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Akte Hunnenschlacht

Aus den Res gestae contra Attilam:

Der Turm war hoch. Der König lebte noch. Ich schaute weit ins Land über die Zeltgassen des Hunnenlagers, das sich vom Fluß bis an die Waldsäume hinzog. Eine Bootsbrücke, gleich der, die Attilas Sklaven über den Rhein geschlagen hatten, verband die Armee mit ihren Herden am anderen Loireufer. Über Meilen verstreut graste das Vieh in Unterherden, damit es seine Weide nicht kahlfraß, zertrampelte und brauner Schlamm die Halbnomaden zwang, vorzeitig abzurücken.
Attilas Ring um Orleans schloss lückenlos, nirgends ein Durchschlupf. Zur Versorgung mußten unsere Vorräte genügen - zur Abwehr die schwache militärische Besatzung und jene Bürger, die lieber auf den Mauern Leib und Leben wagten, als sich kampflos von den Hunnen abschlachten zu lassen.
Bei Tag und Nacht klopften Hämmer und Äxte im Wald, wo germanische Sklaven Belagerungsmaschinen für den König zimmerten. Der Sturm konnte nun stündlich losbrechen. Zwar hoffen wir noch auf die Ankunft des Entsatzheers unter Aetius, jedoch die Furcht in Orleans fraß sich mit jeder Stunde tiefer in die Herzen.

Es waren Tage meiner Schande, wäre doch die Furcht müßig gewesen, und Orleans hätte in Frieden gelebt, wenn nur mein Anschlag auf den König drei Jahre zuvor geglückt wäre. Damals hatte ich mit einer weströmischen Gesandtschaft Attilas Lager in Pannonien besucht. Der Hunne forderte vom Westreich die Auslieferung eines gewissen Silvanus, dessen einziges Verbrechen es war, daß er das Kirchensilber einer von Attila geplünderten Stadt geborgen und verpfändet hatte. Für Attila ein todeswürdiges Verbrechen. Aber so jämmerlich der weströmische Hof in Ravenna sonst vor dem Barbaren kuschte - bei der Causa Silvanus blieb der Kaiser hart. Allerdings schickte er zur Beschwichtigung den Grafen Romulus, Militärtribun Romanus, der Ravenna eine aktuelle Einschätzung der hunnischen Kräfte liefern sollte und Promotus, den Gouverneur von Noricum, als dessen Sekretär ich mitreiste. Niemand in der Gesandtschaft ahnte, daß ich legat der Gründer war.

Ich heiße Totila. Mein Volk sind die Ostgoten. Wir waren längst den Hunnen untertan, als mein Vater eines Tages in die Jagd Attilas geriet. Ein wilder Eber fiel den König an, ausgerechnet, als dessen Bogen brach. Attila rettete sich auf einen dürren Baum, während mein Vater dem Eber auf den Rücken sprang und ihm ein Messer in die Nackenwirbel stieß. So sah das heranpreschende Gefolge die Szene: den Eber tot, meinen Vater, wie er das blutige Messer in den Borsten abwischte, und Attila, der sich am Baum festklammerte. Die Würde des Königs war besudelt. Mein Vater wurde gekreuzigt. Meine Mutter wurde gekreuzigt. Meine vierjährige Schwester wurde gekreuzigt. Die Hunnen sind die Pest der Welt. Nur ich entging ihrem Massaker, weil unser Sippenältester mich mit dem nächsten Handelszug davonschickte. Seitdem habe ich eine Rechnung offen.

Bald nach uns erreichte eine byzantinische Gesandtschaft das Dorf, wo Attila hofhielt. Die Byzantiner feilschten um die Auslieferung hunnischer Deserteure und wurden gleich in der ersten Audienz als schamloses Vieh tituliert. Ihr Botschafter Maximin und sein Gehilfe Priscus nahmen das klaglos hin, denn insgeheim verfolgten sie Nebenabsichten: Sie wollten Onegisius, Attilas engsten Vertrauten, als ständigen Gesandten nach Byzanz locken.
Attilas Haus, wo Römer nur Zutritt erhielten, um sich demütigen zu lassen oder den Saufgelagen der Hunnen beizuwohnen, war hier gediegener als in den Nachbardörfern. Polierte Schindeln schmückten das Hauptgebäude, manche davon sogar mit Schnitzerei verziert. Der Königshof stand auf einer Anhöhe und war befestigt, allerdings wohl nicht, weil der König ernsthaft um seine Sicherheit besorgt gewesen wäre, sondern mehr aus Prestigegründen.
Niemand wagte, auch nur die Augen zu ihm zu erheben. Niemand traf Entscheidungen. Alles lauerte auf den geringsten seiner Winke. Die Hunnen, Bestien in Kampf und Plünderung, waren bei Hofe Schoßhündchen. Dennoch war hier der Königshof umzäunt und durch drei Ecktürme gesichert. Niemand kam ungesehen hinein oder heraus.
In Sichtweite des Königshofes lebte Onegesius. Sein Haus war kleiner als der Königshof und hatte weder Zaun noch Wall noch Wehrturm. Dafür trumpfte es mit einem römischen Bad auf, das Gefolgsleute von Onegesius abgebrochen und Stein für Stein - Caldarium, Tepidarium, Frigidarium und sämtliche Massageräume - im Dorf neu aufgebaut hatten, unter der Leitung eines griechischen Architekten. Der Ärmste hatte sich eingebildet, für seinen guten Dienst freigelassen zu werden, jedoch die Dankbarkeit der Hunnen war zu engherzig für eine solche Geste. Des Architekten Belohnung bestand darin, daß er fortan den Rücken des Onegesius schabte. Die Hunnen machten ihn zum Bademeister.

Unser legat an dem Barbarenhof war Zerkon, der schwarze Zwerg, den Aetius einst dem König geschenkt hatte. Zerkon war der Hofnarr, ein verwachsenes Männlein, verachtet und schallend belacht, wie es dem Hofnarren zukam. Er war berühmt für sein Kauderwelsch aus Hunnisch, Griechisch und Latein, vermischt mit allerlei germanischen Brocken - womit er für nicht enden wollendes Gelächter sorgte. Nur Attila fand ihn nicht lustig. Der König spürte wohl, daß Zerkon mehr war, als er schien. Er duldete ihn nur bei Hofe, weil der Narr seinen trostlosen Saufgelagen zu ein wenig Fröhlichkeit verhalf. Nebenbei besorgte der kleine, schwarze Mann, der im Lauf der Jahre mein bester Freund werden sollte, im Kleid des Hofnarren den Dienst des Gründerlegaten.
Bei meiner Ankunft kannte ich Zerkon noch nicht und es erwies sich als äußerst schwierig, seine Bekanntschaft zu machen. Da er zum Gesinde zählte, verließ er die Einfriedung nur auf Reisen, wenn Attila ihn mitnahm. Natürlich konnte Zerkon Post weder empfangen noch gar verschicken. Erst recht durfte er sich nicht im Gespräch mit fremden Gesandten erwischen lassen. Seine Bewegungsfreiheit war so knapp bemessen, daß er nicht einmal meinen Namen erfuhr. Aber natürlich hatte er die Ankunft zweier römischer Gesandtschaften bemerkt und vorsorglich den Weg geebnet für eine mögliche Kontaktaufnahme. Vom späten Vormittag - sein kleiner Körper brauchte lange, um die Räusche auszuschlafen, die ihm der zwangsweise eingeflößte Wein verursachte - bis in die frühen Abendstunden wanderte er unermüdlich innen am Lattenzaun entlang. Der Gouverneur von Noricum, mein Herr Promotus, klagte schon, ich vernachlässige meinen Dienst als Sekretär, so oft saß ich auf dem Steinblock draußen, um zu beobachten, wie Zerkon seine Runden drehte. Er mußte mich gesehen haben. Trotzdem ließ er sich drei Tage lang nichts anmerken - bis er am vierten Tag begann, immer wieder am selben Spalt im Zaun haltzumachen. Er blickte kurz zu mir hinüber, wippte auf den Zehenspitzen, ließ sich von den Posten verhöhnen und setzte dann scheinbar gleichmütig seinen Weg fort.
Abends, drinnen grölte und soff bereits alles, schlenderte ich zum Zaun. Man konnte dort ohne Schwierigkeiten kleine Gegenstände durch den Spalt stecken. Ich warf eine Münze hinein, in die ich, um mich auszuweisen, den Pfeil der Gründer geritzt hatte. Am nächsten Morgen schob Zerkon sie mit der Fußspitze unauffällig zurück. Abends schob ich ein Wachstäfelchen hindurch, auf dem in Griechisch stand: Attilas Tod?
Zerkons Antwort, mit dunkler Substanz gestochen scharf auf einem hellen Lederfetzen, lautete:
„Wenn er unterwegs ist, kommst Du nicht an ihn heran. Zu viele Wachen! Er selber ist als Reiter und Kämpfer jedermann überlegen. Auch in der Schlacht kommst Du ihm nicht nahe. Zum Königshof hast Du als Sekretär keinen Zutritt. Es ist unmöglich, ihn zu vergiften, er läßt alles vorkosten. Ich bin zu klein, um ihn anzugreifen. Vielleicht könnte eine Frau ihn nachts erledigen, wenn er sinnlos betrunken ist. Oder man könnte versuchen, sich aus dem Dachstuhl des Bades auf ihn zu stürzen. Allerdings werden die Leibwächter in jedem Falle Dich töten, egal ob Du den König tötest. Morgen früh badet Attila bei Onegisius.“
Er schrieb ein wunderbar reines Latein, dieser Zwerg Zerkon, der die Hunnen mit seinem grotesken Kauderwelsch foppte. Später stellte ich fest, daß er genauso sprach, wenn er nur wollte.
Bei Anbruch der Nacht schlich ich zum Bad und überzeugte mich zunächst davon, daß nirgends Wachen standen. Die Lüftungsschächte waren zu eng für meine Schultern. Also kletterte ich aufs Dach, wo ich gerade genug Ziegel abhob, um einzusteigen. Von drinnen flickte ich die Stelle dann, so gut es eben ging.
Der Dachstuhl war nach unten offen. Es gab keine Innendecke - sonst aber alles, was die kleine Therme brauchte: Schwitzraum trocken und feucht, Warm- und Kaltwasserbecken und auch den Vorraum, wo geschabt und gesalbt wurde. Weil im Feuerungsgang der Bademeister und die Heizersklaven schliefen, blieb ich im wuchtigen Gebälk hocken. Ich suchte mir den breitesten Querbalken über dem Schaberaum und verbrachte dort, wie ich glaubte, die letzte Nacht meines Lebens - unbequem, gut versteckt und in Erwartung des Königs.

Die Sonne ging auf. Wenig später lag Attila auf der Massagebank, genau unter mir, auf dem Rücken. Er war ein kleiner Mann mit kalten Knopfaugen, die blind ins dunkle Gebälk emporstarrten. Er hatte die übliche, gebrochene, platte Hunnennase, spärlichen Bartwuchs auf den zernarbten Wangen und reichlich Grau im Haar. Der Bademeister schabte dem König Brust und Schultern, während ringsumher zwanzig Leibwächter ihre verkommenen Seelen durch die Wolfspelze schwitzten.
Neben dem königlichen Brustkorb war die Marmorbank breit genug, um meinen Füßen festen Stand zu bieten. War ich aus dem Sprung gelandet - konnte ich sicher stechen. Mit angehaltenem Atem winkelte ich die Knie ... kam auf die Fußspitzen ... mit den Fingerspitzen balancierte ich mich an den Dachsparren aus ... bereit zum Sprung ... Attilas unter den Rippen pochendes Herz fest im Blick ... atmete noch ein letztesmal tief durch ... da stieß der König seinen Bademeister ruppig fort, sprang auf und sagte: „Keine Zeit. Heute nur eine Handvoll Wasser!“

Drei Jahre später stand ich auf dem höchsten Turm von Orleans und suchte am Horizont nach einem schwarzen Zwerg, entdeckte aber nur noch immer mehr Belagerungsgerät, das fertig aus den Wäldern rollte. Gepidische und ostgotische Stoßtrupps eskortierten Rammen vor die Tore. Die Hunnen selber waren viel zu blöd für diese komplizierte Technik. Aberwitzige Gerüchte machten die Runde. Es hieß, syrische Ingenieurinnen hätten sie instruiert. Die Dächer der Maschinen waren mit nassem Leder bespannt, unmöglich, sie in Brand zu schießen. Hinter den Toren des äußeren Mauerrings hatten wir provisorische Brustwehren aus Gerümpel errichtet, um die Angreifer wenigsten am glatten Durchmarsch zu hindern. Für die Verteidigung der Außenwälle waren wir zu schwach. Es ging nur um den Zeitgewinn, ums Aushalten, bis vielleicht Aetius‘ Entsatzheer anrückte. Inzwischen lockerten die Torangeln sich mehr und mehr - mit jedem Stoß der Rammen.
Erst barst das Südtor. Die Angeln rissen aus dem Mauerwerk, Ziegelstaub spritzte, zitternd standen die Torflügel einige Atemzüge unverankert, bis der nächste Stoß gegen das Holz donnerte, das Tor unendlich langsam nach innen kippte und auf unser Gerümpel stürzte. Diese schräge, scheinbar so bequeme Rampe lockte die Hunnen zum Angriff. Nachdem sie unsere Stellung mit einem Pfeilhagel eingedeckt hatten, stießen sie vor, gut eine Hundertschaft ... allerdings waren wir gewappnet ... plötzlich ein Fauchen in der Luft, als griffen Drachen an ... oben wurden die Kessel mit siedendem Öl ausgeleert, das Öl spritzte über Stein, auf Stahl, auf Holz und Menschenleib und auf die gut plazierten Kohlebecken ... glühende Holzkohle entfachte siedendheißes Öl. Durch dieses Tor kam kein Hunne lebendig in die Stadt. Doch wenig später brach das Nordtor und sie drangen in die Vorstädte von Orleans, während wir uns im Schutz des inneren Mauerrings bargen und verzweifelt auf Aetius hofften.

Westroms Heermeister und der Hunnenkönig teilten in ihrer Jugend ähnliche Schicksale: Attila lebte seit 410 als Geisel am weströmischen Kaiserhof in Ravenna - Aetius ab 408 als Geisel beim damaligen Hunnenkönig Rugila. Der Hunne, der nun wahrlich nicht aus großem Luxus stammte, wenn man überhaupt Vieh und barbarisch angehäuften Protz Luxus nennen mag - der Hunne kehrte voller Verachtung für die römische Lebensart heim. Aetius hingegen paßte sich den hunnischen Bräuchen so geschmeidig an, daß er mit König Rugila, später mit dessen Neffen Attila und Bleda, ins Geschäft kam und auf Jahre hinaus am hunnischen Hof großes Ansehen genoß.
Die Hunnen waren ihm so zugetan, daß Aetius 425 den Versuch wagte, mit ein paar ihrer Zehntausendschaften den Usurpator Johannes zum Kaiser zu machen. Der Plan mißlang. Dennoch wurde Aetius amnestiert und sogar zum Heermeister befördert, wofür er als Gegenleistung nur seine Hunnenarmee unter der Fuchtel halten mußte. Acht Jahre später halfen die Barbaren ihm, das aufstrebende Burgunderreich grausam zu zerschlagen. Die Reste der Burgunder wurden aus der Gegend von Mainz und Worms vertrieben und zwangsumgesiedelt. Und immer steiler hinauf führte Aetius‘ Karriere. Schließlich übte er eine Art informeller Vormundschaft über die weströmischen Kaiser aus, wobei seine Macht sich immer noch auf alte hunnische Beziehungen stützte, die er in den Tagen seiner Geiselhaft geknüpft hatte. Außerdem war das Glück auf seiner Seite, denn Attila führte unentwegt Krieg gegen Ostrom, was dem Westen Ruhe verschaffte - eine Atempause, die man besser hätte nutzen sollen.

Wenn Attila etwas besitzen wollte, nahm er es sich, ohne nach Vorwänden zu suchen. Warum er diesmal eine Ausnahme machte und das dürftige Mäntelchen des Rechts um den neuen Kriegszug legte, mag der Orkus wissen. Als Vorwand wählte er Honoria. Diese blutjunge Prinzessin Westroms hatte eine übertriebene Vorliebe für ihren Kammerherrn gehegt. Als ihr Bauch dick wurde, schob Ravenna sie nach Byzanz ab, um den Skandal zu vertuschen - eine dumme Idee, denn der Skandal war ohnehin längst in aller Munde und in Byzanz vervollkommnete Honoria ihr intrigantes Talent. Irgendwann zog sie ihren Ring vom Finger und schickte ihn Attila mit einem zuckersüßen Brief. Honoria liebe ihn leidenschaftlich, hieß es dort. Sie beschwöre Attila, sie als rechtmäßige Ehefrau zu beanspruchen - man könne ja behaupten, sie hätten sich insgeheim längst trauen lassen.
Attila führte ungerührt seinem Harem etliche neue Frauen zu, ohne sich im geringsten um Honorias Angebot zu kümmern. Erst als sein einträgliches Geschäft mit Aetius stockte, besann er sich auf die inzwischen nicht mehr junge Frau in byzantinischer Verbannung. Schon seine Vorfahren hatten chinesische Kaiser mit den angeblichen Eheversprechen von Prinzessinnen erpreßt - was die Gründer, dank nach wie vor enger Zusammenarbeit mit dem Orakelrat natürlich wußten. Trotzdem hätte der ravennatische Kaiserhof beinahe eingelenkt. Man war dort verkommen genug, Attila glauben zu wollen. Zwar forderte der Hunne eine wahnwitzige Mitgift für Honoria, doch in Ravenna waren Dummheit und Feigheit so mächtig, daß man lieber auf eine absurde Zukunft setzte, als sich der gefährlichen Gegenwart zu stellen. Die Gründer hatten ein hartes Stück Arbeit zu leisten. Wir mußten bestechen, drohen, sogar töten. Und auch dann lehnte Ravenna nur mit viel Weh und Ach die Forderung der Hunnen ab. Honoria wurde von Byzanz nach Italien zurückgeschickt, rasch verheiratet, und in eine Klosterzelle gemauert. Zu Attila schickte der Kaiserhof eine Gesandtschaft mit der Antwort, im weströmischen Reich gelte keine weibliche Thronfolge. Attilas Hinweis auf das Beispiel von Placidia und Pulcheria sei irreführend. Anders als Vorgenannte sei ja Prinzessin Honoria bereits rechtmäßig getraut in unauflöslicher Ehe. Attila könne sie also niemals heiraten. Insofern sei auch die hunnische Forderung, Gallien als Mitgift zu erhalten, völlig gegenstandslos und entbehre jeder Rechtsgrundlage. So weit hatte man sich in Ravenna verstiegen - anstatt gegen Attila zu kämpfen, debattierte man mit dieser Geißel des Erdkreises über Rechtsfragen.
Attila beharrte frech auf Gallien und Italien als Mitgift für Honoria. Natürlich wußte er, daß diese Maximalforderung nur gewaltsam durchzusetzen war. Also versuchte er zunächst, durch Verhandlungen herauszuschinden, was er kriegen konnte. Sangiban, König der Alanen, hatte ihm versprochen, sein Volk aus der römischen Heerfolge zu lösen und den Hunnen Orleans zu überlassen - ein Plan, dem Attila von Anfang an mißtraute. Er wußte, was ein schwacher Mann war. Mit schwachen Männern machte er ungern Geschäfte. Zudem flog Sangibans Verrat bald auf. Und nun begann Attila, die Höfe von Ravenna und Toulouse mit diplomatischen Missionen zu traktieren. Was er so ‚diplomatisch‘ nannte!
Sein Angebot an Ravenna: Der Kaiser möge Gallien und das Westgotenreich auf gallischem Boden opfern. Dann könne man über Italien reden. Den Westgoten in Toulouse versprach er Schonung, vorausgesetzt sie schlossen keine Allianz mit Rom.
In Gallien war das territoriale Durcheinander fast schon undurchschaubar. Die Westgoten siedelten in ihrem kleinen Königreich um die Hauptstadt Toulouse. Auch manche Frankenstämme siedelten in Gallien - mal mit, mal ohne Zustimmung des Kaisers. Ganz Gallien war ein Flickenteppich verschiedenster offizieller, halb offizieller und rein faktischer Herrschaften sogenannter Föderaten, die alle miteinander und mit Rom im prekären Scheinfrieden lebten und selbst jetzt, unter der Drohung des Hunnen, eher scheel auf den Nachbarn blickten, als gemeinsam die gemeinsame Gefahr zu bekämpfen.

Aetius umging die Alpen mit einer dürftigen Truppe, die kaum den Namen Armee verdiente. Noch in Ligurien erreichte ihn die Hiobsbotschaft, daß die Westgoten den hunnischen Angriff innerhalb ihres eigenen Territoriums abwarteten. Damit ruhte Aetius‘ letzte Hoffnung auf der Überzeugungskraft des Senators Avitus. Avitus, der einmal erfolgreich die Prätorianerpräfektur bekleidet hatte und jetzt den Lebensabend auf seinen Gütern in der Auvergne verbrachte, genoß am Westgotenhof hohes Ansehen. Eindringlich legte er den Westgoten dar, welchen Terror bereits ihre Vorfahren von den Hunnen erduldet hätten, wie sie bis zum Fuß der Pyrenäen hätten fliehen müssen, wie die Hunnen Kirchen schändeten, in denen die Westgoten beteten und Weinberge versalzen würden, auf denen der Mundschenk König Theoderichs einkaufte. Diesem Feind des Menschengeschlechts, so Avitus, sei nur durch die gemeinsame Anstrengung aller Bedrohten Einhalt zu gebieten. So kam das Heer zustande, das, unter peinlich schwacher römischer Beteiligung, dem Feind entgegentrat.

Mit Hohngeschrei auf die Verteidiger, angefeuert von ihrer infernalischen Kriegsmusik, sprengten die Hunnen durch das Nordtor. Rasch waren die Vorstädte überfüllt, und die feindlichen Horden kamen sich gegenseitig in die Quere. Hunnische Einheiten prallten in engen Gassen aufeinander, und da es den vorderen Linien unmöglich war, ihre Pferde zu zügeln, weil ja von hinten andere mit unverminderter Wucht nachdrängten, mögen ein paar tausend Mann so zu Tode getrampelt worden sein - diesmal bejohlt von uns, die wir uns auf den Mauern an dem Schauspiel ergötzten. Es dauerte Stunden, bis Attilas Horden sich nicht mehr gegenseitig umbrachten. Bis es so weit war, mußte der König zwei Zehntausendschaftsführer von ihren eigenen Pferden zu Tode schleifen lassen.
Schließlich begriffen die Hitzköpfe aus der Steppe, daß man in den verwinkelten Gassen von Orleans besser zufuß ging. Und nun begann die systematische Plünderung. Furchtbare Szenen spielten sich ab. Wie stets, wenn eine Stadt evakuiert wird, hatte es auch in Orleans Verstockte gegeben, die ihren Besitz nicht verlassen wollten. Ein paar Verbrecher wollten mit den neuen Herren gemeinsame Sache machen. Ein paar Blödsinnige waren uns irgendwie entschlüpft. Und ein paar gebrechliche Alte, denen ihre Ruhe wichtiger war als jene zweifelhafte Sicherheit, die wir zu bieten hatten, waren einfach sitzen geblieben. Sie alle wurden nun aufgestöbert.
Als es keine menschlichen Opfer mehr gab, an denen die Hunnen ihr Mütchen kühlen konnten, wandten sie sich den Dingen zu. Kein Weinstock blieb im Boden. Kein Obstbaum ungefällt. Jeden Brunnen vergifteten sie sorgfältig mit Pferdekot und zerstückelten Leichen. Kein Ölgefäß blieb ganz. Kein Mühlstein, den sie nicht in die Gosse rollten. Die bleiernen Verteiler der Wasserleitung hauten sie platt. Haus um Haus wurde verwüstet. Sie wurden ihrem Ruf gerecht - sie waren Meister sinnloser Zerstörung.
Einen Tag und eine Nacht brannten die Vorstädte. Dann hub die Belagerung des inneren Rings an, dessen Wälle und Tortürme die Barbaren vor ein ernstes Hindernis stellte. Anfangs versuchten sie es wieder mit den Rammen und kleinen Geschützen, doch dazu bot das Terrain - die qualmenden Ruinen der Vorstadt - denkbar ungünstige Voraussetzung. Mag sein, die Hunnen kamen zur Vernunft. Mag auch sein, sie hatten inzwischen all jene Sklaven tot geprügelt, die rechnen und Belagerungsmaschinen bauen konnten. Jedenfalls fand Attila nach ein paar Tagen heraus, wie primitive Technik seinen größten Vorteil ins Spiel brachte: die schier unerschöpfliche Zahl seiner Krieger. Die Hunnen bauten Leitern. Hunderte Leitern. Jede mit fünfzig Mann Besatzung. An den oberen Leitersprossen - doch auch wiederum zu tief, um sie von der Mauerkrone aus zu kappen - verknoteten sie Seile. Am Fuß der Mauer standen im toten Winkel Männer, um die Seile stramm zu ziehen. Das machte es sehr schwierig, die angelehnten Sturmleitern zu kippen. Einige Angreifer erwischten wir mit Steinen, mit kochendem Wasser oder siedendem Öl. Aber wenn wir uns hierzu aus der Deckung wagten, kostete das Opfer, denn tausende Hunnen deckten die Zinnen des bestürmten Mauerabschnitts unermüdlich mit ihrem Pfeilhagel ein. Nur ganz selten stürzten wir eine Leiter um. So blieb uns keine andere Wahl, als den Angreifern auf der Mauerkrone entgegen zu treten. Doch für jeden, den wir oben erledigten, sprangen unten hundert neue auf die Sprossen, während unsere Kräfte schwanden.
In dieser Not erwies sich Bischof Anianus als wertvolle Stütze. Furchtlos wandelte er über die Mauern und segnete die Verteidiger, versicherte sie des göttlichen Beistands, stieg auf den höchsten Turm, um einem Ausguck Trost zu spenden, betete mit den Kampfunfähigen, um jeden Anflug von Panik im
Keim zu ersticken. Ich gestand ihm, daß mir mehr daran lag, Attila zu töten, als die Stadt Orleans zu retten. Er überlegte kurz. Dann sprach er:
„Höre, mein Sohn! Wenn der Teufel eindringt, dann werfe ich mich vor ihm nieder und flehe um Gnade für die eroberte Stadt. Steig dann von deinem Turm herab. Komm in mein Haus. Wir werden dich als Kleriker verkleiden. Du folgst mir. Hat der Teufel ein Einsehen und übt Gnade - dann hältst du dich zurück. Bleibt er aber hartnäckig, so liegst Du ja zu seinen Füßen. Stich dann von unten zu, so daß er sein dreckiges Leben auf dem Pflaster der Stadt Orleans aushaucht.“
In unseren schlimmen Zeiten sind Priester oft nützlicher als die korrupte römische Beamtenschaft.

Der Turm war hoch. Weit schaute ich ins Land. Der König lebte noch. Auf der Steintreppe verhallten die Schritte des Bischofs. Fiel Orleans, dann lag ich bald neben Anianus im Staub zu Attilas Füßen - mit meinem Dolch. Attila mußte sterben! War erst der König tot, würden die Hunnen ausschwärmen wie Fliegen, denen der Mist abhanden kommt. Und die Verbündeten der Hunnen kehrten heim in ihre Länder. Mein Volk würde frei.
Der Turm war hoch. Ich schaute weit ins Land und sah die Staubwolke. Nachschub für Attila? Heu für sein Vieh? Pfeile für seine Schützen? Ich faßte mich unendlich lange in Geduld, bevor ich Bischof Anianus einen Boten nachsandte. Ich wartete, bis ich funkelnde Legionsadler entdeckte und westgotische Banner im Wind.

Noch war das Entsatzheer kaum mehr als eine Staubwolke am Horizont - eine von den Hunnen unbemerkte Staubwolke! Ich stürzte mich unten ins Kampfgetümmel und rief den Verteidigern zu, sie sollten mir folgen - zu einem Ausfall. Aber die Römer folgten dem Ostgoten nicht. Ich hatte von meinem Turm das Heer des Aetius gesehen - die Männer auf der Mauer noch nicht. Ich hatte diese einzigartige Gelegenheit erkannt. In den Vorstadtruinen ließ sich der Trumpf der Hunnen, Zahl und Geschwindigkeit, schlecht ausspielen. Entdeckten sie jedoch Aetius, würden sie sich nach einem taktischen Rückzug in der Ebene bald neu zur Schlacht formieren.
„Aetius kommt“, schrie ich. Lenkt sie ab! Bindet die hunnischen Kräfte an den Ausfallpforten!“
Plötzlich war Bischof Anianus neben mir und verlieh meinen Worten Gewicht. Tatsächlich folgte mir nun ein Trupp zur Ausfallpforte beim Westtor. Wir stürzten uns auf jene Hunnen, die dort mit ihren Stricken drei Sturmleitern festzurrten. Achtzehn von ihnen erschlugen wir, und bevor uns die Bogenschützen als neues Ziel ausmachten, zerrten wir schon an der ersten Leiter, zerrten, bis die Leiterspitze seitwärts über die Mauer schrammte, immer schräger, Übergewicht bekam, weiter rutschte, die nächste Leiter mitriß in die dritte - so daß auf einen Schlag zweihundert Hunnen tot oder schwer verletzt am Westtor lagen.
Das Wutgeheul war unbeschreiblich und übertönte die Rückzugssignale, die draußen bliesen.
Attilas Späher hatten versagt - Aetius traf ihn unvorbereitet. In der Vorstadt konnte Attila die Schlacht nicht annehmen. Eilends trieb man verstreute Viehherden zusammen. Das ganze Hunnenlager spannte Wagen an. Marschsäulen formierten sich und rückten ab - ohne genaue Richtung. Attila beorderte die Angreifer aus den Vorstädten zurück, doch mittlerweile hatte der Generalsturm eingesetzt, dem wir mit knapper Not standhielten. Nicht viel hätte gefehlt - und die Hunnen wären in letzter Minute über uns gekommen, aber dann waren die Verbündeten plötzlich in ihrem Rücken. Gepanzerte griffen an, gegen deren Nachdruck die leicht bewaffneten Hunnen keinen Widerstand aufbauen konnten. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit half in den Ruinen nichts. Im Straßenkampf war der Bogen eine nutzlose Waffe. Attila hatte sie im Stich gelassen. Es brach über die Hunnen in den Vorstädten von Orleans ein Massaker herein, wie sie es bislang stets nur zugefügt, nie aber selbst erlitten hatten.

Drei Stunden später donnerten auf den Mauern Schwerter an die Schilde, wieder und immer wieder, während Aetius den Decumanus entlangritt, begleitet von Bischof Anianus, vom Kommandanten der Stadt, und von Theoderich, dem König der Westgoten. Prinz Thorismund befehligte draußen die Jagd auf versprengte Hunnen.
Als Aetius‘ auf das Forum ritt, stand ich alleine auf dem weiten Platz - ein Einzelner statt der erwarteten Abordnungen der Bürgerschaft. Die Kavalkade des Feldherrn zügelte die Rösser. Der Bischof winkte mich heran und ich näherte mich der Gruppe - in meiner Hand den Pfeil.
„Kennst Du dieses Symbol, Patricius?“ Aetius nickte, ungeachtet der verblüfften Blicke des Westgotenkönigs. „Ich fordere Hilfe“, sagte ich. „Ich brauche Männer für einen besonderen Einsatz!“

Attila floh ins fette Reiterland, das seine Kundschafter nordöstlich meldeten - in die Champagne. Gepidische Einheiten deckten den Rückzug. Sie führten richtungslose hunnische Marschsäulen zusammen, bargen Vieh und trieben es dem Hauptheer nach, wobei sie selber unentwegt von den Franken bedrängt wurden, die Theoderich ihnen nachgesandt hatte. Schon beim Aufmarsch der Verbündeten hatten Franken die Vorhut gebildet. Nun rissen sie gleich Bluthunden an den Fersen der Gepiden, rissen Meile für Meile Attilas Vasallen, insgesamt 15.000 Mann. Schließlich kehrten die Franken mit der Nachricht um, Attila baue auf den Katalaunischen Feldern seine Wagenburg.

Aus den Reformationes des Zerkon Syenus:

Wie gut es tat, ihn so zu sehen! Ihn, der mich unzählige Male verhöhnt und getreten hatte! Ihn, der jetzt schwitzte vor Aufregung, während seine Sklaven am Ufer der Marne diese Wagenburg erbauten, in deren Schutz er sich verkroch. Kein Häuptling traf mehr eigene Entscheidungen. Sie alle krochen auf dem Bauch, bis ein Wink des Königs sie zu ihrem Auftrag befahl. Blieb der Wink des Königs aus oder wies er in die falsche Richtung, dann ging unvermeidlich alles schief, wie beim überstürzten Rückzug. Zwar hatte Attilas Autorität die Flucht unbeschadet überstanden, eigentlich war sie sogar gefestigt, denn in seiner rasenden Wut flößte er mehr Furcht ein als jemals zuvor - aber sein arrogantes Selbstvertrauen war erschüttert. Attila zweifelte an seiner Allmacht. Rang sich zu keinem Entschluß mehr durch. Stumpf grübelte der Hunnenkönig, wenn er nicht gerade tobte.
Schließlich befahl er die Schamanen in sein Zelt. Der alte Bleda und sein Schüler Ergula dienten seit neun Jahren bei Hofe. Sie waren nicht die übelsten Hunnen - Ergula hatte mich von meinem hartnäckigen Fieber geheilt - aber Hunne bleibt natürlich Hunne. Es war der Tag, an dem die Kundschafter meldeten, Aetius‘
Hauptheer rücke an. Attila, um den Teufelskreis des Grübelns zu durchbrechen, stellte dem Orakel die klare Frage: Was geschieht, wenn ich mich meinem Geiselbruder Aetius zur Schlacht stelle?
Nach ein bißchen Protestgemurmel fanden die Schamanen sich bereit, ihr Orakel im Königszelt zu werfen, auf kostbaren Teppichen, zwischen den Speiseresten des letzten Gelages. Sie wurden bleich, während sie mit ihren Tierknöchelchen klapperten. Zitternd schlichen sie zum Thron und flüsterten Attila ihre Weissagung ins Ohr.
Auch der König erbleichte nun. Das Orakel wurde nicht verkündet. Leise befahl Attila, die Prophezeiung durch Eingeweideschau an einem Opfertier zu überprüfen. Bleda wagte zwar den Einwand, es sei Frevel, dieselbe Orakelfrage zweimal zu stellen, doch Attilas Hand fuhr ans Schwert, und die Schamanen machten sich davon. Wenig später blökte vor dem Zelt das Opferlamm. Im Kriegsrat herrschte verlegenes Schweigen, bis Bleda und sein Schüler erneut vor den bärenfellbedeckten Thron schlurften. Wieder flüsterte Bleda dem König das Orakel ins Ohr.
„So hatte ich das nicht befohlen!“ knurrte Attila.
Bleda sank auf die Knie. Wortlos zog Attila sein Schwert und schlug ihm den Kopf ab. Der Kriegsrat schwieg auch hierzu. Ergula warf sich zu Füßen des Königs platt auf den Bauch. Attila setzte ihm die blutige Schwertspitze in den Nacken, zischte einen Befehl und damit begann der entsetzliche, nie zuvor dagewesene Frevel.
Während Ergula, begleitet von zwei Leibwächtern des Königs, das Zelt kurz verließ, rollten wir in der Mitte die Teppiche auf. Als Ergula zurückkam, zerrten die Leibwächter einen völlig entkräfteten römischen Kriegsgefangenen hinter sich her. Er wehrte sich nicht einmal, als sie ihn mit gespreizten Gliedern auf den nackten Boden pflockten.
„Beschaue seine Därme“, ordnete der König an. Ergula setzte dem Mann die Klinge an den Hals, um ihn zu töten, bevor er ihn aufschlitzte. „Nein“, befahl Attila. „Bei lebendigem Leib!“
Also schnitt Ergula bei lebendigem Leib in die Bauchdecke des Römers. Die Schreie des Mannes setzten erstaunlich spät ein, eigentlich erst, als Ergula mit seinem Knochenlöffel im dampfend schillernden Gedärm stocherte, auf Suche nach einem Muster. Nicht einmal ein Schlag auf den Kopf zur Betäubung wurde gestattet. So war Ergula gezwungen, den Darm aus der Bauchhöhle zu heben und die Leber freizulegen - während die Laute des Gequälten vom tonlosen Röcheln in den schrillen Wahnsinn kippten und wieder zurück.
Dennoch ließ das Orakel zu wünschen übrig. Attila ließ einen zweiten Gefangenen kommen, den Parlamentär, den die Stadt Orleans geschickt hatte, um Gold für seinen Abzug zu bieten. Dem Mann widerfuhr das gleiche Schicksal, nur daß es ihn insofern schlimmer traf, als er schon seinen schreienden, ausgeweideten Kameraden am Boden sah und also wußte, was ihm bevorstand. Nachdem Ergula auch ihn geöffnet und durchwühlt hatte, wußte der Schamane sich keinen anderen Rat, als auf allen Vieren erneut vor den König zu kriechen. Neben ihm lag das abgeschlagene Haupt seines Lehrers. Hinter ihm schrieen die beiden Menschenopfer. Vermutlich würde Attila ihm befehlen, die Zukunft aus dem eigenen Gedärm zu lesen. Nichtsdestoweniger blieb Ergula tapfer dabei, was zu sehen glaubte. Und diesmal fügte Attila sich dem unbeugsamen Orakel.
„Die Zeichen stehen schlecht“, eröffnete er dem Kriegsrat. „Wir siegen heute nicht. Daher beginnt die Schlacht erst am Nachmittag, damit wir uns, wenn es schlimm kommt, im Schutz der Dämmerung zurückziehen können. Nur ein Gutes weissagt unser Schamane - der Anführer des Feindes stirbt. Das Orakel verurteilt meinen Geiselbruder Aetius zum Tod. Dafür lohnt auch eine verlorene Schlacht. Tod Aetius!“ Mit diesem Ruf schloß er den Kriegsrat und entließ die Häuptlinge zu ihren Truppen.

Ich war zum Troß befohlen, weil Attila, der sonst nicht viel über mich lachte, Gefallen daran fand, wie meine kurzen Gliedmaße sich mit den Teppichen des Königszeltes abmühten. Sage mir, worüber du lachst - und ich sage dir, wer du bist. Leider war ich nicht allein. Noch ein paar andere Sklaven fingen nun an, die goldenen und silbernen Trinkgefäße der Häuptlinge abzuräumen, Essensreste hastig hinunter zu schlingen und Tische zu polieren. Attilas Leibsklave nahm den königlichen Holzbecher an sich. Wir alle taten so, als könne man die Schreie der zwei aufgeschlitzten Männer überhören. Der König hatte befohlen, sie nicht anzurühren, weshalb niemand wagte, ihre Qualen zu beenden - bis ich ganz sicher war, allein zu sein mit ihnen. Anschließend schlich ich aus dem Zelt.

Aus den Res gestae contra Attilam:

Die Wagenburg der Hunnen war noch größer als gewöhnlich. Das Vieh mußte saufen und der Mensch trinken - so hatten sie die Marne gleich in die Festung einbezogen, dergestalt, daß der Fluß eine Bogensehne bildete, die beide Enden des Wagenhalbrunds verband. Die Flußfront blieb unbefestigt, da die Marne hier zwar seicht floß, doch in gefährlichen Strudeln, die Mann wie Pferd im Nu von den Beinen rissen. Kurzum, Aetius und Attila behandelten den Fluß in ihren Schlachtplänen als unpassierbar. Wie auch immer der Kampf ausging - er entschied sich diesseits der Marne. Der Fluß, der Sumpf, die Wagenburg, nördlich davon ein Hügel - so war unser Terrain beschaffen.
Den linken Flügel des hunnischen Heers bildeten Ostgoten unter Valamir, Theodemir und Videmir. Im Zentrum kommandierte Attila die Hunnen, während der rechte Flügel von überlebenden Gepiden und sonstigen germanischen Vasallen gestellt wurde. Hier kommandierte der Gepidenkönig Adarich.
Bei uns stand rechts die westgotische Armee unter König Theoderich. Sangibans Alanen standen im Zentrum, damit wir den unzuverlässigen Verbündeten unter Kontrolle hatten und gegebenenfalls in die Zange nehmen konnten. Der Mann, der Orleans an Attila hatte verkaufen wollen, mußte nun dem Angriff des hunnischen Zentrums standhalten. Auf dem linken Flügel führte Aetius selber das Kommando - über den Kern der römischen Legionen und die Franken.

Am späten Nachmittag befahl Attila den Sturm auf jenen Hügel, der das Terrain zwischen den Heeren beherrschte. Die Schlacht begann als Wettlauf. Hunnenreiterei preschte vor, um den Abhang des Hügels zu sichern. Doch die stürmenden Hunnen brachen sich an der gepanzerten westgotischen Kavallerie, die von Prinz Thorismund befehligt wurde.
Der Hügel war so schroff, daß nur Fußvolk ihn erobern oder halten konnte. Der Hunnenangriff hatte deshalb den Zweck verfolgt, Aetius den Weg abzuschneiden. Nachdem dies nun mißlungen war, hing alles von der Marschgeschwindigkeit der Infanterie ab. Römer und Franken besetzten die Kuppe zuerst. Sie schlugen den Gegenangriff des gepidischen Fußvolks von oben herab vernichtend zurück, während Thorismunds Reiter die Gepiden in der Flanke packten und gegen Sumpf und Marne hin abdrängten. Wer nicht erschlagen wurde, oder rechtzeitig zwischen Feind und Wasser schlüpfte, der ersoff.
Nach dieser Schlappe am Hügel sank die Kampfmoral der Barbaren auf einen Tiefpunkt, der Attilas persönliches Eingreifen erforderte. Die Hunnen waren vor Orleans geflohen, verfolgt, und ständig angegriffen worden. Wir hatten sie in ihr befestigtes Lager getrieben. Später berichtete Zerkon, daß Attilas Schamanen nicht einmal nach zwei Menschenopfern ein freundliches Orakel zustande gebracht hätten. Und nun ging der Hügel verloren! Da sein Fuchs lahmte, bestieg Attila einen Apfelschimmel und ritt die hunnische Front ab.
„Dort sucht den Sieg“, rief er und wies auf unser Zentrum, wo Sangibans Alanen standen. „Metzelt sie! Was das böse Orakel angeht - kein Pfeil trifft den, der zum Leben ausersehen ist. Seid ihr aber dem Tod geweiht, würgt euch das Schicksal mitten im tiefsten Frieden. Metzelt sie nieder!“
Vor der schier endlosen Linie struppiger Pferde erstarrte Attila zum Standbild, die Klinge auf uns gerichtet. Die Massen galoppierten los.

Mit Aetius auf dem Hügel war die Lage am Fluß stabil. Im Zentrum brachten hunnische Kerntruppen die Linien des Alanenkönigs kurz ins Wanken, doch Sangiban hielt stand. Die sarmatische Bewaffung war zu schwer für die Hunnen, die nur durch Massierung, Geschwindigkeit und Pfeilhagel siegten - nicht aber im Nahkampf gegen gepanzerte Einheiten. Ob Sangiban Attilas Rache fürchtete, weil er ihm Orleans nicht ausgeliefert hatte - oder den von Aetius angedrohten Flankenangriff - oder sei es, daß Sangiban gar nicht so sehr schwach, als vielmehr sehr durchtrieben war - er tat seine Pflicht. An unserem rechten Flügel jedoch spielte unterdessen die Tragödie meines Volkes: Ost- und Westgoten rieben sich gegenseitig auf.

Aetius hatte mir zweihundertfünfzig Mann geliehen, darunter dreißig der besten syrischen Bogner, außerdem zwanzig Schleuderer von den Balearen, die leidlich ritten, obwohl sie zu einer Abteilung Flottensoldaten gehörten, deren Schiff bei Genua gescheitert war. Bogenschützen wie Schleuderer ritten ungepanzert, ohne Schilde - ausgerüstet nur für den raschen Beschuß Attilas und kaum in der Lage, sich selber zu verteidigen. Das besorgten zweihundert Franken, die uns wie ein beweglicher Schild umgaben. Ihre Wucht sollte uns den Weg zu Attila bahnen. Dann sollte ihre Linie vorn aufreißen, uns nur noch Flanken und Rücken decken, während wir blitzschnell vorstießen, Attila erledigten und uns wieder in den Schutz der fränkischen Bedeckung verzogen. Wir hatten das Manöver bis zur Erschöpfung geübt.

Hinter den alanischen Reserven gelangten wir zum Flügel der Westgoten. Es läßt sich nicht anders sagen: sie lieferten den Ostgoten die Hauptschlacht dieses Tages. Ein schmaler Steg aus festem Boden führte quer durch ein Erlenbruch. Auf dieser Landbrücke spielten sich, seit die ostgotische Front bröckelte, schreckliche Kämpfe ab. Dies war der einzige Weg für den Vorstoß der Westgoten, vorausgesetzt sie wollten das Bruch nicht weiträumig umgehen. Anfangs war der Landsteg gerade breit genug gewesen für zehn Mann, doch mit jedem neuen Angriff wurde er breiter - durch die Körper der Gefallenen und Schwerverwundeten, die, ob man wollte oder nicht, rechts und links ins Bruch getrampelt wurden.
Die letzte Angriffswelle hatte quer über den Steg einen Wall aus toten Körpern gelegt, hinter dem die Ostgoten nun Stellung bezogen wie hinter einer Brustwehr. Der Schlamm des Bruchs war rot von Blut. Die Westgoten waren erschöpft. Sie sahen, daß der nächste Angriff auf die makaber befestigte Stellung stoßen würde. Sie konnten nicht mehr. Oder sie wollten nicht. Jedenfalls fand der alte Theoderich sich plötzlich allein vor der schmalen Front, mitten zwischen Freund und Feind.
Der König stieß sein Langschwert in den Himmel und rief: „Folgt Eurem König, Westgoten!“ - was nun auch schleunigst geschah, allerdings weniger aufgrund des Appells, sondern vielmehr, weil die ostgotischen Verteidiger ihrerseits König Theoderich angriffen. Im Nu schwangen sie sich über den Leichenwall und stürzten sich von hinten auf ihn, bevor er merkte, wie ihm geschah. Erneut riß Theoderich seinen Rappen herum, doch das gelang nicht mehr ganz. Der ostgotische Angriff traf ihn, als er dem Feind die schutzlose Flanke bot. Beide, König und Pferd, wurden umgeworfen und in die schlammige Erde gestampft, hinunter zu namenlosen Kriegern und namenlosen Pferden, und Augenblicke später tobte über ihnen die Schlacht. Was Theoderichs Appell nicht vermocht hatte, vermochte nun der heiße Zorn der Westgoten, die ihren König rächen wollten. Sie griffen an wie frische, unverbrauchte Truppen, trieben die Ostgoten zurück, überwanden die Barrikade aus Leichen und setzten mit unwiderstehlichem Schwung dem Feind nach, der nun nicht mehr zum Halten kam, sich nicht neu aufstellte, sondern nur noch floh, floh, floh vor dem tödlichen Zorn der Westgoten. Bald war ein Brückenkopf am feindlichen Ende des Landstegs. Ungehindert passierte das Westgotenheer die Enge, der Brückenkopf wuchs, die Ostgoten wichen und stellten ihre Linien quer zur hunnischen Front erneut auf. Ich selber hatte nicht mit angegriffen, um nicht gegen meine Ostgotenbrüder zu kämpfen.
Grausame Bilder sah ich auf der Landenge. Da zuckten Arme, zuckten Beine in der Luft, während die Rümpfe unsichtbar tief im Schlamm steckten. Da löschten die Verwundeten ihren rasenden Durst aus Blutpfützen, hoffend, es sei ihr eigenes Blut. Ein wunderschöner Schimmel stak mit der Vorderhand unrettbar in einem Loch. Zur Rechten seiner schweißtriefenden Brust wackelte ein Menschenkopf über dem Schlamm, zur Linken die Füße des Mannes, den die Pferdehufe wohl durchstoßen hatten.
Weiter vorn entdeckte ich die Helmkrone König Theoderichs. Mit einer Handvoll Moos säuberte ich den Helm. Ich brachte ihn Prinz Thorismund, der seine Westgoten gerade für den neuen Angriff formierte. Jetzt, mit der Krone seines Vaters in beiden Händen, hielt er kurz inne - und ließ sich vor der westgotischen Front auf den Schild erheben.

Nachdem ich ihm diesen Dienst erwiesen hatte, konnte Thorismund mir schlecht einen Wunsch abschlagen, selbst wenn ich Ostgote war. Wir durften unsere Position im Aufmarsch der Westgoten selber wählen. Und fast hätten wir Attila erwischt! Die Banner verrieten den Hunnenkönig, die arroganten gelben Banner, die ihn umflatterten. Wir hatten die Ostgotenfront durchbrochen und die Hunnen in der Flanke gepackt. Meine
Frankenreiter bahnten unter starken Verlusten den Weg ins hunnische Zentrum. Manche fielen, weil ihre Rosse im Pfeilhagel stürzten. Andere, weil ihr Schild irgendwann so schwer von Hunnenpfeilen war, daß sie ihn fortwarfen und dann leichtes Ziel boten. Sei‘s drum - unsererseits dezimierten wir Attilas Leibwache. Er floh! Der Hunnenkönig floh vor mir! Der Menschenring um ihn wurde mit jedem Syrerpfeil, mit jeder Bleikugel aus einer Balearenschleuder dünner ...

... ein Bleihagel prasselt auf Attila. Er duckt sich. Sein gekrümmter Oberkörper bietet gutes Ziel. Ich lege an, doch plötzlich sticht er seinen Nebenmann vom Pferd und schwingt sich zwischen beide Pferdekörper. Ich sehe nur noch die Beine des Königs. Der vordere, schützende Gaul muß fort! Meine Balearen schleudern einen neuen Hagel, doch das Pferd, das Attila deckt, hält Schritt, obwohl es nun aus mindestens zehn Wunden blutet. Wieder lege ich an, schieße - und mein Pfeil steckt im Pferdehals. Während der Gaul stürzt und liegenbleibt, schwingt Attila, der offenbar rechtzeitig losgelassen hat, sich über die Kruppe des hinteren Pferds und hängt nun erneut in sicherer Deckung. Und immer noch dauert die Jagd. Ich bin jetzt fast gleichauf mit Attila, zu nahe, um den Bogen zu benutzen. Attila wagt sich nicht mehr auf den Pferderücken - zu viele Pfeile zielen auf ihn, zu viele Bleikugeln pendeln in der Lederschlaufe. Für einen Atemzug bin ich gleichauf. Genug, um dem Pferd des Königs den Hals zu schlitzen. Das Tier überschlägt sich aus vollem Galopp. Mein Pferd rast weiter auf die Wagenburg der Hunnen zu. Als ich zurückschaue, umgeben Männer in Wolfspelzen den gestürzten Hunnenkönig - die Kernmannschaften seiner Leibwache.

Natürlich versuchten wir erneut, ihn einzukreisen. Die hunnische Front war fern, die Leibwache nicht mehr zahlreich, und wir glaubten, alle Zeit der Welt sei unser. Dann sah ich, wie der hunnische Kurier von der Gotenflanke bei Attila eintraf. Und heute wissen wir aus Zerkons Bericht, daß Attila dem Tod König Theoderichs besondere Bedeutung beimaß. Seit Aberglaube hatte fest darauf gezählt, Aetius werde fallen. Doch nun meinte das trügerische Orakel offenbar bloß den Westgotenkönig. Attila fühlte sich betrogen. Verstört setzte er sich in die Wagenburg ab und ließ zum allgemeinen Rückzug blasen. Und damit saßen wir nun selber plötzlich in der Falle.
Die Gepiden, dezimiert und erneut gedemütigt, hatten sich längst zwischen die Wagen verkrochen. In guter Ordnung folgten die Ostgoten. Dann brauste, mit beängstigender Wucht, die hunnische Kavallerie über uns hinweg. Ich hatte nicht mehr viele Männer. Einen Bogenschützen. Drei Mann von den Inseln. Fünf fränkische Reiter ohne Pferd. Wir krochen unter einen Haufen toter Franken, die versucht hatten, Attilas Rückweg abzuschneiden. Beschmiert mit der Scheiße und dem Blut unserer Kameraden lagen wir schutzlos auf der Ebene. Die Hunnen jagten über uns hinweg. Die Pferde ihrer unzählbaren Scharen teilten sich an unserem Leichenhaufen. Schon schöpften wir Hoffnung. Doch dann sah ich, daß Attila einen äußeren Verteidigungsring auf dem Schlachtfeld zurückließ. Zwei hunnische Zehntausendschaften patrouillierten knapp eine halbe Meile vor dem Wagenring. Wir steckten zwischen Baum und Borke.

Aus den Reformationes des Zerkon Syenus:

Oh wie mein Pferdeprinz schäumte! Fünf Gäule hatte er zuschanden geritten, der letzte ging vor seinem Zelt in die Knie. Leibwächter schleiften den Kadaver zum Feuer, wo er sich in das Abendmahl des königlichen Haushalts verwandelte. Wie wohl es tat, Attila so zu sehen! So wütend! Bar der Hoffnung! Nicht einmal sein liebster Talisman, das Schwert des Kriegsgottes half ihm jetzt noch. Er jagte den Hofstaat aus dem Zelt, hockte gebeugt auf seinem Thron, das Schwert zwischen die sehnigen Beine geklemmt, und wiegte seinen Oberkörper wie ein träumendes Kind.
Als er mich in den Falten der Zeltbahn bemerkte, dachte ich schon, nun sei es um mich geschehen. Doch Attila, die Bestie, winkte mich nur heran, händigte mir das Schwert des Mars aus und murmelte: „Geh zu den Königen und Häuptlingen. Zeig ihnen das Schwert. Sie sollen meinen Scheiterhaufen errichten aus allen Sätteln, Pferdedecken und Teppichen des Lagers. Gießt Öl darauf! Wenn Aetius morgen siegt, will ich brennen!“
Den Häuptlingen klaffte das Maul vor Staunen, als sie das Schwert in meiner nichtswürdigen Faust sahen. Der Hofnarr mit dem Schwert des Mars - was für ein Sakrileg! Doch immerhin gehorchten sie. Der Scheiterhaufen wuchs und mit ihm die Panik im Lager. Ich zog es vor, lieber nicht zu Attila ins Zelt zu gehen, sondern blieb am Eingang. Bald war der Scheiterhaufen mannshoch. Ein Gepidenhäuptling im langen Mantel rempelte mich an. Seine Hand zeichnete verstohlen den Pfeil in die Luft - und ich erkannte Totila.

Aus den Res gestae contra Attilam:

Zerkon war überglücklich, mich zu sehen. Er freute sich so, daß er vor dem Königszelt kurz die Fassung verlor und mich umarmte. Er hatte in den vergangenen Jahren ganze drei Briefe an mich heraus geschmuggelt. Nur ein Brief von mir hatte den Weg zu ihm gefunden. Als ich vorschlug, gemeinsam ins Königszelt zu Attila vorzudringen, schüttelte er den Kopf.
„Da stehen noch immer vierundzwanzig Wolfsmänner“, flüsterte er. Aber er sagte mir auch, wozu der Scheiterhaufen dienen sollte. „Attila ist verzweifelt jenseits aller Hoffnung“, erklärte Zerkon. „Greift morgen an! Behaltet keine Reserven zurück! Werft alles in diese Schlacht! Nur noch ein bißchen Furcht - und die Bestie flieht ins Feuer.“

Ein reizvoller Gedanke - den Hunnenkönig brennen sehen! Zerkon hatte mir ein Kettenhemd verschafft und ein Langschwert. Darüber trug ich den weiten Gepidenmantel aus Rehfell, der mich schon auf dem Hinweg getarnt hatte. Ich holte meine Männer ab, die außerhalb der Wagenburg in einer Senke hockten. Die Bogenschützen legten an, als sie mich kommen sahen. Dann winkte ich und sie nahmen die Pfeile von der Sehne.
Wenig später hatte, zu unserer grenzenlosen Verblüffung, unser Heermeister Aetius ähnlich viel Glück. Sein Inspektionsritt hatte ihn in dieselbe Klemme geführt wie uns. Er hatte keinen Leibwächter mehr. Nun lag er zwischen Pferdekadavern und rief, als er meine Stimme erkannte. Meinen Namen hatte er sich nicht gemerkt. „Ostgote?“ rief er leise. Das war gefährlich, denn die hunnischen Patrouillen streiften in der Nähe. Andererseits war die Ebene übersät von Verwundeten, die schrien, wimmerten und delirierten. Unzählige Leiber bedeckten die Katalaunischen Felder. Da es nicht geregnet hatte, war es wohl Blut, das die Erde so feucht machte. Schlimm waren die verzweifelten Rufe jener, die nicht sterben konnten und um den erlösenden Schwertstreich bettelten. Nahebei hatten wir etliche getötet, aus Erbarmen, und weil wir fürchteten, ihre Rufe könnten die Hunnen anlocken.
„Kriech her zu uns, Patricius!“ rief ich. Vorsichtig kam er angekrochen. Ich hielt mich nicht lange mit Ehrenbezeugungen auf, sondern platzte mit Zerkons Vorschlag heraus: „Greif morgen wieder an, Patricius - und Attila schafft sich selber aus der Welt.“
„Wen hast du bei dir?“ ächzte er, als er sich in unserer Mulde eingerichtet hatte. „Syrer, Balearen, Franken“, sagte ich.
„Laßt mich mit ihm allein“, befahl er - und sie verkrochen sich hinter dem nächsten Leichenhaufen.
„Attila wird sich entleiben“, bestürmte ich den Feldherrn. „Er hat einen Scheiterhaufen errichtet, ich habe ihn selber gesehen. Greif morgen an - und Attila reitet ins Feuer.“
„Nein“, sagte Aetius.
„Doch“, sagte ich. „Der Hunnenkönig ist der Aberglaube in Person ...“
„Stimmt“, sagte Aetius. „So kenne ich ihn. Und glaube mir - ich kenne ihn besser als du. Er wird noch nützlich sein.“
„Attila ist ein toller Hund, der Feind des Menschengeschlechts“, widersprach ich, „und die Gründer fordern seinen Tod.“
„Hier gebieten aber nicht die Gründer sondern ich“, sprach der Feldherr in einem Ton, der wohl jeden Widerspruch im Keim ersticken sollte. Dennoch antwortete ich:
„Es könnte sich herausstellen, daß deine Einstellung ungesund ist, Feldherr. Die Gründer schätzen keine Unbotmäßigkeit.“
„Drohst du mir?“ fragte er. Ich schwieg. „Ach was, wir dürfen Attila nicht direkt angreifen“, fuhr Aetius nach einer Weile fort. „Nicht jetzt nach dieser Serie von Niederlagen. Attila ist jetzt doppelt gefährlich - wie eine verletzte Raubkatze. Wer garantiert dir, daß er auf den Scheiterhaufen klettert? Woher weißt du, ob der Scheiterhaufen nicht nur Leichtgläubige wie dich in die Irre führen soll?“
„Sobald Attila stirbt“, warb ich, „zerstreuen sich die Hunnen in alle Winde. Ohne den König sind sie führerlos.“
„Ja, eben!“ sagte Aetius. „Der Feind zerstreut sich. Und was geschieht? Ich will es dir sagen - sofort verlieren meine germanischen Hilfstruppen die Furcht, die sie jetzt noch an meine Seite zwingt. Ich müßte wahrscheinlich mit meinen wenigen Römern einen Germanenaufstand in Gallien ersticken. Schau Freund - du bist Ostgote. Vielleicht schätzt du das Reich der Westgoten von Toulouse ja insgeheim genau so wenig wie ich ... ihr neuer König Thorismund hält nicht viel davon, morgen wieder in die Schlacht zu ziehen. Er muß heim. Nach dem rechten sehen. Da wartet ein ganzer Stall von Thronanwärtern, die allesamt scharf sind auf Theoderichs Krone.“ Mir fiel ein, wie sich Thorismund, mitten im Schlachtgetümmel, Zeit genommen hatte für die Schilderhebung. „Nimm's nicht persönlich, aber Germanen sind unzuverlässig." Aetius machte eine Pause. Dann flüsterte er: „Heh, Gote, was ist los?“
Gebannt starrte ich auf die hunnische Patrouille, die geradewegs auf uns zutrabte. Mindestens dreißig Mann. Unsere Leute krochen um den Leichenhaufen herum, um nicht ins Blickfeld der Hunnen zu geraten. Endlich waren die vorbei und wir sahen sie gegen das Mondlicht in einem Erlenwäldchen verschwinden.
„Du begreifst immer noch nicht“, flüsterte Aetius. „Sobald die hunnische Bedrohung schwindet - was, glaubst du, tun die Westgoten? Und gleich darauf die Franken? Von den Alanen zu schweigen? Glaubst du, sie gehorchen weiter dem Befehl des verhaßten Römers? Du bist ein Kind, Ostgote, wenn du das glaubst!“ Meine Leute waren mittlerweile einmal ganz um den schützenden Leichenhaufen herum gekrochen und winkten uns zu. „Ich verspreche dir was“, meinte Aetius. „Glaube nicht, ich wollte Attila billig davonkommen lassen! Aber genausowenig greife ich frontal sein Lager an und vernichte ihn! Doch falls die Westgoten morgen bei meinem Heer bleiben - was ich für ziemlich unwahrscheinlich halte - dann, so verspreche ich, belagern wir Attilas Wagenburg. Warten, bis ihm das Futter für die Tiere ausgeht. Wir schicken ihm westgotische und fränkische Stoßtrupps mit Brandpfeilen auf den Hals. Immer und immer wieder. Das wird unsere geschätzten Verbündeten ermüden. Und wenn die Hunnen dann fliehen, dann sind meine germanischen Hilfstruppen ausgeblutet, geschwächt und können nicht mehr gegen Rom aufstehen.“
Was die Aufmerksamkeit der Hunnen schließlich doch auf uns lenkte - ich weiß es nicht. Jedenfalls hatten sie nur verschnauft im Erlenwäldchen. Nun trabten sie wieder. Aetius riß mich auf die Füße. Zuerst begriff ich gar nicht, was er wollte, wehrte mich. Er schlug mir ins Gesicht und zischte:
„Laß mich reden, Ostgote! Kapuze über'n Kopf, damit sie dein Haar nicht sehen - sie würden den Zopf vermissen. Machs wie ich! Nimm Erde - schräge Streifen auf die Wangen! Und bück dich jetzt gefälligst, fleddere Leichen!“
Gesagt, getan. Unsere Kameraden kämpften so tapfer wie hoffnungslos, während ein paar Hunnen Aetius und mich umzingelten. Ich hatte nicht geahnt, daß - und wie gut - Aetius Hunnisch sprach. Er brüllte den Patrouillenführer nieder. Der schrie zurück. Aetius zog einen Ring von seinem Finger und warf ihn dem Hunnenoffizier zu. Damit gingen wir als Plünderer durch und wurden nicht weiter behelligt.
Unsere Männer waren alle tot, bis auf einen Franken, dem ich half, zu sterben. Danach näherten wir uns vorsichtig, in wechselnden Rollen, mal am Boden kriechend, mal als Plünderer, den äußeren Wachen. Hin und wieder fuhr ein Pfeil neben uns in die Erde oder in einen Leichnam. Aber Aetius‘ hunnische Schimpftiraden waren großartig und rissen uns jedesmal raus. Nur einmal mußte er mit einem weiteren Smaragd von seiner Hand nachhelfen. Bevor wir ins Westgotenlager kamen, riet er mir, den Gepidenmantel auszuziehen.

Aus den Reformationes des Zerkon Syenus:

Die Dummköpfe griffen nicht an! Ich hatte auf Totilas Überzeugungskraft vertraut - doch am Ende überwog die Macht des dummen Feldherrn, der mich einst als Sklaven an Attila verschenkt hatte.
Sie griffen nicht an. Sie zogen ab. Sie waren fort, als Attila am nächsten Morgen den riesigen Scheiterhaufen bestieg, von dem aus er die Ebene überblickte.
„Holt Eure Sättel", rief er, "und die Teppiche, das Öl! Wer diesen Scheiterhaufen hier befohlen hat, der wird geköpft.“
Geköpft wurde ich nicht. Aber sie griffen auch nicht an. Fort waren sie. Attila mochte zuerst nicht glauben, wie billig er davonkam. Der Hunnenkönig argwöhnte eine Falle der Verbündeten. Vier Tage blieb er in der Wagenburg verschanzt, bis nirgends mehr ein Halm Futter wuchs. Dann brach er aus und floh in seine Weidegründe.
Im Jahr darauf drang er tief nach Italien ein. Es sollte noch ein weiteres Jahr vergehen, bis Totila und ich den Hunnenkönig Attila im eigenen Blut erstickten.