet und waltet dann so eben eine korrupte Politikerkaste nach ihrem Gutdünken mit dem Geld.
Dann müssen bestimmte Nahrungsmittelhilfen aufhören, weil kostenlose Lebensmittel die heimischen Märkte kaputtmachen. Um Afrika zu helfen, muss es auch ein Stück weit aus der Globalisierung entlassen werden - es ist für die Menschen besser, wenn sie ihre eigenen Nahrungsmittel produzieren, als wenn sie auf ihrem Land Edelböhnchen für den Pariser Großmarkt anbauen. Das klingt jetzt widersprüchlich, aber zugleich müssen Handelshemmnisse abgebaut werden.
Und die Strukturen auf der Geberseite müssen umlernen. Ich verstehe ja durchaus, dass die Geberbürokratie sich am liebsten mit einer Empfängerbürokratie kurzschließt, aber der fünfzigjährige Test hat gezeigt: Das bringt nichts. Statt großer Delegationen in vollklimatisierten Hotels brauchen wir ein paar Dutzend Büros auf dem Land, wo sich Fallentscheider der Geber mit ganz simplen Fragen auseinandersetzen: Neubauer X möchte 500 Euro Kredit für Saatgut. Großstädterin Y braucht einen Überbrückungskredit von 500 Euro, um mit dem Einkauf neuer Ware ihren Marktstand am Leben zu halten. Das Geld muss direkt an die Leute. Dass man dabei Fehler macht und Geld auch verschwendet, sogar auf Betrüger reinfällt, ist mir völlig klar, aber per Saldo wäre es die effektivere Methode.

F: Und wer verhindert diesen plausiblen Lösungsansatz?

L: Die Bürokratien beider Seiten. Die Empfängerbürokraten, weil sie komplett entmachtet würden. Die Geberbürokraten, weil sie aus ihren vollklimatisierten Hotels und Büros rausmüssten in Wellblechhütten, wo in der Mittagshitze das Hirn verbrutzelt.  

F: Was bewirken Bob Geldofs Konzerte?

L: Nichts - außer gutem Gewissen bei naiven Fans ... nein, ich will fair sein ... ein paar Euro erreichen sicher die Bedürftigen. Und was den Schuldenerlass für ohnehin zahlungsunfähige Staaten angeht ... na ja. Die Hilflosigkeit gegenüber Afrikas Problemen wurde auch dadurch noch verschärft, dass die Londoner Anschläge ausgerechnet den G-8-Gipfel in Gleneagles trafen. Ich finde, nichts zeigt den Zynismus der Islamisten deutlicher, als die Wahl dieses Termins für einen Anschlag. Sie verachten alles - außer ihrem eigenen Aberglauben.

F: Erhebt der afrikanische Elfenbeinrat konkrete Forderungen auf eurer Konferenz?

L: Ja. Im Verbund mit CLU fordert er mindestens zwei afrikanische ständige Sitze im Weltsicherheitsrat, bei vollem Vetorecht.

F: Dein Tonfall verrät: Du hältst die Forderung für unberechtigt.

L: Das ist nicht die Frage. Sie ist genauso berechtigt, als würde ich aus meinem Rollstuhl heraus beim olympischen Stabhochsprung mitmachen wollen. Der Wunsch ist absolut berechtigt. Aber nicht besonders sinnvoll.

F: Wohingegen Indien und Japan?

L: Absolut.

F: Brasilien oder Argentinien?

L: Absolut. Ich kritisiere ja auch gar nicht den Wunsch nach zwei afrikanischen Sitzen, zumal, wenn einer an das subsaharische Afrika, der zweite an das muslimische Ägypten fiele. Mich stört nur die Überdrehtheit des Verlangens nach dem Vetorecht.

F: Das klingt seltsam aus dem Mund eines Rates, zu dessen Raum immerhin drei Veto-Mächte gehören: England, Frankreich, Russland.

L: Wenn du unsere Kooperation mit China in Betracht ziehst, beeinflussen wir sogar vier von fünf Vetomächten. Und? Hat uns das vorm Irakkrieg irgendwie geholfen?

F: Wie viel Raum nimmt diese Diskussion auf eurer Konferenz ein?

L: Leider zu viel.

F: COT benutzt seine Macht über die Tagesordnung, um diese Diskussion einzudämmen?

L: Ja.

F: Was verhandelt ihr statt dessen?

L: Wichtigeres. Aber CEB, CLU, CID, CMO und CNM sehen das vermutlich anders.

F: Das riecht nach Isolation.

L: Nein, COR steht fest an unserer Seite.

F: Ist das nicht, bei allem Respekt, zu wenig - verglichen mit Zeiten, in denen manchmal kein Blatt Papier zwischen COT und CNM passte?

L: Das waren andere Amerikaner bei CNM.

F: Hat eigentlich CNM die Veränderungen in den USA herbeigeführt, die den Westen immer weiter auseinanderdriften lassen - oder vollzieht der Neuweltrat eher notgedrungen jene Entwicklungen nach, die Bush-Amerika so überaus charmant machen?

L: Imperiale Tendenzen hatte CNM seit dem Fall der Mauer, eigentlich zeit seines Bestehens. Aber diese religiöse Grundierung der US-Gesellschaft, die ist CNM, auch wenn sie das nie zugeben würden, schlicht unheimlich.

F: Sind diese Entwicklungen unumkehrbar? Lässt sich der Riss nochmal kitten?

L: Wenn nicht, dann gehen wir schweren Zeiten entgegen, jedenfalls solange, bis ihr doppeltes strukturelles Defizit in Haushalt und Handelsbilanz die USA auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

F: Wobei ich mich frage, ob wirtschaftliche Probleme nicht die Flucht in religiöse Scheinsicherheiten noch verstärken würden.

L: Wir sind nicht übertrieben optimistisch. Erst vor ein paar Wochen hat wieder ein US-Bundesstaat die Evolutionstheorie vom Lehrplan gestrichen. Helmut Schmidt hat einmal die Sowjetunion ein Obervolta mit Atombomben genannt. Wenn Amerika so weitermacht, dann wird es zum Kirchenchor mit Atombomben.

F: Einer der großen Erfolge der Millenniumskonferenz 2000 war die Fusion des südamerikanischen und des karibischen Rates zum gemeinsamen lateinamerikanischen Rat CNO. Wie wirkt sich das aus?

L: Nicht so positiv, wie wir uns das gewünscht haben. Es geht Lateinamerika heute zwar besser als vor zwanzig Jahren, doch die letzten fünf Jahre seit der Millenniumskonferenz haben den meisten Ländern wirtschaftliche Stagnation beschert, vielen sogar Rückschritt. Und dabei spreche ich nicht einmal von den notorischen Problemfällen Bolivien, Kolumbien, Peru, Haiti, Venezuela oder Kuba. Fest steht: Die neue Gemeinsamkeit konnte nicht produktiv eingebracht werden in den Dialog mit den USA - so ist ja auch die gemeinsame Handelszone nicht recht voran gekommen. Überall hemmen religiöser Wildwuchs, Drogenbarone, Globalisierungsprobleme, Überschuldung, berechtigte Freiheitskämpfe und ganz gemeine terroristische Bewegungen, Todesschwadronen der Sicherheitskräfte und ganz gewöhnliche Kriminalität. Allein bei dem Krieg in Kolumbien, den Drogenbarone, USA und rechtsextreme Söldner einträchtig gegen ein paar versprengte Kommunisten führen, wurden in den letzten zehn Jahren dreitausend Gewerkschafter ermordet ... und man schätzt etwa zwei Millionen Landflüchtige. Der Chef der rechten Paramilitärs war früher engster Freund von Pablo Escobar, dem damaligen Boss des Medellinkartells.

F: Also überall auf der Welt failed states und speziell in Lateinamerika ein failed council?

L: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Wenn überhaupt "failed council", dann in Afrika. Wenn aber - bei aller Aufmerksamkeit, die der Vormarsch evangelikaler Bewegungen in Lateinamerika verdient - CNO als Gegenmaßnahme eine praefectur zur Förderung und Vernetzung von Voodoo-Kulten einrichtet, dann habe ich meine Schwierigkeiten damit.

F: Ist das nicht kulturelle Arroganz, typisch europäisch?

L: Nenn es, wie du willst - es ist meine private Meinung. Am Konferenztisch wird Consilium Novum selbstredend gleichberechtigt behandelt. Allerdings - die Probleme werden offen angesprochen. Vielleicht sieht unsere Jahrfünftkonferenz im Rückblick doch nicht ganz so übel aus, denn eins muss man ihr zugute halten: Sie hat die letzten Reste von political correctness aus der Diskussion der Räte vertrieben.

F: Du kritisierst ausgiebig die Fehler anderer Räte. Über die Katastrophe der EU schweigst du dich aus.

L: Die ist ja auch gar nicht so groß, wie du sie darstellst. Bleib mal bei deiner Eingangsthese, von einer maßgeschneiderten Krise, aufgrund derer kein Beitritt der Türkei erfolgt.

F: Du verblüffst mich.

L: Dafür werde ich bezahlt.

F: Maßgeschneiderte Krise würde bedeuten: Unser Freund Bucholtz, der successor, hat im Rat der Dreiunddreißig eine schwere Niederlage kassiert.

L: Fortunas Rad dreht sich: Mal ist man oben und mal unten.

F: Was hat den Stimmungswandel im Rat bewirkt?

L: Zwei Dinge. Die Menschenrechtssituation in der Türkei. Die ist schlimm. Trotzdem war sie nicht das Kriterium, denn jeder Informierte weiß, dass europafeindliche Kreise in Polizei und Streitkräften der Türkei Menschenrechtsverletzungen gezielt begehen und publik werden lassen, gerade um die europäische Perspektive der Türkei zu verbauen. In diesem Punkt ist die Regierung Erdogan nicht Täter, sondern Opfer ihres Generalstabs. Habe ich "zwei" Dinge gesagt?

F: Ja.

L: Ich korrigiere: "drei" Dinge. Punkt zwei: Zypern. Hier ist Erdogan der originäre Täter. Er will, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird ... Europäische Union ... wie der Name schon sagt, eine Gemeinschaft. Wieso will die Türkei in eine Gemeinschaft aufgenommen werden, bestreitet aber zugleich einem bereits existierenden Mitglied dieser Gemeinschaft, sprich Zypern, das Existenzrecht? Die Türkei will von einer Familie adoptiert werden -  will aber von bestimmten Geschwistern nichts wissen. Das geht vom Grundsatz her nicht. Drittens - und hier hat die Türkei wirklich historisches Pech: Der Irak löst sich auf. Damit entsteht an der türkischen Südgrenze ein kurdischer Staat, wodurch die Türkei früher oder später in kriegerische Auseinandersetzungen hinein gezogen werden wird. Dieses blutige Chaos kann und will Europa sich, mit Verlaub, nicht ans Bein binden. Das sollen bitte die Amerikaner lösen, die es angerichtet haben.

F: Maßgeschneiderte Krise würde auch bedeuten: Ihr habt linke und rechte Globalisierungsverlierer und Ängstliche in Frankreich und den Niederlanden bei den Volksabstimmungen, also eure natürlichen Feinde, gegen euer eigenes Projekt in Stellung gebracht.

L: Wenn du unseren, ich nenne ihn mal "Stellenplan", in Akte Orgacons sorgfältig liest, fällt dir bestimmt auf, dass wir neben den legaten bei den Freunden auch "legati ad adversarios" unterhalten, also legaten zur Manipulation gesellschaftlicher Gruppen, denen wir in prinzipieller Gegnerschaft gegenüberstehen. Gelegentlich müssen diese Leute was zu tun bekommen.

F: Hätten sie nicht die Volksabstimmungen zugunsten der Verfassung umdrehen können? Warum geschah das nicht? Ein bisschen wirken deine Andeutungen, als wolltet ihr nach dem ersten Schreck, der euch den Atem verschlug, die furchtbare Niederlage jetzt umdeuten in strategische Absicht.

L: Mit diesem Zweifel muss die Welt leben. Was geschehen ist, ist geschehen. Es war nicht unsere erste Option. Aber es ist auch nicht die Katastrophe, die du analysieren möchtest.

F: Maßgeschneiderte Krise, um den Begriff ein letztes Mal zu verwenden, würde auch bedeuten, Tony Blair hätte euch beim EU-Gipfel einen Dienst erwiesen gegen gestandene Europäer wie Juncker.

L: Dass wir mit Junckers Weigerung, den Kommissionsvorsitz zu übernehmen, nicht glücklich sind, daraus haben wir kein Hehl gemacht.

F: Und dafür straft ihr ihn jetzt so ab?

L: Wer straft? Es gab für ihn die Traumrolle, die hat er geschmissen, zugegebenermaßen aus einem honorigen Motiv, weil er sein Wahlversprechen nicht brechen wollte. Er kann sich doch jetzt nicht beklagen, wenn wir ihn für andere Zwecke einsetzen. Wir können doch langfristige Strategien nicht abhängig machen von der persönlichen Lebensplanung eines Herrn Juncker.

F: Er beklagt sich doch auch gar nicht. Aber ich beklage das zerrüttete Europa, das ihr uns zumutet. Wie soll es je ordnend eingreifen in die Wirren der Globalisierung - in diesem Zustand?

L: Gut, wollte ich dir ausweichen, könnten wir uns zunächst darüber unterhalten, ob dies unser primäres Ziel für Europa ist. Ich könnte einwenden, dass wir die EU befördern, allein um strukturelle Kriegsführungsunfähigkeit innerhalb Europas herbeizuführen, ohne uns groß über wirtschaftliche Modelle Gedanken zu machen. Aber du hast schon recht. Wir wünschen uns Europa als Ordnungsfaktor in den Globalisierungswirren. Das ist jedoch, natürlich auch auf unserer Konferenz, eine brisante Geschichte. Die Marktöffnung ist zum Beispiel China vom Westen aufgezwungen worden ...

F: Deng Xiaoping hat ...

L: ... nein, nicht Deng Xiaoping! Chinas Gedächtnis beginnt in dieser Hinsicht mit den Opiumkriegen, so wie Japans Gedächtnis mit Commodore Perry beginnt. Das war das Ende der Autarkie im Reich der Mitte und im Tokugawa-Shogunat. Bis zum jeweiligen Einschnitt waren beide Großreiche relativ autarke Monolithen, ihren eigenen Schwankungen zwar unterworfen, doch nicht den Schwankungen der Weltwirtschaft.

F: Naja, abgesehen davon, dass zum Beispiel China im siebzehnten Jahrhundert aus der Mandschurei die landfremde Ts'ing-Dynastie übergestülpt bekam. Abgesehen von der Handelsexklave Deshima, wo Japans Handel mit Westeuropa abgewickelt wurde, ferner vom chinesisch-japanischen Handel abgesehen, von den Teekarawanen durch Russland ... so autark war das alles nicht.

L: Trotzdem! Weit autarker als beispielsweise Nordamerika unter Engländern und Franzosen, das spanisch-portugiesisch kolonisierte Lateinamerika und die Küstenregionen Afrikas. Aber okay, ich sehe ein, dass unsere Diskussion ausufert. Heute hat jedenfalls China gelernt, vom zügellosen Kapitalismus bar aller Rechtsstaatlichkeit zu profitieren. Und hier bedient sich China, um seine anderthalb Milliarden Menschen zu ernähren. Zweihundert Millionen leben gut. Dreihundert Millionen leben ordentlich. Eine halbe Milliarde erträglich. Eine weitere halbe Milliarde jedoch lebt unter nach wie vor unerträglichen Bedingungen. Bei alledem werden heute schon die Folgen der Ein-Kind-Politik sichtbar. Es gibt ernsthafte Modellrechnungen, die kommen zum Ergebnis, dass China vergreist, noch bevor es wohlhabend wird. Das Riesenreich steht täglich vor der Zerreißprobe. Kommt sie - gibt es nur einen Notausgang, denselben Irrweg, den die Japaner zwischen 1905 und dem Ende des Zweiten Weltkrieg beschritten haben, den Krieg um die Hegemonie im Pazifik.
Kurzum, die Chinesen haben gelernt, von der zügellosen Globalisierung zu profitieren. Nun kommen wir daher und sagen: Stopp, Freunde, so geht das nicht weiter. Wir haben ein Spielchen angefangen und merken immer deutlicher, dass wir dabei verlieren können. Jetzt wollen wir die Regeln ändern. Natürlich findest du auf chinesischer Seite dafür nur sehr begrenzt Verständnis.
Aufseiten Amerikas, des eigentlichen Initiators der Globalisierung, liegen die Dinge noch ein wenig anders. Amerika braucht nirgends militärische Rücksicht zu nehmen. Das schlägt sich in der völligen Schamlosigkeit seiner Unlogik nieder. Amerika spürt inzwischen deutlich die Belastungen der Globalisierung, zumal im Pazifik. Also fährt es unbekümmert zwei widersprüchliche Strategien. Es drängt auf Globalisierung, wo es seinen Exporten nutzt, beziehungsweise den günstigen Einkauf unverzichtbarer Rohstoffe erleichtert. Wo jedoch seine heimische Industrie gefährdet ist, macht Amerika zunehmend schamlos in Protektionismus, sei es durch Zölle, Subventionen oder juristische Obstruktion in der Welthandelsorganisation.

F: Siehe zum Beispiel den neuen US-Botschafter Timken in Deutschland. Ein Kugellagerfabrikant. Die USA nehmen seinen deutschen Mitbewerbern auf dem US-Markt wettbewerbswidrige Strafzölle ab und schenken seiner Firma dieses Geld als Subvention. Das ganze nennen sie dann Freihandel.

L: Ganz recht. Und zwischen Asien und den USA laviert das biedere Europa, das allen Ernstes eine Politik aus einem Guss machen will. Es will, horribile dictu, sogar fair sein - eine ganz und gar unpolitische Position. Aber vertrackterweise ist gerade diese Position der einzige Kristallisationspunkt künftiger Einigung. Europas Gutmütigkeit, die daheim Existenzen und Chancen vernichtet, könnte demnächst Europa weltweit zum ehrlichen Makler qualifizieren.

F: Und dieses Thema liegt auf dem Konferenztisch?

L: Es lastet so schwer, dass andere Räte ziemlich verärgert sind über unsere Konferenzleitung.

F: Und da vertritt niemand den Standpunkt: Jeder so gut, wie er kann - und wer am Ende wirtschaftlich gewinnt und wer zugrunde geht, wird auf den freien Märkten ausgekämpft?

L: Nach welchen Regeln?

F: Nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage.

L: Nein, dass die völlig zügellose Marktwirtschaft mehr schadet als nutzt, das hat inzwischen jeder begriffen. Die Gegenposition wird nur noch von privaten Wirtschaftssubjekten vertreten, die sich augenblicklich in einer sehr starken Position befinden.

F: Etwa bestimmte Finanzkonzerne?

L: Etwa. Staaten neigen strukturgemäß dazu, Regelwerke aufzustellen. Und beim Konflikt zwischen Staaten und Wirtschaftssubjekten sind alle Räte einvernehmlich auf Seiten der Staaten, so entschieden, dass ich zum Beispiel Karls diesbezüglichen Pessimismus gar nicht teile.

F: Du sprichst von seiner Adaption Martin van Crevelds?

L: Ja. Wo der Staat erfolgreich existiert, wird er den Teufel tun, sich selber aufzulösen in neokonservativer Verirrung. Man mag Beamtenschaft verfluchen, doch die Beamtenapparate funktionierender Staaten sind ein verlässliches Korrektiv dieser scheinintellektuellen Mode. Nur wer sich im rücksichtslosen Kampf aller gegen alle eine gute Chance ausrechnet, wird die Selbstenthauptung der Staaten befürworten. Die Koalition der Übrigen, die eine solche Welt der Wölfe ablehnen, ist übermächtig - ich spreche jetzt von funktionierenden Staaten, nicht von Afghanistan, nicht vom Irak oder vom Kongo oder von Kolumbien. Auch nicht von Amerika, dessen Demokratie teilweise schon gekapert worden ist von konkurrierenden Oligarchien.

F: Wird die Globalisierung eines Tages staatlich gebändigt?

L: Das hängt von den Entwicklungen in Amerika, China, Indien, Japan und der EU ab.

F: Bravo! Darauf wäre ich zur Not auch noch selber gekommen.

L: Dein Problem ist, du verstehst nicht, was wir können - und was eben nicht. Wir sind recht gut informiert - doch in die Zukunft schauen können wir nicht. Wir arbeiten an einer staatlichen Bändigung der Globalisierung - ob sie gelingt, weiß ich aber nicht. Und unsere konkreten Maßnahmen, sofern sie mir bekannt sind, darf ich dir nicht verraten.

F: Wird nach der EU-Osterweiterung Deutschland zum Kristallisationspunkt der EU?

L: Seit wann neigst du zu ahistorischem Geschwätz?

F: Anders gefragt: Wohin geht Deutschland - nach der Wahl im September?

L:  Unter uns linken Brüdern?

F: Unter uns desillusionierten linken Brüdern! Keine Sonne mehr, keine Freiheit ... nur noch Skepsis.

L: Natürlich nimmt die Konferenz zu Schröder/Fischer keine Stellung ... obwohl ... zumindest Fischer war mal ein Projekt. Ich persönlich sehe die deutsche Rechte mit tiefer Skepsis. Aber jetzt denken wir mal staatspolitisch als deutsche Patrioten. Würde die rot-grüne Regierung bei der Wahl im Amt bestätigt, dann ginge die Blockade durch den Bundesrat erbarmungslos weiter. Das kann man Deutschland nicht wünschen. Insofern ist Schröder mit seinem konstruierten Misstrauensvotum tatsächlich ein Reformtragiker. Und ganz gleich, wie das ausgeht, schwarz-gelb oder große Koalition ... am allerwichtigsten von allen Reformprojekten ist die Föderalismusreform, damit endlich wieder regiert werden kann in Deutschland. Wenn jedes Bundesgesetz blockiert wird durch Länderinteressen oder das Bündnis oppositioneller Länder, die im Bundesrat als Opposition hintertreiben, was sie aus Staatsräson eigentlich für richtig halten - das führt zur Versumpfung. Das hat Lafontaine in Kohls später Kanzlerschaft gezeigt. Das hat Merkel in zwei Amtsperioden Schröder gezeigt. Das wichtigste Projekt der nächsten deutschen Regierung muss sein: Die Bundesregierung regierungsfähig machen, kontrolliert vom Bundestag, aber ohne den Bundesrat fragen zu müssen - abgesehen von Vorhaben, die an die Verfassung rühren.

F: Außerdem wäre ganz schön, wenn es tatsächlich eine Verfassungsänderung gäbe. Der Deutsche Bundestag müsste sich mit Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit selbst auflösen dürfen, um uns künftig die Peinlichkeit inszenierter Misstrauensvoten zu ersparen.

L: Einverstanden!

F: Übrigens Glückwunsch!

L: Wozu?

F: Wir hatten uns früher im Jahr über eure Strategie gegen die NPD unterhalten. Der Coup, den Druck ihrer Zeitung in Polen aufzudecken, war nicht schlecht. ...  (Richard Lank schmunzelt.) ... Würdest du dich heute im Nachhinein zu einer Strategie zum Kölner Weltjugendtag bekennen?

L: Beflissene Gesichter unter Strohhüten? Fliegende Papstkäppis? Das Kreuz vom Winde zerweht? Kaugummikauer am Schrein der Heiligen Drei Könige? Schräge Gesänge bar jeder Ironie? Innige Beter auf der Domplatte? Sündenbefleckte Turnhallen? Randalierende junge Katholiken, die einen Protestwagen stürmen wollen? Eine Stadt, die tagelang schwebt? Der Papst und eine Million Rucksäcke auf einer Wiese - gab es ein idealeres Ziel für islamistischen Terror? Trotzdem sind alle gesund heimgekehrt, bis auf die paar Schnupfennasen und kollabierten Kreisläufe. Reicht das nicht? Offenbar nicht. Du willst Details ... ersatzweise biete ich dir an, dass wir uns mal ausführlich über die neue Religiosität unterhalten.

F: Wann?

L: Beim nächsten Mal, November, wenn der Papst in die Türkei reist.

F: Und im Oktober?

L: Du möchtest doch schon länger die gesammelten widerworte ins Netz stellen. Mach das im Oktober.

F: Zu gütig. Was leistet die Konferenz bezüglich Nahost? Fangen wir mit Gaza-Evakuierung an!

L: Immerhin, da funktioniert die Konferenz als Clearingstelle und hat einige Überreaktionen verhindert. Ich nenne nur die Synagoge von Kfar Darom ... der palästinensische Jubel über diese Bilder war so groß, dass er fast zum Problem geworden wäre.

F: Wieso seid ihr da Clearingstelle und könnt überhaupt was ausrichten?

L: Israelis und palästinensische Autonomiebehörde vertrauen uns und sehen uns als Unparteiische, zumindest die Konferenz in ihrer Gesamtheit. Die orthodoxen Siedler vertrauen uns selbstverständlich nicht.

F: Was passiert in Saudi-Arabien nach König Fahds Tod?

L: Ich glaube, du siehst seinen Nachfolger Abdullah zu negativ. Zumindest hast du mal so was in einem editorial angedeutet. Die Räte glauben übereinstimmend, dass Abdullah das Land nach vorn bringt ...

F: ... und die Terrorfinanzierung?

L: Hat er nicht den saudischen Al Quaida-Chef in Medina erschießen lassen? Diesbezüglich vertritt CLU natürlich eine andere Auffassung als wir, als COR und CNM.

F: Habt ihr was zum Irak?

L: Auf der Tagesordnung steht ein Vermittlungsteam der Räte für die Verfassungssuche im Irak. Da haben die Iraker sich ja inzwischen über alles geeinigt - abgesehen von den drei wichtigen Punkten: Wie autonom sind die drei großen Bevölkerungsgruppen? Wie werden die Öleinnahmen verteilt? Welchen Einfluss hat die Scharia auf das Rechtssystem? Schiiten und Kurden haben sich oberflächlich geeinigt - nur die Sunniten machen wieder mal nicht mit, wie schon bei der Parlamentswahl. Nun glaube ich zwar nicht, dass auch nur eine der Parteien sich von unseren Vermittlern was sagen lässt, sie müssen ja das Rad ständig selber neu erfinden, aber versuchen können wir es ja.
Weiterhin gibt es die vage Kooperation einiger Räte, unabhängig von den Staaten eigene ... ich sag mal ... Jagdgesellschaften ... ins Land zu schicken.

F: Antiterrorteams der Räte? Das ist nicht neu.

L: Wir können das Land nicht aufbauen oder Menschen, die sich nicht einigen wollen, zur Einigung zwingen oder Amerikas Fehler wieder gutmachen. Aber ein paar schlimme Finger ausschalten, zumindest das sollte gelingen, ob es neu ist oder nicht.

F: Gilt das auch für die Aktivität iranischer Geheimdienste im Land?

L: Keine Diskussion über Ziele.

F: Wie steht es um euren Raum, den europäisch-russischen, wenn in Weißrussland und Russland heftige antipolnische Ressentiments laut werden?

L: Polen hat ja bei der Bewahrung des Friedens in der Ukraine eine hervorragende Rolle gespielt - ganz unabhängig davon, dass wir die diesjährigen Entwicklungen in der Ukraine überhaupt nicht begrüßen. Putin und das weißrussische Ekelpaket gefallen sich jetzt darin, uralte antipolnische Ressentiments aufzuwärmen. Das ist mieser Stil und führt zu nichts. Zu gar nichts. Übrigens - du warst doch so angetan von der demokratischen Entwicklung der Ukraine und hattest kein Verständnis für unsere Position ... was sagst du denn jetzt zu den korrupten Allüren des Präsidentensohns Juschtschenko, der sich als Privatmann die Rechte an den Symbolen der orangen Revolution hat zuschanzen lassen? Und was sagst du zum neuen georgischen Sumpf, um eine weitere dieser tollen Demokratisierungen anzusprechen?

F: Und was sagst du zu Putins Wunsch nach einer dritten Amtszeit inklusive Verfassungsänderung? Oder zu Chodorkowskis Hungerstreik in der Haft?

L: Der ist vorbei.

F: Holger Pfahls hat zwei Jahre und drei Monate bekommen ... wird aber morgen oder übermorgen haftverschont.

L: Das ist zwar kein Thema der Fünfjahreskonferenz, aber na gut: Herr Kohl hat ihn entlastet. Wir sind tief gerührt über so viel Anhänglichkeit durch die Jahrzehnte, Legislaturperioden und Hierarchieebenen des Justizwesens.

F: Ich hab ja nur gefragt, weil sich Dossier Bucholtz einmal mit dem Thema beschäftigt hat.

L: Ich hab ja auch durchaus geantwortet.

F: Jetzt nur noch Frage-Antwort, nie mehr als ein Satz?

L: Einverstanden.

F: Die Europäische Union?

L: Wird ihre Krise überwinden und in dem ihr gemäßen Schneckentempo voranschreiten.

F: Der islamistische Terror?

L: Wird noch viele Opfer fordern, doch zuguterletzt besiegt.

F: Der Ölpreis?

L: Wird demnächst vom Wasserpreis überholt.

F: Israel?

L: Kämpft weiter erfolgreich ums Überleben.

F: Die Palästinenser?

L: Können sich in Gaza jetzt die Epauletten funktionierender Kleinstaaterei verdienen.

F: "Make poverty history" ...

L: Ist eine liebenswert naive Forderung.

F: Der Hunger in der Welt?

L: Könnte, würden alle mitziehen, in zehn Jahren gesättigt sein.

F: Amerika und Europa?

L: Sind weiter auseinander denn je, was sich aber schnell wieder ändern kann.

F: Amerika als einzig verbliebene Supermacht?

L: Hat nicht mehr lange und sollte es sich nicht vollends mit den Freunden verderben, auf die es dann angewiesen sein wird.

F: Frankreich?

L: Wird erst unter dem nächsten Präsidenten wieder aktiv.

F: Die Briten?

L: Sind auf der Suche nach ihrer verlorenen Gelassenheit.

F: Deutschland?

L: Muss aus der Post-Postmoderne zu den Tugenden der Wirtschaftswunderzeit zurück - oder verarmt.

F: Das Problem der Vergreisung westlicher Gesellschaften?

L: Ist durch kluge Einwanderungspolitik zu lösen.

F: Was ist kluge Einwanderungspolitik?

L: Thema für eine eigene Folge widerwort .

F: Komm schon!

L: Also gut, kluge Einwanderungspolitik ist, den jungen Ingenieur aus einem südafrikanischen Township anzuwerben und zu binden, dafür aber den pakistanischen Hassprediger draußen zu halten.

F: Schwingt da, auch wenn die Betonung auf "Hass"prediger liegt, generelle Skepsis gegenüber dem Islam mit? Vielleicht sogar Feindschaft?

L: Ach was! Jeder Mensch, der wirtschaftlich von Nutzen ist und bereit, seinen Glauben im Rahmen unserer Gesetze zu leben, ist doch herzlich willkommen. Wenn er natürlich unsere Gesetze im Rahmen seines Glaubens leben möchte, dann tut es mir Leid ...

F: Der chinesisch-amerikanische Großkonflikt?

L: Muss nicht unbedingt blutig ausgetragen werden.

F: Die weltweite politische Herausforderung durch den Klimawandel?

L: Kommt vermutlich nochmal auf die Tagesordnung, so wie Sturm Katrina gerade in New Orleans wütet ...

F: Wobei ihr wahrscheinlich die Mitverantwortung der chinesischen Dreckschleuder vornehm übergeht?

L: Überhaupt nicht. Aber Menschen in einer reifen Volkswirtschaft wie in den USA kann man eher was zumuten als Chinesen knapp über dem Existenzminimum.

F: Adam B. Czartoryski und diese Website ...

L: ... sind miteinander versöhnt. Seine pessimistischen Untertöne bezüglich des Westens ... naja, das Management der Konferenz zusätzlich zu den übrigen Aufgaben zehrt enorm. Da kommt auch er schon mal leicht depressiv rüber.

F: Die Jahrfünftkonferenz krankt an ...

L: ... der Durchmischung aller möglichen Weltinnenpolitiken in statu nascendi.

F: Wofür seid ihr eigentlich gut?

L: Für die fünf Sekunden vor Zwölf.

F: Danke für das Gespräch.

Das sechste widerwort (30.11.05 in Köln)

F: Unser Thema ist die neue Religiosität.

L: Sind wir Papst?

F: Wir nicht. Aber ihr vielleicht. Den Islamismus schenken wir uns ...

L: Keine Chance! Er trägt gerade den Dschihad nach Südostasien.

F: Reden wir trotzdem über seichte Esoterik, Weltjugendtagsgläubigkeit, Nord- und Südamerikas und Afrikas Evangelikale, das Wiedererstarken der Orthodoxie, das Scheitern der Ökumene. Südamerikanische und afrikanische Kulte. Brennende Kirchen im Irak ...

L: Du wolltest doch keinen Islamismus!

F: Beginnen wir mit der Türkei. Du hattest angekündigt, Papst Benedikt würde das Land im November besuchen.

L: Er war auch eingeladen vom orthodoxen Patriarchen von ... man muss wohl sagen - Istanbul. Patriarch Bartholomäus I. von Istanbul hatte ihn eingeladen, und Benedikt wollte kommen. Dann jedoch trumpfte der türkische Präsident auf und donnerte: Wenn hier jemand Päpste einlädt, dann bin ich das und ich mag jetzt nicht. Darauf hin beklagte Außenminister Gül die einmalige Begabung der Türkei, sich selber ins Knie zu schießen ... ausgerechnet der Außenminister, der solche Krisen doch eigentlich managen sollte. Hat er aber nicht. Zum Glück! Stell dir nur mal vor, Ratzinger wäre nach dem Fußballspiel Türkei-Schweiz mit seinen Leibwächtern von der Schweizergarde angereist! Die türkische Hetzpresse hätte doch getobt, 1453 solle rückgängig gemacht werden ... nein, man muss schon sagen, die Türkei hat richtig Glück gehabt, denn ob die zigtausend Mitarbeiter des Religionsministeriums den einen armen wackligen bayerischen Papst hätten hindern können, Konstantinopel wiederzuerobern - äußerst fraglich! Nun kommt er eben 2006 auf Einladung des Präsidenten.

F: Was macht Ratzinger sonst? Lässt er seine Islampolitik von Frau Fallaci designen?

L: Ach, die Oriana! Lässt er denn seine Unfehlbarkeit von Herrn Küng designen? Natürlich nicht. Aber er hält in Castelgandolfo ein Schwätzchen mit den Leuten und tut sodann, was Gott der Herr ihm eingibt.

F: Droht ihm aus Sibirien Gefahr?

L: Wem?

F: Gott dem Herrn.

L: Zielst du nicht ein bisschen hoch? Und wieso Sibirien?

F: Dort tritt der 44-jährige Expolizist Torop als neuer leibhaftiger Christus auf und gebietet Tausenden Anhängern.

L: Ach ... der sich den eigenen Evangelisten hält, der seinen Sermon mitschreibt?

F: Ja - und er betreibt einen Sicherheitsdienst, ein eigenes Funktelefonnetz, Kindergärten, Schulen, Wirtschaftsbetriebe ...

L: Der Ärmste geht im blutigen Showdown unter, das versprech ich dir! Wahrscheinlich nimmt er sogar etliche Anhänger mit in den Tod. Das ist die Gruppendynamik von Sekten. Der Führer verspricht Sachen, die er nicht einlösen kann - zum Schluss türmen sich dann die gebrochenen Versprechen himmelhoch und zur Lösung des Knotens muss gestorben werden.

F: Was für Menschen laufen so einem nach?

L: Sie sind von der Kulissenhaftigkeit der Mehrheitsreligionen enttäuscht. Sie sehnen sich nach Führung. Menschen mit Angst ... es ist immer die Angst vor dem Tod, einen besseren Grund für die Konstruktion ewigen Lebens kenne ich nicht. Aber auch die ganz irdischen Dinge spielen ihre Rolle. Wenn du als Modernisierungsverlierer in Sibirien hockst und dein Magen verträgt den Wodka nicht mehr. Das E-Werk gibt dir zwei Stunden Strom pro Tag und jede Kerze kostet ein Schweinegeld, weil sie dreitausend Kilometer weit transportiert werden muss ... wer schenkt deinem Leben Struktur? Herr Putin? Die Vereinten Nationen? Deine zerbrochene Familie? Da suchst du dir halt einen, der verspricht, alles anders zu machen und die wesentliche, bisher nie ausgesprochene ewige Wahrheit verkündet. Mich interessiert dieses Phänomen nicht.

F: Dich interessiert Religion als Instrument der Herrschaftsgewinnung und -wahrung, nicht wahr? Die Eliten setzen es ein, um das dumme Volk ...

L: Das Volk ist nicht dumm! Wir benutzen gewisse religiöse Strukturen wie Wasser, um darin unbemerkt zu schwimmen ...

F: Etwa den diplomatischen Dienst des Vatikan.

L: Wenn du meinst. Aber sonst benutzen wir Religion längst nicht mehr, um Herrschaft auszuüben. Ich weiß natürlich, dass so was gemacht wird, und zwar nicht zu knapp. Ich will auch gar nicht behaupten, wir wären zu gute Menschen, um dabei mitzutun. Keine Ahnung, was wir täten, wenn wir massenwirksam wären. Aber wir üben unser bisschen Einfluss nun einmal eher im leisen Hinterzimmergespräch aus - und diesen Gesprächspartnern brauchst du mit Religion nicht zu kommen. Was jetzt noch mal das “dumme Volk” betrifft: Ich finde es falsch, ehrlich gläubige Menschen zu diffamieren ...

F: ... wenn sie nur nicht so oft diese fatale Tendenz hätten, ehrlich nichtgläubige Menschen zu schikanieren. Aber gut, trennen wir säuberlich: Die ehrlich Gläubigen sind entschuldigt, falls sie mich in Ruhe lassen, so wie ich sie in Ruhe lasse. Ebenso die Karteileichen-Gläubigen und Gewohnheitsgläubigen. Aber die Buttigliones und Radio-Maria-Macher in Polen, die Opus-Dei-Leute, die Neokatechumenen, CL, Jugend 2000, oder die polnische Lednica-Bewegung ...

L: Die arbeiten oft ziemlich konspirativ, unterwandern normale Gemeinden und übernehmen dann plötzlich die Macht im Pfarrgemeinderat, sie schwärzen Priester an, die falsch predigen ... klar findet da ein Rollback der Aufklärung statt, oder wird zumindest angestrebt. Aber sie stecken auch schwere Niederlagen ein. In Spanien zum Beispiel haben sie gewaltige Demonstrationen gegen die Schwulenehe organisiert - Zapatero hat sich trotzdem durchgesetzt. Polen natürlich, oh weh ...!

F: Wie gefährlich ist das?

L: Der Reihe nach. Buttiglione, der ja fast EU-Kommissar geworden wäre, ist zunächst mal ein durchaus honoriger, konservativer Katholik, dem niemand aberkennen darf, seine Überzeugungen in seiner Gemeinschaft zu leben. Aber dann kommt ein dickes “aber”, denn er vertritt ja äußerst merkwürdige Positionen aus seinem religiösen Raum hinaus in den gesellschaftlichen Raum hinein: “Woge des Nihilismus ... Katholiken würden in der Politik diskriminiert ... Konsumismus ... moralischer Relativismus” - das sind so Töne, die er spuckt. In den nicht ganz unwichtigen Fragen von Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Partnerschaft, Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare und so weiter bezeichnet er das, was in den meisten europäischen Ländern inzwischen Recht und Gesetz ist, als Sünde - eine klare Kampfansage. Wer diese Auffassung vertritt, der kann nicht zugleich Recht und Gesetz vertreten, außer natürlich in Italien. Wie sollen wir uns von Leuten regieren lassen, die unsere Gesetze als sündhaft betrachten? Sie sind die Exekutive, die Ausführenden des Gesetzes - wie können sie verbindliche Gesetze ausführen, die sie als Sünde betrachten? Ich finde diesen Anspruch verlogen. Wenn dann die Gesellschaft sagt: Nein danke, lebe du das für dich, aber unsere Gesetze vertrauen wir dir lieber doch nicht an, dann ist das doch keine Diskriminierung.
Spanien durchlebt einen kleinen Kulturkampf - aber vergessen wir nicht, dass Franco gerade mal dreißig Jahre tot ist. Die Säkularen werden in Spanien gewinnen, ohne dass es irgendwelche Abstriche an der Volksfrömmigkeit gibt.
Und ist Volksfrömmigkeit nicht auch ganz nett? Besuch doch mal, ich will gar nicht sagen in Spanien ... besuch doch mal eine Messe in Neapel. Auf dem Weg zum Hauptportal kommst du vorbei an Heiligenschreinen für Fußballer. Und dann ist da liturgisch noch richtig Schmackes in der Bude, nicht so dröge wie bei uns. Da wird gesungen mein Lieber! Und der Priester führt auf der Kanzel vor, wie sich Satans Nüstern blähen ...

F: Und auf so was stehst du?

L: Es ist unterhaltsamer als Fernsehen.

F: Das ist genau der moralische Relativismus, den Buttiglione und Konsorten beklagen.

L: Soll ich mir davon die Show verderben lassen? Aber ernsthaft: Polen ist ein Problem, weil sich der ohnehin stark ausgeprägte Katholizismus verbindet mit Nationalismus, Antisemitismus und den politischen Wortführern der Modernisierungsverlierer. Man kann nur hoffen, dass sich das auswächst beim wirtschaftlichen Aufstieg Polens.
Grundsätzlich sehen wir, dass junge Menschen in ganz Europa Religion für wichtiger halten, als ihre Eltern das getan haben.

F: Doch nur, weil sie den Terror nicht mehr kennen, den Religion über den Menschen bringt, zumal über den jungen Menschen. Der Papa wurde noch im Beichtstuhl gequält mit der Frage, wie oft er onaniert hat. Er denkt um. Folglich erleben die Kinder ein tolerantes, liberales, diskretes Elternhaus ...

L: ... in dem es vielleicht manchmal ein bisschen an Orientierung fehlt?

F: Meinethalben. Vielleicht kommt noch eine Ehekrise der Eltern hinzu. Und schon fallen die Kinder in ihrer Verunsicherung auf diesen großen römischen Tragöden herein, der ganz genau die einzig gültige Wahrheit wusste ...

L: Moment! Ich zitiere jetzt Kardinal Lehmann: “Die Mädchen auf dem Petersplatz, die dem Papst zujubeln, haben die Pille in der Tasche.”

F: Ja doch. Ich fürchte nur, sie gehen schlafen mit dem Traum von ein bisschen Orientierung über den Tag hinaus und wachen zwanzig Jahre später mit Gewissensqualen und verpfuschtem Leben auf.

L: Glaub ich nicht.

F: Du hast auch die miesen Psychotricks der Kirche nicht hautnah erfahren!

L: Mag sein. Aber eins weiß ich: Das absterbende Machtsystem, unter dem du noch gelitten hast, ist heute tot. Kann es wieder auferstehen? Nein, denn die terroristischen Methoden, mit denen es durch Jahrhunderte seine Macht über Seelen und Körper erobert und gefestigt hat, stehen ihm heutzutage nicht mehr zu Gebote.
Die konservativen Bewegungen in der Kirche, die mit den alten Methoden arbeiten, sind sehr klein und elitär. Auch mächtig. Aber bei aller Fähigkeit zum Rufmord, bei aller Medienmacht und finanziellen Macht und ihrem Netz von Beziehungen - sie können heute keine Scheiterhaufen mehr bauen. Und um die Wende vom aufgeklärten Rechtsstaat zurück zur Gewissenstyrannei zu schaffen bräuchten sie krasse, offene, brutale Gewalt ...

F: Amerika zeigt uns, dass das auch anders geht!

L: Amerika ist anders. Bei uns in Europa gibt es riesige Bevölkerungsgruppen, die werden von dieser Diskussion gar nicht mehr erreicht. Bildungsferne Schichten, die zugleich auch religionsfern sind - was in gewisser Weise gut ist, denn sie wären ja sonst das klassische Klientel der Kirchen. Es gibt den großen bunten Flickenteppich von Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen, ihres Denkens, ihrer sexuellen Orientierung und so weiter nichts mehr mit Kirche zu tun haben wollen, Agnostiker, Atheisten, hedonistisch lebende Menschen. Dann gibt es den anderen Flickenteppich, den der Ersatzkirchen. Das Spektrum reicht vom Motivationstrainer über alle möglichen esoterischen Richtungen, modischen Kulte, Kabbalah-light, Feng-Shui-light, Psychokulte, Vorstadtgurus bis zur autosuggestiven Magie und zum Satanismus. Verstehst du? Die Haufen derer, die unentschieden dahindämmern und derer, die sich bewusst gegen die alten Kirchen entscheiden, sind so groß, dass man die versprengte Herde nur noch mit Gewalt wieder in den Pferch zurück bekäme. Und ebendiese Gewalt steht den Kirchen nicht mehr zur Verfügung. Sie können nicht mehr systematisch töten und foltern. Sie können niemanden am Reden und Veröffentlichen hindern. Sie können nicht einmal mehr Gehör erzwingen für das, was sie selber zu sagen haben. Inzwischen kennt jeder das Knöpfchen zum Abschalten.
Die harten konservativen Kerne - zumal der katholischen Kirche - sehe ich eher als Vorbereitung auf den großen Winterschlaf. Die Kirche ist eine Meisterin im Überleben. Sie will jetzt ihren Kern bewahren, damit der nicht im postpostmodernen Wischiwaschi untergeht. Sie vertraut nicht den jubelnden Mädchen auf dem Petersplatz. Sie igelt sich ein und wartet auf ihre Chance.

F: Kriege? Seuchen? Katastrophen?

L: Was immer die Chance zur Mission in sich birgt. Das hat sie nach wie vor drauf, diese Kirche! Niemand sollte das vergessen! Anders als der Islam, der mit dem Schwert verbreitet wurde, hat sich das Christentum aus einer Position völliger Machtlosigkeit und Gewaltfreiheit ausgebreitet. Durch Überzeugung. Später hat sich das mit Macht und Gewalt gründlich geändert. Doch wenn die richtigen Umstände eintreten ... kollektive Verunsicherung ... wenn alle Tröstungen der Moderne versagen, dann könnte der Katholizismus durchaus wieder enorme Überzeugungskraft entfalten. Vielleicht warten sie auch darauf, dass der säkulare, postnationale Staat erkennt, wie wenig Bindungskraft er für die Gesellschaft entfaltet - und um Hilfe ersucht.

F: Katholische Kapläne trennen während einer Straßenschlacht wütende Hartz IV-Empfänger von der Polizei ...

L: ... was voraussetzt, dass die Kapläne bei den Hartz IV-Empfängern minimale Autorität hätten, so wie die Imame bei den Jugendlichen der Banlieues. Im Augenblick ziemlich weit hergeholt! Wobei das alles nur für die katholische Kirche gilt, die katholische Kirche in Europa. In Lateinamerika und Afrika steht sie längst im erbitterten Missionswettstreit gegen Evangelikale, gegen Voodoo-Kulte, Naturreligionen, Fetischkünstler und - den Islam. Im Grunde können wir Asien gleich dazupacken: die Rolle der philippinischen Kirche im Konflikt mit den Muslimen im Süden. Oder Indien: die Nachfolgerinnen Mutter Theresas. Die haben zwar keine Chance, den Subkontinent zu missionieren, aber sie halten Roms Fahne in Kalkutta ganz schön hoch - und das ist ja nun doch die Fahne einer barmherzigen Kirche.

F: Barmherzig mit den Sterbenden. Streng zu den Lebenden. Und dabei theologisch stockbrutal. Theresa und Johannes Paul II. waren dicke Freunde.

L: Aber ist diese Strenge nicht berechtigter Schutz für den unverhandelbaren Kern? Irgendwie versteh ich das, ich seh es sogar mit einem Hauch Sympathie. Wir haben schließlich auch bestimmte Punkte, über die wird nicht diskutiert, da sagen wir: Nimm uns, wie wir sind, oder bleib weg - glaub nur nicht, dass wir uns dir anpassen.

F: Ein kerniges Gründer-Statement gegen den modernen Relativismus.

L: Schon recht, du knieweicher Apologet des Mainstreams. Lass uns mal über Unkatholisches reden - vielleicht bist du da emotional nicht so erkennbar involviert.

F: Orthodoxie.

L: Oh - sind wir eingeschnappt? Russlands Orthodoxie ist auf dem Weg zurück zur Staatskirche. Ganz weg war sie da nie, sogar Stalin hat sich im Großen Vaterländischen Krieg mehrfach eine Kapelle im Kreml aufschließen lassen, um dort zu beten.

F: Ja, und Saddam hat einen Liebesroman geschrieben. Ich bin gerührt - was macht die Orthodoxie Ex-Jugoslawiens?

L: Seit Djindjics Ermordung schlägt sie ungeniert über die Stränge. Serbische Politiker erhielten zum Beispiel von Patriarch Pavle Schreiben “im Namen Gottes”, sobald es um die heilige Erde des Kosovo ging. “Heilig” wegen der alten Abwehrschlachten gegen die anbrandenden Türken, wir kennen die Geschichte ja. Heute ist das Kosovo bevölkert von 1,8 Millionen oft muslimischen Albanern und einem spärlichen Rest von 130.000 Serben, die sich nicht haben vertreiben lassen. Das ist und bleibt Europas blutende Wunde. Das Jahr 2006 wird kritisch.

F: Über den Balkan sollten wir uns mal ausführlich unterhalten.

L: Ja. Der orthodoxe Klerus - er versteckt die Kriegsverbrecher - hat die Armee hinter sich und ist schon deshalb stärker als die zivile Politik. Er zieht gegen jede Form von Autonomie des Kosovo zu Felde. Pavles Nachfolger, Erzbischof Amfilohije, macht systematisch die autokephale Kirche Montenegros fertig, um die Lösung Montenegros aus der Union mit Serbien zu verhindern. Deshalb lässt der Gute schon mal Aluminiumkirchen auf montenegrinische Berge setzen - durch serbische Militärhubschrauber. Auf so was muss man erst mal kommen! Der eigentliche Witz dabei ist, dass nicht Montenegriner die serbisch-orthodoxe Kirche auf dem Rumija-Berg abgefackelt hatten, sondern die Türken, und zwar 1571.
Es ist so ein verdammtes Elend auf dem Balkan! Jahrelang sind alle Christi Himmelfahrt die Orthodoxen, Katholiken und Muslime einträchtig auf den Berg gekraxelt, und jeder hat dort einen Stein niedergelegt. Wenn genug Steine da sind, so die Legende, errichtet Gott der Herr die Kirche über Nacht. War doch ein schönes Symbol für die Aussöhnung der Religionen - und jetzt dieser Aluminiumschrott! Fast sehnt man die Zeiten zurück, als die brutale Geheimpolizei des Diktators Tito sicherstellte, dass Religion im Vielvölkerstaat strikt Privatsache blieb.

F: Ziemlich scharfer Tobak!

L: Ach ja? Schärfer als der, den sie heute rauchen müssen? Ganz Belgrad verkommt, aber um Parks zu roden und neue Kirchen zu bauen - dafür haben sie Geld. Nebenan im muslimischen Teil Bosniens, da wuchern, bezahlt von saudischem Geld, Moscheen wie Pilze aus dem Boden. Du jammerst schon rum, wenn Religion sich nur ein bisschen in dein Privatleben mischt - auf dem Balkan ist sie aber repolitisiert, da herrschen zerstrittene Mentalitäten, wie in Westeuropa vor dem Dreißigjährigen Krieg. Oder wie in Nordirland noch heute.

F: Und mittendrin die neokonservativ-evangelikale Außenpolitik der USA!

L: Die Neokonservativen sitzen auf dem absterbenden Ast, und ich glaube nicht, dass es eine evangelikale Außenpolitik gibt.

F: Na hör mal! Gegenüber Israel ... durch Unterstützung von Missionswellen in Südamerika und Afrika?

L: Gut, das wäre Außenpolitik nach dem Motto: Die Bibel hat doch recht! Amerikas Evangelikale bereiten in Israel den Boden für Armageddon, das letzte Treffen aller Könige der Welt. Trägt Frau Rice diese außenpolitische Doktrin etwa auf ihr Leibchen gestickt?

F: Wenn das abwegig ist, dann widmen wir uns halt der Innenpolitik. Amerikas wiedererweckte Christen knallen gern schon mal Ärzte oder Krankenschwestern ab, die bei Abtreibungen mitgewirkt haben. Das nennen sie dann “Schutz des Lebens”. Sie sind für die Todesstrafe. Andererseits sind sie dagegen, Komapatienten den Schalter auszuknipsen ...

L: .. was ich persönlich sehr begrüße!

F: Die Schulbücher säubern sie von allem unbiblischen Geschwätz, wie der Evolutionstheorie. Stattessen  predigen sie Kreationismus. Der Mensch wäre - ohne Umweg über den Primaten - fertig und intelligent von Gott erschaffen. Sie sind kontra Gentechnik, Schwule und Lesben, Legalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Analsex ist in manchen US-Bundesstaaten strafbar. In anderen Sex vor der Ehe. Erwachsene Sadomasochisten werden als Perverse verächtlich gemacht - aber an ihren Schulen, für ihre wehrlosen Kinder, da führen die guten Christen wieder die Prügelstrafe ein. Ein einziges großes Geheuchel: Du darfst auf der Straße nicht saufen, aber sehr wohl mit der Pumpgun herumstolzieren. Das sind die “family values” der Evangelikalen.

L: Unvollständig, aber ein sehr schöner Ansatz. Was hattest du noch mal gefragt?

F: Leiten sie sich wirklich ungebrochen von den Pilgervätern ab?

L: Aber ja. Übrigens soll jede Art von Sterbehilfe bestraft werden und die Pille danach und die Embryonenforschung ... aber die hatten wir ja schon. Sie wollen außerdem in allen öffentlichen Gebäuden Amerikas eine Tafel mit den Zehn Geboten aufhängen.

F: Und die Sünder gleich daneben?

L: Sei nicht polemisch! Einstweilen tut es doch der gute, alte Pranger an einer schönen Ausfallstraße: Der Kriminelle wird von jedermann begafft und stirbt wenig später an den eingeatmeten Abgasen.

F: Was wird denn, wenn die Gesetzestafeln, sagen wir im Finanzamt hängen, und ich geh da vorbei und ehre nicht Gott den Herrn ... oder begehre meines Nächsten Weib?

L: Dann musst du beten, dass der Finanzbeamte sich mehr für deine nachgereichten Belege interessiert.

F: Woher kommt ihr Erfolg?

L: Ich glaube größtenteils vom Pendelschlag der Geschichte. Amerika war das Land der prosperierenden Demokratie, das Land der durchgesetzten Bürgerrechte, Heimat von Sex&Drugs&Rock’n Roll, ich sag mal vorsichtig: weit fortgeschritten auf dem Weg in eine libertäre, atomisierte Gesellschaft - jedenfalls in den Großstädten. Dass irgendwann ein Rollback aus dem glaubensstrengen platten Land kommen würde, war historisch nahezu unvermeidbar.
Viele Amerikaner in den Flächenstaaten - aber beileibe nicht nur dort - sind erschreckend schlecht informiert, nicht dumm, aber erschreckend schlecht informiert. Da ist das Angebot eines spirituellen Kerns ziemlich chancenreich. Sie leben in kleinen Communities mit einem hohen Maß sozialer Kontrolle. Da ist es gar nicht immer leicht, sonntags an der Kirche vorbeizugehen, jedenfalls nicht unter dem scheelen Blick von Familie, Nachbarn und Kunden. Und das war schon immer so - die weiße Besiedlung des Landes fand zunächst durch protestantische Religionsflüchtlinge statt. Die waren überall zuerst. Deren Denkmal steht in jedem Stadtpark. Starke Kerle, gütig, streng, manchmal weise, immer jedoch enorm erfolgreich. Und in Amerika ist es wie überall auf der Welt - je mehr wirtschaftliche und menschliche Unsicherheit wächst, desto inbrünstiger ersehnen die Menschen Halt.
Schlichte Gemüter sind für die Tröstungen und wundersamen Versprechen des Glaubens leicht ansprechbar. Und dann vergiss nicht das kalvinistische Gewürz in der protestantischen Suppe: Glaube hat in Amerika immer auch was mit Wohlstand zu tun. Eigentlich, im strengen theologischen Verständnis des Kalvinismus, stellt der Wohlstand eine sichtbare Auszeichnung durch Gott dar. Aber von hier aus ist es nicht weit bis zur lügenhaften Predigt oder zum simplen Missverständnis: Wenn ich brav gläubig bin, wird Gott mich schon durch Wohlstand sichtbar auszeichnen.

F: Eine verführerische Mixtur. Wie stark prägt sie Amerika?

L: Sehr stark. Amerika hat nie die Erfahrung des Religionskriegs erlitten. Also ist das religiöse Argument in der Politik auch nie relativiert worden. Aktuell haben die Evangelikalen auf Bush und die Republikaner gesetzt. Das haben Bushs Berater ja auch raffiniert eingefädelt im Wahlkampf. Die Entscheidung fiel in Ohio, und ausgerechnet dort hatten die Republikaner die Präsidentschaftswahl geknüpft an eine Volksabstimmung über die Schwulenehe. Das hat gesessen.
Solange die republikanische Mehrheit in beiden Häusern herrscht, wird es zu entsprechenden Gesetzen und Postenbesetzungen kommen, ich sage nur: Supreme Court. Aber selbst das stößt an Grenzen. Längst kann der Präsident seine Schulden bei den Evangelikalen nicht mehr bezahlen. Und die reiben sich vielleicht die Augen, kann ich dir sagen! Die sind so was von verdutzt, dass ihr sauberer anständiger wiederbekehrter Präsident sich in den jüngsten Untersuchungen zunehmend als pathologischer Lügner entpuppt! Die haben ihm geglaubt, verstehst du, seine evangelikalen Wähler sind keine Zyniker wie die Neocons, die sind einfach nur gläubig und extrem schlecht informiert.
Diese Wut und Enttäuschung bekommen die Republikaner schon noch spüren. Deshalb fürchte ich auch nicht, dass die Religiösen erfolgreich nach der Macht für die nächsten paar Jahrzehnte greifen. Trotzdem wird Amerika viel religiöser bleiben als Europa, wobei das ja zu einem Großteil jene Religiosität ist, von der Norman Birnbaum sagt: “Die meisten amerikanischen Christen sind überhaupt sehr tolerant, die anderen sind lautstärker.“

F: Wirken nicht Europas Protestanten, sogar noch im Vergleich zu denen, die Birnbaum tolerant nennt, geradezu vorbildlich aufgeklärt und friedfertig?

L: Aber auch ein bisschen lahm, oder? So ganz ohne Pfeffer. Wann hat man sich zuletzt über einen protestantischen Würdenträger aufgeregt? Die sind politisch korrekt bis zur Gesichtslosigkeit.

F: Wart nur, bis Pastor Fliege Fernsehprediger geworden ist! Aber meinetwegen, in Europa haben wir es mit sanften Protestanten zu tun - in den USA mit trutzigen. Diese trutzigen Evangelikalen aus den USA unternehmen jetzt also Missionsfeldzüge in Lateinamerika, Asien und Afrika. In Lateinamerika machen sie der mächtigen katholischen Kirche ernsthaft Probleme. In Afrika steht es unentschieden, dort wächst auch die Zahl der neuen Katholiken stark, ebenso wie die der Protestanten und Muslime. Was macht den Erfolg evangelikaler Mission in Afrika und Lateinamerika aus?

L: Vielleicht wirken sie authentischer christlich, weil ohne Heilige ... ja, lach nur, ich bin kein Religionswissenschaftler, doch das ist meine Theorie. Stell dir vor, in Afrika tendiert jemand zum Christentum, weiß aber noch nicht, zu welcher Kirche. Also schaut er sich den Nachbarn an, der tagsüber Katholik ist und nachts dem Heiligen X als Voodoo-Gottheit Y einen Mundvoll Schnaps opfert.
Unser Mensch, der zum Christentum erst tendiert, möchte durchaus auch was abhaben vom Erfolg und vom Reichtum des christlichen Westens. Jetzt schaut er sich noch mal seinen katholischen Nachbarn an und denkt: Wenn ich dessen katholischen Weg beschreite, dann komme ich mental nie im Westen an, sondern bleibe mit einem Fuß immer in Afrika. Also höre ich lieber auf die protestantischen Missionare. Die haben keine Heiligen. Da gerate ich gar nicht erst in die synkretistische Versuchung, Elemente der verschiedenen Religionen zu vermischen. Protestanten sind die ... ich sag das mal in Anführungszeichen ... “reineren” Christen.

F: In der liturgischen Praxis der Afrikas und Lateinamerikas mag das stimmen, obwohl katholische Theologen uns heftig widersprechen dürften.

L: Na, die berücksichtigen doch nur ihr Lehrgebäude. Dogmatiker haben’s gern steril. Ihre Büros riechen nach Bohnerwachs. Sie stehen nie dabei, wenn der Nachbar vor dem doppelsinnigen Heiligenbild Fusel in den Staub spuckt. Sie predigen Aidsprävention ohne Kondom, während der Nachbar verzweifelt versucht, den Fluch eines “penis shrinkers” abzuwehren. Oder wenn in Tansania zwischen 1994 und 1998 rund fünftausend angebliche Hexen ermordet werden - nicht von Christen, nein die afrikanische Kulte haben ihre eigenen Hexen und Flüche und Zauber und Abwehrzauber und was weiß ich noch alles. Das alles kommt in der sauber strukturierten Welt des katholischen Dogmatikers nicht vor.

F: Inwiefern sind das Globalisierungsfolgen? Menschen fliehen aus ihren Dörfern in die Slums der Städte, entweder aus wirtschaftlicher Not oder auf der Flucht vor Bürgerkrieg. Sie haben sich notgedrungen selber entwurzelt. Sie haben Angst ...

L: Na sicher, Angst ... Angst ist der Schlüssel jeder Religion. Ohne Angst funktioniert Religion überhaupt nicht. Da ist schon vorteilhaft, dass in Afrika mehr als nur das eigene Leben entzweibricht -  da bricht ja gleich alles zusammen, der Umbruch ist so gewaltig, dass er dem Weltuntergang recht nahe kommt. Und in Südamerika ist es nur graduell besser.

F: Ist vielleicht die afrikanische Endzeitstimmung ein zusätzlicher Grund für den Missionserfolg endzeitlicher protestantischer Fundamentalisten in Afrika - neben deiner Theorie vom “reineren” Christentum? Und dann noch was, du hattest es bereits erwähnt: die häufige Verknüpfung protestantischen Glaubens mit dem ausgesprochenen oder zumindest impliziten Wohlstandsversprechen.

L: Kann sein. Andererseits verbuchen - ohne dieses Wohlstandsversprechen - eben auch der Islam und die katholische Kirche beträchtlichen Zuwachs. In Afrikas katholischer Führungsebene wirken teils sehr rigorose Dogmatiker. Die wissen, was an der Basis für Synkretismen laufen und steuern mit aller theologischer Macht gegen. Das wird noch lustig, wenn aus diesem Kreis der erste schwarze Papst in Rom einzieht! Dann können sich die deutschen Katholiken mit ihrem Ökumene-Tick auf einiges gefasst machen.
Übrigens missioniert auch der Islam in Afrika erfolgreich. Und neben den offiziellen Religionen profitiert auch mancher Religionspirat. Dutzende Prediger kapern sich ihr Stückchen Protestantismus und werden damit reich - wie in Amerika. Ihre riesigen Trucks mit Lichttechnik und akustischem Hightech quälen sich über Afrikas Pisten, wie früher die Bühnenwagen fahrender Gaukler durch Europa.

F: Wer kutschiert durch Südamerika?

L: Ähnliche Figuren, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen. In Afrika frisst der synkretistische Katholizismus zusammen mit den Evangelikalen und dem Islam die alten afrikanischen Religionen. In Lateinamerika, da fressen Evangelikale und Synkretismen den herrschenden Katholizismus - und das ist nicht einmal verwunderlich. Denn als man die schwarzen Sklaven jagte, fing, verkaufte, in Schiffsbäuche pferchte, zu drei Vierteln während der Überfahrt sterben ließ, um das verbliebene Viertel mit Riesenprofit in Amerika zu verhökern - da hat man eins vergessen: der Ware Mensch ihre Religion zu amputieren. In den Köpfen der zwangsgetauften Sklaven rumorten aber immer noch die Ahnen- und Besessenheitskulte. Und was machte die Sklavenreligion? Sie tarnte sich als braver Kirchgang und legte ihren Göttern die Namen katholischer Heiliger bei, so wie wir Codenamen benutzen, um über Menschen und Dinge zu reden, ohne ihren wahren Namen auszusprechen. Ob sie das nun Voodoo nennen, oder in Brasilien Macumba oder Condomblé, oder auf Kuba Santeria - alles hat mit der katholischen Kirche koexistiert, während es sich verstecken musste. Heute, in Zeiten der Religionsfreiheit, braucht es sich nicht mehr zu verstecken - und mindert so natürlich die Anzahl der Katholiken. Für die evangelikale Mission Lateinamerikas gilt analog, was wir für Afrika erwähnt haben - verstärkt nur um den Faktor, dass die USA den kompletten Kontinent als ihren Hinterhof behandeln. Und dann gibt es noch die Indioreligionen und ihre synkretistischen Mixturen mit Roms Lehre. Und es gibt noch ein paar nahezu unberührte Naturreligionen, wie auch in Afrika und Asien - und selbstverständlich die klassischen Katholiken.

F: Im Fazit sorgt ihr euch um die lateinamerikanischen Synkretismen, du hast mal erwähnt, auf der Jahrfünftkonferenz.

L: Moment! Nicht die Synkretismen machen uns Sorgen. Ob jemand lebendigen Ziegen den Hals zerbeißt ...

F ... oder von Satans geblähten Nüstern auf der Kanzel schwärmt!

L: Irgendwann zerfrisst die Polemik dein Gehirn! Es geht hier nicht um Unterhaltung, nicht um die Spiele zum Brot. Meine Bemerkung über neapolitanische Volksfrömmigkeit ist mein privater Witz. Unabhängig davon sind die Dreiunddreißig besorgt, wenn die Kulte beginnen, sich politisch zu vernetzen, bis hinauf zur Ratsebene. Magst du dir die Atommacht Brasilien vorstellen - in der Macumba zur Staatsreligion avanciert ist?

F: Denen liegt aber doch der politische Gebrauch ihrer Macht über die Seelen völlig fern!

L: Genau wie den Christen - bevor Konstantin ihren Glauben zur Staatsreligion erhob.

F: Gibt es überhaupt eine Religion, die bei uns ungeschoren davonkommt?

L: Bei dir weiß ich das nicht. Ich persönlich finde den Buddhismus - abgesehen von der japanischen Ausprägung - ziemlich anziehend.

F: Was ist mit dem Hinduismus?

L: Gelegentlich problematisch, aber nur, wenn ihm Muslime oder Christen in die Quere kommen ...

F: Was soll der Quatsch? Ich kann doch keine Religion ernstnehmen, die einen Menschen als minderwertig deklariert, weil er Klos putzt oder Tiere schlachtet! Oder die den Berufsverkehr einer Großstadt lahm legt, weil gerade mal eine Kuh auf dem Zebrastreifen steht. Oder die Frauen verbrennt, wenn sie Witwen geworden sind. Oder die junge Mädchen ermordet, bevor die Mitgift für sie fällig wird.

L: Niedlich, wenn du dich aufregst! Aber es stimmt natürlich: In seinem Binnenraum steht der Hinduismus für Vielerlei, was nach unserem Wertesystem unakzeptabel sind. Trotzdem ist er an seinen Grenzen zu anderen Kulturen heute um Frieden bemüht, auch im Verhältnis zu China. Apropos - du hast mal erzählt, wie deine Eltern dir von einem besonderen Strand an der Ostsee Schafgarbenstängel mitgebracht haben für die ordnungsgemäße Befragung des Orakels ...

F: ... jaja, schon gut. Man müsste Bibel und Koran so lesen können, wie das I Ching ...

L: ... auch befragen? Eine Nadel reinstecken und dann den angepickten Vers zum Orakel erheben?

F: Hab ich nie behauptet.

L: Ersetzt du nicht trotzdem Glauben durch Aberglauben?

F: Zumindest höre ich mir keine Predigt über Satans Nüstern an! Das I Ching ist ein mathematisches Spiel. Es basiert auf dem binären Zahlensystem, das erst von Leibniz wieder aufgegriffen wurde und es beruht auf der Hypothese des konzentrierten Zufalls ...

L: Du Spielernatur!

F: Und es bietet ...

L: Ja, wissen wir ja alles! Fest steht: Ich bevorzuge genuin asiatische religiöse Modelle, weil die nicht unentwegt durch die Welt rennen, um anderen Leuten die Ohren vollzuquatschen. Zu denen schleichen jetzt die Islamisten in die Dörfer mit ihrem Scheißtraum vom Gottesstaat, der durch Sprenggürtel und Maschinengewehre zu errichten wäre. Da sind wir wieder beim Islamismus. Seit Januar 2004 zweitausend Tote. Jedem Bombenbauer bieten die feigen Islamisten 200 Euro - was in Thailand eine Menge Geld ist für arme Leute, die ihrer Familie was hinterlassen wollen.

F: Ich hatte nach einer Weltreligion gefragt, die nirgends Schaden stiftet.

L: Das Judentum.

F: Das sehen die Palästinenser anders.

L: Das sahen auch Europas Antisemiten anders, während die Juden versuchten, in der Diaspora zu überleben. Sie verbrannten keine Hexen. Sie bekehrten nicht mit Feuer und Schwert. Sie liefen nirgends rum, um fremde Leute mit ihrem Glauben vollzulabern. Sie waren einfach da.

F: Komm - jetzt nicht auch noch Nahostkonflikt!

L: Du hast angefangen. Schau, der Islamismus - und bitte präge dir ein, Islamismus ist nicht gleich Islam - provoziert überall in der Welt Bruchlinienkonflikte ...

F: ... ein ziemlich wortgetreues Huntington-Zitat.

L: Was dagegen? Die Islamisten stiften überall Probleme. In ihren westlichen Gastländern, die sie hassen, verachten, gleichwohl jedoch bewohnen unter Ausnutzung rechts- und sozialstaatlicher Vorteile. Wohlgemerkt, ich rede nicht von den Millionen integrierter oder zumindest juristisch unauffälliger Muslime, die friedlich im Westen leben! Im Sudan, wo sie ihre eigenen Glaubensbrüder und -schwestern abschlachten, weil sie schwarze Hautfarbe tragen. Auf dem Balkan. Im Maghreb. Mit den Orthodoxen streiten sie sich im Kaukasus und längs der asiatischen Bruchlinie. Mit den Chinesen streitet eine Unabhängigkeitsfraktion und eine Islamistenfraktion der Uiguren. Mit den Katholiken auf den Philippinen streiten sie auch. In Indonesien und Thailand werfen sie Bomben. Zwischen Indien und Pakistan schwelt immer noch der ganz große Streit. Zwischen dem schiitischen Iran und der sunnitischen Welt wieder ein anderer Konflikt. In Nigeria brennen Islamisten Kirchen nieder. Im Irak Moscheen. Und der ganze Islam hat insgesamt ein Problem mit Israel.

F: Das sind die neuen Religionskriege. Zur Abwechslung mal eine Frage über die alten: Ich frage zum Datengerüst der islamischen Expansion des achten Jahrhunderts. Und zwar wird das jetzt meine berühmte “Goldene Frage”, deren ehrliche Beantwortung du zugesagt hast ...

L: ... vorausgesetzt, sie betrifft nicht unsere Sicherheit.

F: Tut sie nicht.

L: Dann schieß los.

F: Ich habe auf der Website einen Fehler entdeckt. Im Vertrauen auf die Korrektheit eurer Angaben habe ich die Schlacht von Xeres de la Frontera, mit der die islamische Eroberung Spaniens begann, auf das Jahr 703 datiert. Will sagen, ich habe schlichtweg euer falsches Datum abgeschrieben. 711 wäre richtig gewesen. So was ist natürlich unprofessionell und hochgradig blöd, kann aber jedem mal passieren. Merkwürdig jedoch ist folgender Satz in der Akte Poitiers, den ich hier wörtlich zitiere. Er ist von mir nicht bearbeitet, sondern zu hundert Prozent euer Original: “Zwei Jahre nach der Schlacht von Xeres ins Amt gekommen trug er die Bürde nun seit 27 Jahren.” Das bezieht sich auf princeps Hildeger von Tours ...

L: Autsch!

F: Ach ja? Die Akte Poitiers befasst sich mit Ereignissen des Jahres 732. Siebenundzwanzig Jahre zurück landen wir bei 705, zwei Jahre nach dem falschen Datum, das ihr für die Schlacht von Xeres angebt. Ihr habt euch also nicht einfach nur mit einer Jahreszahl vertan, die ich dann falsch abgeschrieben habe - nein, euer Datengerüst ist zwar falsch, aber in sich durchaus stimmig. Ihr meint 703, obwohl 711 richtig wäre. Wenn ihr 711 für richtig hieltet, und Hildeger wäre zwei Jahre später, also 713, ins Amt gekommen, dann hieße der Satz. “Zwei Jahre nach der Schlacht von Xeres ins Amt gekommen trug er die Bürde nun seit neunzehn Jahren.” Neunzehn, nicht 27! Irgendwas läuft da grundfalsch. Das ist mehr als ein Versehen.

L: Du hast Ariadnes Faden entdeckt. Such den Weg durchs Labyrinth!

F: Ich finde ganz banale falsche Jahreszahlen. Wie viel Korrekturarbeit steht mir bevor?

L: Lass gut sein ... wir erledigen das! Wir geben zu manchen Punkten bewusst falsche Auskunft, aus Gründen, die ich noch nicht erklären darf. Aber wir stellen alles richtig. Mehrere Akten und Dossiers sind davon partiell betroffen ...

F: ... und Nota Agrippae, Columnae? Und widerwort?

L: Nicht widerwort. Widerwort ist frei davon. Wir bringen Columnae zuende, ab 2006 kannst du für uns noch ein paar Kölner Geschichten redigieren und danach wenden wir den Teppich, die ganze Website, so dass ihr eigentliches Muster sichtbar wird.

F: Wann genau?

L: Du merkst als erster, wenn es losgeht.

F: Und bis dann sollen die falschen Daten stehen bleiben? Unter meinem Namen? Vergiss es!

L: Wir entbinden dich ausdrücklich von jeder Verantwortung, du kannst das gern noch mal extra betonen, vielleicht im editorial - aber geh jetzt nicht auf Fehlerjagd! Vertrau mir und verschwende keine Zeit!

F: Falsche Daten, die ich finde, werden korrigiert - oder ihr sucht euch einen neuen Herausgeber.

L: Mach, was du willst!

F: Ganz bestimmt. Ihr benutzt mich ja offensichtlich, um den Leuten Märchen ins Ohr zu blasen. Dann sollten es zumindest Märchen sein, die ich selber nicht durchschaue. Und wo ich sie durchschaue, weise ich drauf hin ...

L: Ist ja gut ... nur zu! Erinnerst du dich an Zett?

F: Das war genauso mieses Infomanagement!

L: Es ist sogar dieselbe Strategie.

F: Moment ...

L: Ich hör den Groschen fallen ... und fallen ... und ...

F: ... das alles ist nur Kern einer ganz anderen Struktur, deren Veröffentlichung erst noch ...

L: Pling! Der Groschen ist gelandet.

F: Hm.

L: Unzufrieden?

F: Ich wart es ab. Neues Thema: die Wechselwirkung zwischen Islam und Evangelikalen.

L: In den Reihen beider gibt es je eine gefährliche Minderheit. Zwei Sorten Apokalyptiker. Die Islamisten wollen die Welt im Haus des Islam versammeln, damit die Welt dann untergehen kann. Die fundamentalistischen Evangelikalen ticken ganz ähnlich. Sie erwarten, absolut bibelgläubig, den Weltuntergang und zwar konzentriert in oder um Israel.

F: Und mittendrin Europa, dessen religiöse Identität verloren zu gehen droht!

L: Gut, wir kennen Bestrebungen, Religion zum Identitätskitt der EU zu machen. Ich halte das nicht für erfolgversprechend, was Liturgie und Glaubenspraxis angeht. Natürlich bleiben die Kirchen trotz allem Schatzkammern unserer Gesellschaft. Sie haben eine Menge Geschichte gespeichert in Gestalt von Architektur, Literatur, Kunst und Kunsthandwerk. Neben der Antike ist dieses jüdisch-christliche Erbe unsere zweite Wurzel, die wir unbedingt pflegen müssen. Das muss einer breiten gesellschaftlichen Basis immer wieder vermittelt werden. Aber es ist eben Wurzel und nicht Baumkrone. Die Krone, das wohin wir wachsen müssen, ist eine tolerante, liberale, solidarische Gesellschaft, in der Religion strikt Privatsache ist - und auch niemand sich in die Privatsache des Nächsten einmischt.

F: Die jungen Frauen vom Petersplatz in Rom, die Jugend, die um so viel religiöser ist als wir ... was wird sie bewegen?

L: In Süd- und Osteuropa ein bisschen. In Westeuropa wenig.

F: Wenigstens eine gute Neuigkeit!

L: Wieso?

F: Weil aller Religiosität per se Intoleranz anhaftet. Wer auf seine ganz persönliche, unbedingte Wahrheit das Leben gründet, kann nicht gleichzeitig zugeben, sein Nächster mit einer abweichenden unbedingten Wahrheit hätte genauso recht. Unbedingte Wahrheiten stehen notwendig in Konkurrenz. Sie versuchen, einander zu verdrängen.
Weißt du, so sympathisch die Weltjugendtagsatmosphäre in Köln war, es gab doch ein beklemmend typisches Einzelereignis. Die Stadt hatte den Jugendlichen für ihr Fest und ihre Selbstdarstellung nun wirklich Tür und Tor geöffnet. Köln hatte tief in den Geldbeutel gegriffen. Die Verkehrsbetriebe fuhren Sonderschichten. Die Bürger halfen. Die Autofahrer ertrugen geduldig weiträumige Absperrung und stundenlange Umwege. Jeder nahm Rücksicht auf dieses Ereignis, das tagelang Kölns Straßen beherrschte. Und die Teilnehmer des Weltjugendtags nahmen die ganze Zuwendung auch wohlwollend entgegen. Bis ein einziges Auto mit jugendtagskritischen Plakaten durch Köln fuhr. Weißt du, was da geschah? Die jungen Katholiken, die alle Straßen Kölns beherrschten, konnten diese einzige abweichende Meinungsäußerung nicht ertragen. Das ging nicht. Mit diesem Auto wollten sie die geliehenen Straßen der Stadt nicht teilen. Da wurden sie lieber gewalttätig, die Friedensbeter. Als sie versuchten, das Auto zu stürmen, konnten sich die Insassen nur mit einem waghalsigen Start in Sicherheit bringen.
Sie können so inbrünstig singen wie sie wollen. Sie können um Frieden beten, bis sie umkippen. Ihrer eigenen Friedfertigkeit werde ich stets misstrauen.

L: Da ist viel Bitterkeit im Spiel.

F: Natürlich. Wie wirkt der europäische Protestantismus?

L: Zahm. Fast immer konstruktiv.

F: Die Orthodoxie?

L: Auf dem Balkan gefährlich. In Russland staatstragend, meist in scharfer Abgrenzung vom Islam. Obwohl man mit Prognosen vorsichtig sein muss, denn es passieren kuriose Dinge. Russlands orthodoxe Kirche zieht zum Beispiel in Erwägung, die muslimische Mehrfachehe anzuerkennen - zur besseren Integration muslimischer Minderheiten.

F: Die Evangelikalen in den USA?

L: Werden uns die transatlantische Partnerschaft immer ein bisschen schwer machen - sie aber nicht zerstören können.

F: Afrikas und Lateinamerikas aufgeregte Religiöse?

L: Weder die Evangelikalen noch die Synkretisten, noch die originär einheimischen Religionen haben für Europa wirklich Bedeutung. Wohl aber für die Länder selber. Wenn ein Staatschef seine Entscheidungen mit einem angeblichen Hexenmeister bespricht, tut das seinem Land kaum gut. Auf Europa jedoch wirken sich nur die katholischen Kirchen Afrikas und Lateinamerikas aus. Was dort passiert, schwappt über Rom und die nächste Papstwahl zu uns zurück. Kann sein, wir kriegen auf dem Papstthron einen milden Südamerikaner, der immer schon Verständnis für die Befreiungstheologie hatte. Oder einen beinharten afrikanischen Kardinal, der es den laxen Katholiken Europas mal so richtig zeigen will. Das wiederum könnte dann in Europa rechtsextreme Tendenzen stärken - oder auch nicht. Es könnte zu einer neuen Afrikapolitik der EU beitragen - oder auch nicht. Es könnte ganz generell Solidarisierung auslösen - oder entsolidarisieren, einigen - oder spalten. Wer das wüsste ... !

F: Asien? Indien? China? Japan?

L: China hat religiös stets in sich selber geruht. Japan auch. Für Indien lauten die Fragen: Wie weit lässt sich der Hindu-Nationalismus durch den indischen Rechtsstaat zähmen? Und kommt der Hindu-Nationalismus mit den islamischen Minderheiten im Land klar - und natürlich mit den Nachbarn Pakistan und Bangladesh? Wobei ich den Hindu-Nationalismus zwar überhaupt nicht mag, doch zugeben muss, dass er der Provozierte ist, nicht der Provokateur. Provokateur sind auch hier wieder aggressive Kräfte, die aus der islamischen Gemeinschaft herkommen.

F: Was hältst du von der neuen These, wir Europäer müssten uns stärker unserer religiösen Wurzel versichern, sonst könnten wir in der Globalisierung nicht bestehen, wären der demographischen Herausforderung durch die Parallelgesellschaften der Migranten nicht gewachsen und eventuell auch nicht der Bedrohung durch den islamistischen Terror?

L: Nichts. In der Globalisierung müssen wir wettbewerbsfähig bleiben oder werden. Beten hilft da wenig. Gegen den Terrorismus helfen Polizei, Geheimdienst und Militär. Oft wird auch die Verbesserung der Lebensumstände in den Herkunftsländern des Terrorismus gefordert. Aber die bewirkt meiner Ansicht nach kaum was, weil es den Tätern um ihre perverse Definition von Reinheit geht - nicht um soziale Gerechtigkeit. Die Migranten in unseren Ländern müssen wir integrieren - bis auf Straftäter, die wir abschieben. Und wenn dann in Marseille ein Imam predigt, die Gebärmütter muslimischer Frauen in Europa wären die Waffe, mit welcher der Islam Europa schließlich erobern werde - na, dann lass ihn schwätzen und vertraue auf die langfristige Verführungskraft der Freiheit. In keinem dieser drei Fälle wäre Glaubensstärke sachdienlich. Ich denke, eher das Gegenteil trifft zu, denn überall ist ja Pragmatismus gefragt. Die ideologiebehafteten Kreuzzüge sind bekanntlich gescheitert. Die Kirchen bleiben Schatzkammer unserer Gesellschaft und müssen als solche beschützt und bewahrt werden. Punkt. Ansonsten ...

F: Glaubst du an Gott?

L: Ich bin Agnostiker. Die  Existenz Gottes würde die Hälfte meiner Fragen beantworten - die andere Hälfte jedoch völlig unlösbar machen. Und du?

F: Ich wünsch mir manchmal, eines Tages treff ich ihn und stelle ihn zur Rede.

L: Und bis dahin? Tun wir mal so, als wolltest du eine gute Tat tun! Auf welcher Grundlage würdest du moralisch handeln - ohne Gott?

F: Situationsethik. Danke für das Gespräch.

Das siebte widerwort (Wir führten das Gespräch am 18.08.2008, nach dem Rücktritt Musharrafs vom Amt des pakistanischen Präsidenten - zeitnah bei den Olympischen Spielen von Peking und kurz nachdem man mir bedeutet hatte, ich dürfe Zett nicht weiter veröffentlichen.)

F: Glückwunsch.

L: Sei bloss vorsichtig!

F: Wieso? Glückwunsch zum magister consilii. Obwohl du danach keine Zeit mehr hattest für ein neues widerwort.

L: Ist das nicht länger her? Ich glaube ... November 2005, bevor Pakistan Hatf 5 testete ...

F: ... was?

L: Mach Hausaufgaben! Pakistans atomwaffentaugliche Mittelstreckenrakete. Das angekündigte Balkan-Interview hab ich dann aus Gesundheitsgründen abgesagt.

F: Wer’s glaubt! Weißt du, ich bin stinksauer ... und lenk jetzt bloss nicht ab auf das alberne Balkanwiderwort ...

L: Du selber sprichst das Thema an!

F: Ihr lasst mich den Anfang von Zetts Geschichte publizieren, gerade im Hinblick auf Pakistan, Peschawar, den gescheiterten Versuch Inter Services Intelligence unter demokratische Kontrolle zu bringen ... und jetzt verbietet ihr die Fortsetzung, exakt im Augenblick, wo Musharraf zurücktritt.

L: Quatsch - wir bitten dich nur, Zett zu verschieben. Prioritäten ändern sich halt. Aber doch nicht weil Musharraf stürzt, so schlimm das auch sein mag. Hier geht es um weit Größeres. Hier geht Oktober agrippas mund in Fortsetzung und wird sukzessive archiviert - in Plumbum Agrippae. Hier entsteht aus agrippas mund ein neuer, fortlaufender Text, ein Text dessen Vollendung Jahre beanspruchen dürfte ...

F: ... und den ein anderer Herausgeber betreut. Ich hab nämlich die Faxen dicke.  Ich schreibe jetzt mein Buch über den Sammler.

L: Abah - du kannst doch gar nicht ohne uns ... oder halt, wenn doch, lies vielleicht erst mal Camille Paglia, Sexual Personae. Sonst wachst du am Ende auf und hast das Rad neu erfunden.

F: So überflüssig wie ihr bin ich schon lange. Plumbum Agrippae zum Beispiel war für 2009 geplant, ausdrücklich als Jubiläumsspielerei des princeps.

L: Das war ein anderes Plumbum Agrippae ... vor Czartoryskis Selbstmordattentat ...

F: - ?

L: ... bevor wir sein Vermächtnis kannten.

F: - ?

L: Lass mich erzählen ...

F: Czartoryski ist tot?

L: Ja.

F: Karl princeps?

L: Ja.

F: Und Stellvertreter?

L: Peeters.

F: Ach du Scheiße!

L: Ja. Und sie ist nicht begeistert von der Offenheit, mit der Zett die Ereignisse aus 2003 schildert. Auch Czartoryski war nicht amüsiert, er kommt ja gar nicht gut dabei weg. Trotzdem winkte er dein Projekt durch, um eine Aura der Führungsschwäche zu erzeugen. Er war vielleicht ein sturer Hund, aber auch eiskalt und völlig schamlos. Im Grunde hat er wieder alle Welt gelinkt, wie bei der Suche nach Aurum Agrippae ... du schilderst das ja anschaulich im Buch ...  also ... im Archchivbuch, nicht in Zett.

F: Karl princeps, die Peeters successor ... und Czartoryski tot.

L: Er flog zu Ho Lung und hat sich neben seinem chinesischen Kollegen in die Luft gesprengt.

F: Und du?

L: Lebendig, wie du siehst.

F: Ich meine, bleibst du unter Peeters magister consilii?

L: Ja.

F: Klingt ein bisschen resignativ ... wolltest wohl magister bei Karl werden!

L: Man lebt. Für einen wie mich ist das viel.

F: So also ... Czartoryski hat sich mit seinem Kollegen Ho Lung gesprengt ... folglich ist, wenn es nach der Rangordnung geht, jetzt Lao She neuer Chef der Vierundsechzig. Oder saß der mit am Tisch?

L: Iwo - gerade um ihn ins Amt zu bringen, hat Czartoryski sich ja geopfert. Ho Lung war nach diesen punktgenauen uigurischen Bus- und Polizeiattentaten nicht mehr tragbar. Die Koalition steckte in massiven Problemen. Jetzt, nach Czartoryskis Opfergang geht das Bündnis mit dem Orakelrat weiter.

F: Also hat Czartoryski den COR-Chef gesprengt, um das Bündnis zu retten?

L: Genau.

F: Warum hat er das nicht gemacht, bevor Herr Dsien und Benjamin ...

L: Oh ... die hätten wir fast vergessen! Dsien und Manners sind wohlauf. Beide gehen bald wieder an die Arbeit. Ho Lung hatte befohlen, Manners zu liquidieren. Ben Manners hatte aber Glück mit den Vollstreckern. Die waren nicht ganz einverstanden mit ihrem Befehl, weil sie insgeheim mit Lao She sympathisierten. Sie haben also Manners’ Tod vorgetäuscht. Manners hat sich verkrochen. Wir haben Dsiens Selbstmord aus Protest vorgetäuscht. Dann ist Czartoryski mit seinem Sprengstoffgürtel nach Loyang geflogen, angeblich um die Scherben zu kitten ...

F: Hatten die keine Sicherheitsschleuse?

L: Doch, aber sie hatten auch einen Lao She treu ergebenen Wartungsingenieur.

F: Wieso kooperiert COR mit euch, obwohl Czartoryski deren Chef zerlegt hat?

L: Nicht obwohl. Eben deshalb. Damit ist die aggressive, repressive Minderheit jetzt kopflos. China will mehrheitlich jetzt keine Konfrontation. Sie haben die Nordkoreaner überzeugt, den Reaktorkühlturm Yongbyon zu sprengen. China und Japan beuten die Gasvorkommen im Ostchinesischen Meer gemeinsam aus. Der japanische Zerstörer Sazanami besucht den chinesischen Hafen Zhanjiang. Es gibt direkte Flugverbindungen Taiwan-Festland. Alle Zeichen stehen auf Kooperation. China emanzipiert sich auf der Weltbühne. Es bewältigt die Olympischen Spiele recht ordentlich, obwohl es natürlich das Olympische Komitee um seine Blütenträume von Freiheit betrogen hat. Es arbeitet an seinen enormen inneren Problemen. Es leiht Amerika Milliarden. Mit uns steht es bestens.

F: Und euer Verhältnis zum Neuweltrat?

L: Geschäftsmäßig. Wir hatten denen nie was versprochen. Nichtmal im Kaukasus. Wenn sie sich Hoffnungen gemacht haben ...

F: Sie werden euch das heimzahlen, gerade nach den Ereignissen in Georgien. Alle haben mitgekriegt, wie hoch die bündnispolitischen Wellen schlugen.

L: Woran du nicht ganz unbeteiligt warst. Dir ist klar, dass wir dich benutzt haben ... nicht schimpfen - genau das ist deine Funktion. Langer Rede kurze Sinn. Czartoryski beschwor ein Szenario herauf, angesichts dessen die Beobachter der Räte glaubten, es ginge nun ans Eingemachte. Herr Dsien tauchte unter, damit bestimmte Chinesen glaubten, Manners sei zuverlässig tot. Außerdem musste Dsien von der Bühne, um andere COR-Leute zu ködern. So konnte Lao She argumentieren: Vielleicht gelingt es uns, trotz des Streits einen neuen magister imperii aus unseren Reihen zu implementieren ... vielleicht sind die Gründer ja blöd.

F: Wer darauf reingefallen ist, fühlt sich total gedemütigt.

L: Gedemütigt? Die haben kein Gesicht mehr, das Gesocks ergrauter Rotgardisten! Diese Penner! Keine Nerven, null Kreativität - nur schikanöses jämmerliches Gesindel, das auf jeder mißliebigen Regung herumhackt. Solchen Hausmeisterdarstellern gibt man nicht nach! Niemals! Denen vertraut man doch kein Land an! Im Gegenteil, wichtig ist, dass die nicht ihren Willen kriegen. Gut ist, was sie in den Wahnsinn treibt. Gut ist, woran sie sich im Widerstand aufreiben. Um das bekannt zu machen, gebe ich das Interview. Ein Freundschaftsdienst für Lao She. Systematisches Nachtreten, wenn du so willst.

F: Wirkt nicht sehr entspannt.

L: Weißt du, mein Lieber, es ist verdammt schwer, im Rollstuhl entspannt zu wirken, fast so schwer, wie mit meinen Beinen irgendwen zu treten. Überleg, mit wem du sprichst! Aber jetzt lass mich endlich berichten. Du hast ja selbst genörgelt, der Glanz von Aurum Agrippae sei ein wenig stumpf, blass, entzaubert, seit De Kempenaer aus der Partie schied. In seiner Hand waren Mutmaßungen über Aurum Agrippae eine fürchterliche Waffe. Einmal veröffentlicht, schrumpfte Agrippas Gold zum beeindruckenden historischen Dokument, zur wichtigen Quelle. Was ja nicht wenig ist - aber auch schon alles. Es gibt zwar noch ein paar unveröffentliche Passagen - sie werden nie veröffentlicht, da brauchst du gar nicht so indigniert zu schauen - und am Schluss die chinaskeptische Passage. Und eben die hat Czartoryski kaltblütig abgewartet. Vor diesem Hintergrund, so sein Kalkül, wäre unsere strategische Wende noch einen Tick glaubhafter, weil alle Welt nun dächte: Ho Lung hat genervt - die Gründer reagieren in Agrippas Tradition. Punkt. Keine Fragen.

F: Seit wann existiert der Plan?

L: Muss ich raten. Die erste Idee kam Czartoryski vermutlich 2001, vielleicht im Gespräch am Krankenbett, wie du am Schluss des Romans schilderst. Er hat den Text gleich auf Chancen abgeklopft, dem Orakelrat bei seinem internen Konflikt zu helfen. Als der Text Jahre später erschien - und du wie üblich frech auf mögliche Implikationen hingewiesen hattest, schlug er erbarmungslos zu. Was den Kern der Idee angeht ... doch, je länger ich überlege, desto plausibler wird 2001. Denk mal an den Wortwechsel, den du zitierst. Die letzten Zeilen des Archivs der Gründer (er blättert im Roman und zitiert):
“Der princeps und sein praefect waren eben durch die Tür, als ihnen der successor nachrief: Ihr wisst, Herr, dass wir damit noch nicht quitt sind!
Zuerst erschien Manini im Rahmen, wollte sich empören, sah dann aber Bucholtz’ zerschundenes Gesicht und zog es vor zu schweigen.
Czartoryski schob ihn beiseite: Wir sind nicht einmal morgen quitt, Karl, nicht einmal, wenn sie dich hoffentlich einstimmig bestätigt haben. Wir beide, Karl, sind quitt, wenn ich tot bin. Wenn du dann auf meinem Stuhl sitzt und meine Last trägst, zu der auch dein eigener Nachfolger gehören wird, dann Karl, dann sind wir quitt.”
Prophetisch, dass es einem kalt den Rücken runterläuft - jetzt ist die Peeters Karls successor. Ich vermute, Czartoryski hat geahnt, wie du auf Aurum Agrippae reagierst. Deshalb ertrug er gelassen, wie unvorteilhaft er in Zett wegkam. Er hat dir dein Quäntchen Größenwahn gegönnt - und hinter dem Vorhang der Lächerlichkeit alles vorbereitet.

F: Seit wann kennst du Czartoryskis Plan?

L: Seit Karl ihn mir erklärt hat - nach dem Selbstmordattentat.

F: Wann wusste Karl davon?

L: Ich hab nicht gefragt.

F: Weil die Antwort peinlich wäre?

L: Jetzt sei mal nicht so frech zum neuen princeps. Immerhin hält er seine schützende Hand über dich. Wenn es nämlich nach Peeters ginge, würdest du morgen aus dem Fenster stürzen und bei der Obduktion würden 3 Promille in deinem Blut festgestellt, damit kein Mordverdacht aufkommt. Sie hat getobt, als sie das erste Zett-Kapitel las.

F: Ich hab nur geschrieben, was ihr mir erzählt habt, du und Zett!

L: Musst du immer schreiben, was man dir erzählt?

F: Wo hat sich Herr Dsien versteckt? Wer wurde an seiner Stelle beerdigt? Wie überlebte Ben Manners in China?

L: Ad eins: kein Kommentar. Ad zwei: Ein unbescholtener venezianischer Ladenbesitzer wurde unter seinem korrekten Namen und mit schmeichelhaftem Foto auf dem Kreuz zur letzten Ruhe gebettet. Unsere Delegation war dabei, ohne die Trauer der Hinterbliebenen zu stören. Und die Beobachter der Bruderräte dachten: Schau an, da fährt Herr Dsien in die Grube. Ad Drei: Null Ahnung, wo Manners sich versteckt hielt.

F: Warum darf mein Text nicht erscheinen? Wegen dieser Geschichte oder weil zufällig heute, kurz vor unserem Gespräch, Pervez Musharraf zurücktrat?

L: Weil wir im Augenblick die Aufmerksamkeit auf Plumbum Agrippae lenken.

F: Was steht drin?

L: Kalter Krieg. Darüber hinaus werdet ihr tiefenpsychologische Purzelbäume schlagen über Czartoryskis Text. Er sagt den eigenen Tod voraus. Er schreibt, als lebte Siau Chou noch. Er lästert fies gehässig über die Freundin seines Nachfolgers, der bei ihm Hockenbrannt heißt. Die Freundin nennt er aber trotzdem Monica. Teils der Fiebertraum eines Polen, der die deutsche Einheit nicht verkraftet. Teils eine große What-If-Saga. Okkult. Mystisch. Die verschlüsselten Befehle an die legaten werdet ihr wie üblich überlesen. Tröste dich übrigens: Vielleicht pausiert Czartoryskis Text zwischendurch, und du veröffentlichst ein bisschen Zett. Wir sagen dir Bescheid, wenn’s so weit ist.

F: Reizend - inzwischen stapeln sich die Fragen, was den chinesisch-pakistanischen Komplex angeht. China hat Geld und Arbeiter geschickt, um in Pakistan einen Tiefseehafen für die allerjüngste Tankergeneration zu bauen ...

L: ... Gwadar.

F: Da wird demnächst die schwarze Fracht gelöscht und fließt über Pipelines auf dem Landweg nach China. Nicht mehr tausende Seemeilen um den Rivalen Indien herum. Auch nicht mehr durch die terrorgefährdete Straße von Malakka. Hat Bucholtz daran mitgewirkt? Was haben die Inder bekommen, damit sie stillhalten? Und war es ein beabsichtigter Nebeneffekt, dass die Straßen- und Eisenbahntrasse neben der Pipeline durch Pakistans aufständische Stammesgebiete führt? Pazifikation?

L: Klar war das Kooperation COT/COR! Fließt erst mal Öl über den Himalaya nach China, durch Xinjiang - da leben übrigens rebellische muslimische Uiguren, aber ob die wirklich die Anschläge verübt haben, nicht wahr ... also fließt erst mal Öl, dann hat China vitales Intersse am stabilen Pakistan. Dann passen die Chinesen auf, dass Pakistan nicht den Islamisten in die Hände fällt. Und wie China dann aufpasst! Genau wie Indien. Genau wie wir. Und alle vernünftigen Pakistaner. Das könnte eine übermächtige Allianz gegen Al Quaida und die Taliban werden. Und Karl hat daran mitgewirkt. Er hat einen besonderen Draht nach Pakistan, schon seit er mit Willem Taads unsere Scheinfirma in Rotterdam betrieb. Das Schiffscatering, erinnerst du dich? “Zwei tiefgefrorene Schweinehälften, achtzig Büchsen Rindergulasch für die Pakistanis” ... an manchem schlichten Halbsatz des Romans hängen unendliche Geschichten. Was nun die Inder angeht - sie haben gar nichts bekommen, freuen sich allerdings über jede Niederlage Al Quaidas. Inzwischen haben wir auch die Deobandis soweit, dass sie sich vom Terror distanzieren. Eine komfortable win-win-Situation. Trotzdem müssen wir aufpassen, dass Pakistan nicht abrutscht. Musharraf war nie ein großer Demokrat, aber die großen Demokraten haben in nicht mal einem halben Jahr die Sicherheitslage in den Tribal Areas komplett verhunzt. Erst haben die Taliban die Stammesältesten klein gemacht - der Mullah, nicht der Älteste hat jetzt in jedem Dorf das Sagen. Inzwischen terrorisieren sie schon Peschawar. Drinnen in der Stadt entstand am 11. August 1988 Al Quaida, die Basis. Draußen ballern jetzt die Taliban. Und nebenan in Afghanistan ist nicht einmal Kabul mehr sicher. Dagegen kommt man mit Demokratie nicht an. Dagegen helfen nur Mut, Munition und Schulbücher für die ganz Kleinen, die noch nicht vom Wahnsinn infiziert sind.

F: Wie geht es Karl?

L: Hat sich noch nicht ans neue Amt gewöhnt. Tingelt über’n Balkan. Eins seiner Steckenpferde, wie du weißt. Ist der Spur von Karadžićs Schuppen gefolgt und hat dessen Verhaftung zuwege gebracht. Karl begreift es einfach nicht: Er hofft immer noch, sie geben eines Tages Ruhe. Er verlangt immer noch von Europa genügend Geld und Blut und Geduld, um den Balkan zu befrieden. Dabei gibt es im Rat inzwischen Überlegungen, die Region unter Quarantäne zu stellen. Zum Glück sind diese Pläne nicht konsensfähig.

F: So führen Umwege zum Anno tuftig versprochenen Balkan-Interview?

L: Frag!

F: Aufnehmen oder nicht aufnehmen? Rein in die EU, um zu stabilisieren, oder Vorsicht nach den Erfahrungen mit Rumänien und Bulgarien, wo nach der EU-Mitgliedschaft die Korruption fröhliche Urständ feiert? Ganz zu schweigen von Ungarns Faschisten, Polens Klerikalfaschisten und Tschechiens EU-Skeptikern ...

L: Wir wissen selbst nicht weiter. Europas Engagement passt nicht zum ehrgeizigen Plan der Gründer. Also suchen wir stufenweise Lösungen, denn es steht zu fürchten, dass nach dem irischen Referendum die Zeit der großen Würfe um ist.

F: Wenn Georgien die EU nicht zusammenschweißt. Es soll ja einen EU-Gipfel geben.

L: (skeptisch) Hmm ...

F: Hat Langley in Irland gesponsert?

L: Schau dir die Kontobewegungen an - aber nicht veröffentlichen!

F: Wie könnte ein Land wie Serbien mit seinem historisch bedingten Verfolgungswahn in die EU integriert werden? Oder ein Land wie Mazedonien, dem sein EU-Nachbar Griechenland sogar den Namen missgönnt?

L: So einfach ist das nicht. Du weißt ja, dass wir immer gut mit Tito konnten ...

F: Ja, O-Ton Tito, wahrscheinlich habt ihr ihm das damals geschrieben: Ich bin das Oberhaupt von einem Land mit zwei Alphabeten, drei Sprachen, vier Religionen, fünf Nationalitäten, die in sechs Teilrepubliken leben, von sieben Nachbarstaaten umgeben sind und mit acht nationalen Minderheiten auskommen müssen.

L: So ungefähr. Das hatte Modellcharakter. Aber derselbe Tito hatte zuvor, während in Griechenland der Bürgerkrieg tobte, und die Kommunisten um die Macht in Athen kämpften, an der griechischen Grenze eine jugoslawische Provinz umbenannt. Vorher hieß sie Vadar Banovina. Danach Soziale Republik Mazedonien. Zweck der Aktion war es, die griechischen Kommunisten zu unterstützen und im Norden Griechenlands separatistische Tendenzen zu fördern. Griechenland hat im Bürgerkrieg zehn Jahre verloren und hunderttausend Menschen. Man darf sich nicht wundern, dass es auf den Namen Mazedonien an seiner Grenze allergisch reagiert.

F: Mazedonien hat sich schon 1995 verpflichtet, keine territorialen Ansprüche an Griechenland zu stellen.

L: Dasselbe Mazedonien benennt seinen Flughafen in Skopje provokativ nach Alexander dem Großen. Das macht ein bisschen wachsam. Die Griechen fürchten, dass an ihrer Nordgrenze ein Minderheitenproblem entsteht, vielleicht sogar Separatismus. Alexander der Große - ich bitte dich!

F: Gut, also wenn ihr gegen Separatismus seid - warum dann Kosovo? Was macht ihr, wenn Korsika sich auf die EU-Politik im Kosovo beruft und von Frankreich löst? Außerdem droht auch schon Kosovo wieder zu scheitern. Die Serben in Mitrovice haben ihr eigenes sogenanntes Parlament begründet. Nicht in der Hauptstadt Pristina, nein in Mitrovice, um zu betonen, dass sie mit den nichtserbischen Kosovaren nie und nimmer kooperieren. Und dabei reden wir noch gar nicht von Südossetien oder Abchasien. Was dem Westen recht ist, ist den Russen billig.

L: Das Kosovo löste sich gegen unseren erklärten Willen. Eigentlich finden wir solche Tribalisierungstendenzen im europäischen Kontext überflüssig, noch überflüssiger als das irische Referendum. Auf dem Balkan jedenfalls sind nicht wir es, die nationalistische Diskurse stützen oder ethnischen Homogenisierungstendenzen Vorschub leisten. Genausowenig auf dem Kaukasus. Aber ich habe dir schon oft erklärt: Wir sind nicht allmächtig. Wir stecken täglich Niederlagen ein. Und wir werden noch mehr einstecken, so gewiss, wie wir immer wieder aufstehen. Andererseits haben die Serben, wenn auch lustlos, proeuropäisch gewählt - ohne diese Vorbedingung hätte Karl die Karadžić-Verhaftung nie hingekriegt. Und, was vielleicht noch wichtiger ist: Serbiens Generalität strebt in die NATO, sie verspricht sich davon einen Modernisierungsschub. Wenn jetzt natürlich Serbien noch die Unterstützung der serbische Minderheit im Kosovo aufgäbe, opferte, für das höhere politische Ziel der NATO-Mitgliedschaft oder der EU-Perspektive ... das ist alles im Moment sehr verworren.

F: Bosnien-Herzegowina?

L: Du hast ja inzwischen Jean/Rufin, Ökonomie der Bürgerkriege gelesen, um Zetts balkanische Erlebnisse zu verifizieren ...

F: Ja.

L: Dann weißt du, dass die Menschen dort, die drei ethnischen Gruppen, sich nicht als Völker eines gemeinsamen Staates empfinden.

F: Ist eure Politik gescheitert?

L: Wir waren auf dem Balkan nicht mächtig genug, wieder mal, kaum ein Wunder, es sind die Spätfolgen des osmanischen Imperialismus‘.

F: In dem die Ethnien halbwegs friedlich koexistierten.

L: Naja, unter Androhung des Todes. Aber ich weiß schon, du spielst auf die neue Argumentationsschiene in politisch korrekten Kreisen an, bestimmte Imperialismen gar nicht mehr so negativ zu bewerten. Rom - Byzanz - Bulgarisches Großreich - Konstantinopel/Istanbul - Wien ... neuerdings eben Brüssel. Nur nicht Russland, Russland darf nicht, Russland bleibt außen vor bei der Betrachtung. Russland darf sich nur klaglos demütigen lassen, zwanzig lange Jahre hindurch. Ansonsten immer ein großes Gehege, in dem die Ethnien jeweils zu klein sind, um miteinander zu kabbeln. Mir sagt die Idee was. Sie ist nicht weit weg von den Vorstellungen der Gründer. Vielleicht hast du als unser Propagandist ja winzig kleinen Anteil an der Verbreitung des Gedankens. Vor zehn Jahren war so was jedenfalls öffentlich unsagbar. Heute steht es in IP, dem Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

F: Und der eigentliche Großkonflikt der Region: Serbien-Kroatien? Wird der in der EU versöhnt?

L: Schwer, aber ich wüsste nicht, wo sonst. Problematisch ist, dass die Serben sich in panslawistischer Verbrüderung mit Russland von Gasprom die Pipeline bauen lassen wollen ... ach ja ... 

F: Du klingst schon wieder resigniert.

L: Naja, weil ... immer die verdammten Pipelines! Auch in Georgien wieder! Das führt ja bis Ceyhan. Amerikaner und Russen kämpfen um die Pipelinehohheit. Und die Türkei stürzt in die Staatskrise, auch wenn Erdogan einstweilen auf Bewährung ist. Die kemalistischen Bewahrer sind gegen die EU. Die Freunde der EU, Erdogans AKP, sind verkappte Islamisten. Zum Beginn von Karls principat scheint jedenfalls ausgerechnet sein großer Traum zu scheitern, die Türkei in die EU zu führen. Auch das ist ein Vermächtnis Czartoryskis.

F: Am 14. Juli wurden etliche vermeintliche Putschisten vom rechtsnationalen Rand verhaftet, darunter ein Gendarmerie-General. Diese Gruppen wollten, angeblich in der Tradition von GLADIO, die Türkei durch Anschläge in Unruhen stürzen, um der Armee einen Vorwand zum Putsch zu liefern. Dann die plötzlich aufflammende Kurdenaktivität und die Entführung am Berg Ararat. Dann die Beschießung des US-Konsulats. Dann die Bombenanschläge in Istanbul ... Was geschieht in der Türkei?

L: Warum soll ich’s dir sagen - du wirst es sowieso nicht mögen.

F: Auf wessen Seite steht ihr?

L: Princeps Bucholtz sieht die Türkei in der EU.

F: Aber princeps Czartoryski wollte das exakte Gegenteil. Und es war kein Geheimnis, wie russlandskeptisch der alte Pole war. Nun ist die Türkei einer EU-Mitgliedschaft ferner als je zuvor, während Russland in Georgien reinen Tisch macht und weltweit Sympathien verscherzt. Und ihr veröffentlicht jetzt Czartroyskis pseudoliterarischen Nachlass in der Rubrik agrippas mund. Das stinkt.

L: Karl wird sich freuen, das zu hören.

F: Und du?

L: Ich freu mich, wenn Karl sich freut.

F: Und die Ratsmehrheit?

L: Gehorcht.

F: Das klingt nach einem verdammt steinigen Weg.

L: Viel Feind, viel Ehr!

F: Was macht die Mittelmeerunion?

L: Ja putzig, nicht wahr! Assad lässt das libanesische Kabinett antreten, um den Mann zu knutschen, der einem vierjährigen israelischen Kind den Schädel zerschmettert hat. Der libysche Oberst dreht der Schweiz den Ölhahn zu, bloß weil die Eidgenossen durchsetzen wollten, dass auf ihrem Staatsgebiet Hausangestellte nicht verprügelt werden dürfen. Nichtmal von Gaddafis Sohn. Frau Merkel reist nach Algerien für Energiedeals, kurzum, die Union ist schön ...

F: ... wenn man nur ein paar andere Unionierte hätte.

L: Wir sollten dich zum Pressesprecher machen.

F: Amerika?

L: Wählt im November. Vielleicht, nach Georgien, McCain, weil die Amerikaner sich nun ein Sicherheitsproblem einbilden. Ich glaube aber nach wie vor: Obama. Und der wird die Europäer aus ihrem transatlantischen Honeymoon ganz schnell aufwecken. Vorausgesetzt, er macht überhaupt irgendwas - denn zuerst mal muss er sich ja darüber klar werden, was er eigentlich will. Das ist ein weiter Weg vom Redner zum Präsidenten.

F: Ihr wart für Clinton?

L: Ja. Und es ist eine Sauerei, dass sie nichtmal Vizepräsidentin werden kann.

F: Aber Obamas These, dass der Krieg in Afghanistan wichtiger sei als der Zustand des Irak trifft zu?

L: Wenn er Afghanistan sagt und zugleich Pakistan meint, hat er Recht. Denn über Pakistan sind immer auch gleich China und Indien involviert. In vielen Paschtunendörfern findet jetzt täglich Weltpolitik statt. Es ist eine Tragödie, wie die sogenannten Demokraten Musharraf zum Aufgeben gezwungen haben. Die ganze Region wird den Preis dafür zahlen. Sicher heißt es dann immer wieder, dass Armee und ISI die Taliban erst hochgepäppelt haben, und Musharraf sei schließlich der Oberkommandierende gewesen, aber weißt du eigentlich, wer regierte, wer der Armee den Auftrag gab, die Taliban zu päppeln? Das war Frau Bhutto, die große, tragische Demokratin, die ermordete Lichtgestalt Pakistans. Das ist so ein Mist, was da immer über die Demokratisierung Pakistans erzählt wird. Vor zwanzig Jahren - da konnte man einzelne Provinzen Pakistans durchaus mit der Türkei vergleichen. Heute braucht das Land keine Demokratie, sondern Entwicklungsdiktatur. Mindestens die Hälfte der Muslime betrachten Demokratie ohnehin nur als Vehikel auf dem Weg zum Scharia-Staat. Und mindestens die Hälfte der Demokraten betrachten Demokratie als das System, wo man am kommodesten korrupt sein kann. Das ist wie in der Weimarer Republik. Die ist auch nicht gescheitert, weil Demokratie schlecht für die Deutschen gewesen wäre, sondern weil die Demokratie noch nicht genug Demokraten hatte. Die kamen erst unter dem milden Zwang der Siegermächte.

F: Gewagter Vergleich. Und der Atomdealer Khan? Nach allem, was seine Frau jetzt auspackt, war er doch kein einsames Superhirn mit verrückter Vision! Pakistans Demokraten willst du ihn ja wohl nicht in die Schuhe schieben. Der war ein originäres Militärgewächs.

L: Was die Proliferation angeht ... lass uns mal abwarten. Frau Khan ist ja keine ganz unparteiische Quelle. Und dass das Land die Bombe baute, nachdem die Welt Indiens Entwicklung zur militärischen Atommacht tatenlos zugeschaut hatte ... wir stoßen immer wieder auf ähnlich strukturierte Analogien. Dieselben Leuten, die das Kosovo in die Unabhängigkeit entließen, ereifern sich jetzt über Russlands Politik in Südossetien oder Abchasien.

F: Zurück zu Indien! Hätte man präventiv Mumbay bombardieren sollen?

L: Eben nicht. Es geht in solchen Fragen nicht um Gerechtigkeit. Der Begriff Gerechtigkeit hat da überhaupt nichts verloren. Es handelt sich, viel schlichter, einfach nur um Grund und Folge. Ohne Aktion keine Reaktion.

F: Also hätte man Indien doch hindern solle, seine Atomwaffe zu entwickeln?

L: Und vorher Israel und davor China, Frankreich, England, die Sowjetunion. Am einfachsten wäre eine Welt, in der allein die Vereinigten Staaten über Atombomben verfügten. Achtung. Das war jetzt ironisch. Und Ironie kommt ja bekanntermaßen gar nicht gut im Netz ...  ach weißt du was, ich spar mir den Mumpitz und sag es, wie es ist. Indien hat die Bombe. Das ist nicht schön. Aber es stört mich nicht halb so viel wie die pakistanische Bombe. Israel hat die Bombe. Das finden seine Nachbarn ungerecht, weil es sie daran hindert, Israel zu zerstören. Ich finde es, aus genau demselben Grund absolut prima. Das ist halt so. Wir halten zum Freund. Wir gönnen dem Freund und missgönnen dem Feind. Wenn wir uns durch ein bedrohliches Umfeld bewegen, wünscht sich jeder von uns, ganz ungerecht, den dicksten Knüppel, der ihm notfalls erlaubt, jeden Angreifer platt zu machen. Der Passant neben dir allerdings, ein friedliebender Mensch mit lautersten Absichten, fühlt sich natürlich durch deine Waffe bedroht und reagiert seinerseits. Das fasst du nun wiederum als Affront auf. Vielleicht überlegst du dir: Ich schlag jetzt zu, bevor er mir gefährlich wird ... und so kommt eins zum anderen. Weißt du, bei einem meiner zahllosen Rehaaufenthalte hatte ich mal einen Psychologen, der zitierte einen Sänger, ich glaub, das war der Heller. Sein Spruch ging so: Geht ein Wolf nachts durch den Wald und sieht einen Wolf. Denkt er: ein Wolf! Geht ein Mensch nachts durch den Wald und sieht einen Menschen. Denkt er: ein Mörder!

F: Ist die israelische Bombe ungerecht?

L: Sicher. Aber ich bin froh, dass mein Freund die ungerechte Bombe hat.

F: Wäre die iranische Bombe gerecht?

L: Sicher - aus der Sicht Irans. Und zumindest die zivile Nutzung der Kernenergie im Iran wäre nach objektiven Kriterien gerecht und entspräche internationalem Recht. Trotzdem würde ich alles tun, damit mein Feind nicht die Fähigkeit entwickelt, die Bombe zu bauen. Du siehst - moralische Kategorien sind dabei nicht anwendbar. Wer hier moralisch argumentiert, ist entweder blöd oder heuchelt.

F: Der Mensch des Menschen Wolf?

L: Abah! Geh mir doch weg mit Hobbes! Da bleiben wir doch nicht stehen. Es gibt doch Kompromisse zwischen Leviathanen. Es gibt doch einen Ausgleich von Interessen. Stell dir vor, Karl hätte schon die Kölner Konferenz 2003 als princeps gestaltet ... ich sag dir was, es ist ja neuerdings so viel von diesem Zeitfenster die Rede, der Endzeit von Bush, in der Amerika und Israel gemeinsam das Problem der iranischen Bombe wegbombardieren könnten. Ich hatte Grund, dieses Szenario für sehr wahrscheinlich zu halten. Jetzt, nachdem Karl princeps ist, ist das Szenario viel weniger wahrscheinlich. 

F: Du hältst sehr viel von Bucholtz.

L: Er ist der Herr mein Gott und ich habe keine Götter neben ihm. Aber Achtung, das ...

F: ... war bestimmt wieder Ironie.

L: Du lernst.

F: Nochmal Glückwunsch - bei uns in Deutschland haben sie deine Anregung, die Neonazis finanziell zu verstricken und zu bekämpfen aufgegriffen. Mit Erfolg. Trotzdem nehmen die rechten Gewalttaten zu. Der Straßenterror. Die Internetseiten.

L: Die Demokratie verliert natürlich Charme, wenn sie nicht mehr selbstverständlich mit Wohlstand einhergeht. Erst kommt das Fressen. Wenn das nicht mehr reicht, wenn der Urlaub und das Auto nicht mehr selbstverständlich sind, dann fängt mancher an, in seinem Frust einfache Lösungen zu suchen. Scheinlösungen. NPD, Linkspartei, was du willst ...

F: Du kannst nicht ernsthaft die NPD mit der Linken vergleichen!

L: Wieso? Gegen beide kommt der Verfassungsschutz nicht an. Beide sitzen in deutschen Parlamenten. Beide bieten Scheinlösungen an. Der harte Kern der Rechten war vor zwanzig Jahren kleinlauter und friedlicher. Der harte Kern der Linken hatte vor zwanzig Jahren noch die ganz dicke Fresse und erschoss Menschen an der innerdeutschen Grenze. Auch darum geht es demnächst in Plumbum Agrippae. Der brave NPD-Bäckermeister in Sachsen sagt dir treuherzig, dass er von den rechten Schlägerbanden nichts, aber auch gar nichts hält. Der brave Betriebsrat und Ex-Sozialdemokrat im Ruhrpott wird dir ganz ehrlich sagen, dass ihn die ehemaligen Stasigeneräle in seiner neuen Partei ankotzen. Die Linke schafft es jetzt vielleicht in Hessen. So wie die Rechten es schon mal in Sachsen geschafft haben. Die Volksparteien schrumpfen und verlieren Bindungskraft. Die Ränder erstarken.

F: Aber die Linke hat jedenfalls keine Schlägerbanden auf der Straße.

L: Die NPD offiziell auch nicht, sonst wäre es ja leicht, sie zu verbieten.

F: Und wo bitte stecken die inoffiziellen Schlägerbanden der Linken?

L: Der sogenannte Schwarze Block der Autonomen? Ach nee ... ist gut, der Punkt geht an dich.

F: Georgien?

L: Zunächst mal eine humanitäre Katastrophe. Dann aber auch ein Trauma für das irregeführte georgische Volk. Ausbilder haben die Amerikaner geschickt. Eingegriffen haben sie nicht, als die russischen Panzer zurückschossen.  Das Saakaschwili ist ein hasardöses Testosteronpaket. Es ist ungeheuerlich, dass Merkel ihn auch noch mit der NATO-Perspektive belohnt. Karl sieht das übrigens anders. Er will die Russen zwingen, die Finger von den georgischen Pipelines zu lassen. Aber mal unter uns: Wie blöd muss man eigentlich sein, um einem als Weichei verspotteten Medwedew, der Putin im Nacken hat, diese Gelegenheit zur militärischen Profilierung anzubieten? Und die veröffentlichte Meinung im Westen hat schlicht einen an der Klatsche, um das mal salopp zu formulieren. Die Abchasier und Südosseten möchten nicht zu Georgien gehören. Punkt. Georgien macht den irrwitzigen Versuch, sie mit Waffengewalt zu zwingen. Nun lamentiert der Westen, weil Russland dem Aggressionsopfer hilt. Und McCain hat einen Grund mehr, Russland aus den G-8 auszuschließen.

F: Sind Südossetien und Abchasien nicht auch Fälle von Separatismus? Wie das Kosovo? Ist eure Strategie konsistent?

L: So inkonsistent wie die Welt. Aber zum ossetischen und abchasischen Separatismus: Das ist manifester Separatismus. Nicht in statu nascendi. Da gilt die normative Kraft des Faktischen. Man müsste gewaltsam die Uhr zurück drehen, um diesen Separatismus ungeschehen zu machen.

F: Eskaliert das?

L: Nö. Russland zeigt jetzt, wo der Hammer hängt, vielleicht spielt es auch noch ein bisschen auf der Krim herum - und gut ist. Die bloße Tatsache allerdings, dass Amerika sich so heftig mit den Russen anlegt, beweist, dass ein Präventivschlag gegen den Iran unwahrscheinlicher geworden ist. Wäre es umgekehrt, hätten die USA Russland schonender behandelt, weil sie Russland im Sicherheitsrat gebraucht hätten und eventuell als Vermittler.

F: Dein Wort in Gottes Ohr.

L: Da muss es rein.

F: Danke für das Gespräch, magister consilii.